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FRAGEN/011: Wirtschaftsethiker Johannes Wallacher - "Wir leben auf Pump" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 12/2011

"Wir leben auf Pump"
Ein Gespräch mit dem Wirtschaftsethiker Johannes Wallacher

Die Fragen stellte Alexander Foitzik


Die Klima-, Finanz- und Verschuldungskrisen in europäischen Ländern und den USA zeigen: Der Blick auf den Zweck unseres Wirtschaftens ist zu eindimensional. Es braucht eine möglichst breite Auseinandersetzung darüber, was eigentlich gesellschaftlichen Fortschritt ausmacht. Darüber sprachen wir mit dem Münchner Wirtschaftsethiker Johannes Wallacher.


HK: Herr Professor Wallacher, vor zwei Jahren galt es eine globale Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen, jetzt die europäische Verschuldungs- und Bankenkrise. Dazu kommen die globale Klimakrise und eine latente Hungerkrise, von denen hierzulande derzeit nicht mehr viel die Rede ist, die aber gerade im Südteil der Erde schlimme Folgen zeitigen. Lassen sich Verbindungen zwischen diesen Krisen herstellen, gemeinsame Ursachen ausmachen?

WALLACHER: Es gibt ganz starke wechselseitige Verbindungen zwischen diesen Krisen. Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und Klimakrise ist dabei ganz offensichtlich. Wir wirtschaften so, dass wir die negativen Effekte unserer Wirtschaftsweise externalisieren, anderen auflasten und notwendiges Gegensteuern in die Zukunft verschieben. In Bezug auf die Finanzkrise heißt das, Risikobereitschaft wird nicht mehr durch ausreichende Haftungsregeln begrenzt. Gegenüber dem globalen Klima und seinen dramatischen Veränderungen können wir uns nur so verhalten, weil wir wissen, dass primär Menschen in anderen Erdteilen und vor allem die zukünftigen Generationen die Folgen zu tragen, die Zeche zu zahlen haben. Wir leben auf Pump - das ist das, was die Klima-, Finanz- und Verschuldungskrise in europäischen Ländern und den USA verbindet. Wir verschieben die Lasten in die Zukunft, sind nicht bereit die Konsequenzen unseres Handelns zu tragen.

HK: Und die so genannte "stille" Krise, die Hunger- oder Welternährungskrise?

WALLACHER: Auch hier gibt es enge Verbindungen zur Finanzkrise. Es geht um bestimmte Formen von Finanzmarkt-Spekulationen mit Nahrungsmitteln und den Wettlauf internationaler Investoren um Land. Angesichts einer weltweit steigenden Nachfrage nach Nahrungsmitteln werden Nahrung und Land zu einem knappen Gut und eben damit auch zu einem Spekulationsobjekt. So verstärkt sich die Hungerkrise. Aber ebenso evident ist der Zusammenhang zwischen Klimakrise und Hungerkrise. Die Landwirtschaft befördert etwa durch Abholzung und den Anbau von Monokulturen den Klimawandel, umgekehrt verschlechtert dieser die Anbaubedingungen in vielen Regionen. So zeichnet sich bereits jetzt ab, dass Extremwetterlagen zunehmen - nehmen Sie nur die aktuelle Dürre in Somalia als Beispiel. Natürlich steigt mit diesen Extremwetterlagen die Verwundbarkeit der Menschen.

HK: Gibt es damit auch so etwas wie eine gemeinsame Botschaft der verschiedenen Krisen? Muss man angesichts dieses Befundes letztlich nicht doch fragen, ob sich das kapitalistische Wirtschaftssystem insgesamt überholt hat?

WALLACHER: Eine bestimmte Form des Kapitalismus hat sich in jedem Fall überholt: der rein Finanzmarkt-dominierte Kapitalismus, der auf möglichst schnelle, kurzfristige Gewinne zielt, ohne deren weitere Konsequenzen zu beachten. Dies lässt sich sicher aus allen drei Krisen lernen. Das heißt jedoch keineswegs, dass die Marktwirtschaft per se delegitimiert ist, denn in allen Fällen gibt es auch vielfältiges Staatsversagen. All diese Krisen verweisen auf erhebliche Ordnungsdefizite. So gilt es etwa auf den Finanzmärkten konkret die Risikobereitschaft einzugrenzen durch eine entsprechende Haftungsregelung. Insgesamt gilt es Ordnungsstrukturen und wirtschaftlichen Anreize so zu gestalten, dass es sich lohnt, zukunftsorientiert zu agieren.

HK: Wird denn aktuell, in der europäischen Verschuldungs- und Bankenkrise, erkennbar, dass bei den diskutierten Auswegen und Lösungen der weitere Zusammenhang der verschiedenen Krisen im Blick ist?

WALLACHER: Ein erstes wichtiges Signal ist, dass man jetzt auch die privaten Gläubiger in die Pflicht nimmt und damit einen falschen Anreiz korrigiert. Diese können nicht mehr länger damit rechnen, dass man sie bei künftigen Krisen um jeden Preis und ohne jede Eigenbeteiligung freikauft - eine Form also der politischen Mithaftung. Es steht zu hoffen, dass sich diese Botschaft im Bewusstsein der Finanzmarkt-Akteure festsetzt. So wichtig allerdings dieser erste Schritt ist - bezüglich der strukturellen Prävention von Finanzkrisen sind wir bisher nicht sehr viel weiter gekommen. Noch immer widmen wir uns fast ausschließlich dem Krisenmanagement. Bei der notwendigen strukturellen Neuordnung der Finanzmärkte gibt es nach wie vor kaum Fortschritte. Und Klima- und Hungerkrise sind fast vollständig von der politischen Agenda verschwunden.

HK: In der Finanz- und Wirtschaftskrise vor zwei Jahren stellten Politiker, Wissenschaftler, aber etwa auch die Kirchen sehr grundsätzliche Fragen an unsere Art und Weise zu wirtschaften, an unser Verständnis von Wohlstand und gesellschaftlichem Fortschritt, an die Wertmaßstäbe in unserem Leben. Symptomatisch für diese sehr grundsätzliche Diskussion setzte der Bundestag eine Enquete-Kommission ein mit dem etwas sperrigen, aber sehr programmatisch klingenden Titel "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft". Wie lässt sich das breite Unbehagen hinter dieser Grundsatzdebatte beschreiben?

WALLACHER: Der Blick auf den Zweck unseres Wirtschaftens ist zu eindimensional und nur ein ganz bestimmter Ausschnitt dieses Wirtschaftens findet Wertschätzung, nämlich die mit Geld bewertete Produktion von Waren und Dienstleistungen. Zweifelsohne ist dies ein entscheidender Aspekt, aber jenseits eines bestimmten, in Deutschland längst erreichten Wohlstandsniveaus sind eben auch noch ganz andere Faktoren wichtig für das, was wir als Wohlstand, als gesellschaftlichen und sozialen Fortschritt begreifen. Diese Faktoren bleiben in der eindimensionalen Betrachtungsweise unseres Wirtschaftens außen vor. So werden beispielsweise, wo man sich nur einseitig auf das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts fixiert, negative Folgen nicht gesehen, etwa die unvermindert steigenden Treibhausgas-Emissionen, eine immer höhere Arbeitsbelastung oder umgekehrt der zunehmende Ausfall von Arbeitskraft wegen der steigenden psychischen Belastung an vielen Arbeitsplätzen. Von daher ist eine möglichst breite Auseinandersetzung darüber nötig, was eigentlich gesellschaftlichen Fortschritt ausmacht.

HK: In welchem Verhältnis sollten künftig Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität stehen? Es gibt ja durchaus auch Ökonomen, die den reichen Industrienationen vor allem mit Blick auf deren Ressourcenverbrauch ein wirtschaftliches Nullwachstum verordnen wollen.

WALLACHER: Wachstum ist niemals Selbstzweck und hinreichende Voraussetzung für mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität. Es kann durchaus ein wichtiges Mittel dafür sein, allerdings braucht es dafür ethische Leitplanken in zwei Richtungen. So muss Wachstum erstens breitenwirksam sein, das heißt in der Breite der Gesellschaft ankommen und es darf nicht die Ungleichheit immer weiter vergrößern; möglichst alle sollen vom Wachstum profitieren. Zweitens muss Wachstum umweltverträglich, ressourcenschonend beziehungsweise ressourceneffizient und klimaverträglich sein, um die Wohlstandschancen zukünftiger Generationen nicht zu mindern. Ein durch diese beiden Leitplanken qualifiziertes Wachstum ist durchaus realistisch, allerdings müssen wir dafür endlich politisch die richtige Zuordnung von notwendigen Ordnungsmaßnahmen - beispielsweise Begrenzung der weltweiten Treibhausgas-Emissionen - und ökonomischen Anreizen, etwa der Emissionshandel, durchsetzen.

HK: Was stimmt an der Gleichung "Wohlstandswachstum = Zunahme an Lebensqualität" nicht beziehungsweise nicht mehr?

WALLACHER: Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, konkret der so genannten "Glücks-Forschung". Ab einem bestimmten Einkommensniveau sind ganze andere Faktoren für die Lebenszufriedenheit von Menschen entscheidend. Die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes ist da ein wichtiger Aspekt oder die Frage, wie zufrieden Menschen mit ihrer Arbeit sind, wie sehr sie sich mit ihrem Unternehmen und dessen Zielen identifizieren. Interessanterweise sind auch die verschiedenen Beteiligungsmöglichkeiten wichtig für die Lebenszufriedenheit - die Möglichkeit zur Mitgestaltung des Arbeitsplatzes, aber auch die Beteiligung am Prozess der politischen Willensbildung. Zunehmend wichtig ist für viele auch die Frage, welche Auswirkungen die Erwerbsarbeit auf ihre sozialen Beziehungen hat, ob sie diese ermöglicht, befördert oder eben erschwert. Stabile, tiefer reichende soziale Beziehungen sind ein ganz wichtiger Faktor für die Lebensqualität. All diese Faktoren müssen damit stärker in unser Wohlstandskonzept eingebunden werden. Oder umgekehrt, wo diese einbezogen werden, lässt sich dann wirklich von gesellschaftlichem Fortschritt sprechen.

HK: Wenn man die gegenwärtige Diskussion in der Politik, aber beispielsweise auch in der Wissenschaft vergleicht mit der vor zwei Jahren - lässt sich ein gewisses Umdenken in der Bewertung von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität feststellen? Oder ist man rasch in "Business as usual" zurückgefallen, nachdem gerade Deutschland einigermaßen glimpflich aus der Krise gekommen ist?

WALLACHER: Partiell lässt sich ein gewisses Umdenken schon erkennen. In der wissenschaftlichen Debatte beispielsweise zeigt sich durchaus die Bereitschaft der Ökonomen, etwa das eigene Instrumentarium zur Wohlstandsmessung und grundsätzlicher noch die eigenen Normsetzungen und Überzeugungen zu überdenken. Auch die Bedeutung ethischer Fragestellungen wird zunehmend in den Blick genommen. Ebenso öffnet man sich gegenüber der empirischen Sozialforschung zu den genannten Fragen nach den wirklichen Bedürfnissen und Wünschen der Menschen. Gerade Letzteres hat in der Ökonomie und den Theorien zum "Homo oeconomicus" lange Zeit gar keine Rolle gespielt.

HK: Und wie steht es um die Stimmung in der breiten Öffentlichkeit, die Diskussion beispielsweise in den Medien?

WALLACHER: Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland insgesamt vergleichsweise positiv ist, regt sich nachvollziehbar ein großes Unbehagen an der wachsenden sozialen Ungleichheit. Außerdem herrscht nach wie vor eine gewisse Verunsicherung: Ist die positive wirtschaftliche Entwicklung verlässlich, geraten wir nicht doch sehr schnell wieder in einen Krisensog? Diesbezüglich macht man sich offensichtlich Sorgen - und dies nicht zu unrecht. Denn die aktuelle Verschuldungskrise drängt alle anderen Probleme in den Hintergrund und erschwert den notwendigen Strukturwandel. Die Banken gewähren nur zögerlich Kredite für unternehmerische Innovationen, die für mehr Ressourceneffizienz und Klimaschutz dringend notwendig sind. Und die öffentlichen Haushalte haben wegen des Konsolidierungszwangs kaum Spielraum für Investitionen in Bildung und Forschung, ohne die unsere Zukunftsfähigkeit aufs Spiel gesetzt wird. Für unser Bildungs- und Ausbildungssystem stellt es eine enorme Herausforderung dar, die Reflexionsfähigkeit des Einzelnen an eine immer höhere Komplexität der Welt anzupassen, ihn und sie zu befähigen, das eigene Handeln auch in sehr komplexen Strukturen zu verstehen und sich zu orientieren. Die Medien stehen vor der Herausforderung, der Versuchung zur Oberflächlichkeit und unzulässigen Vereinfachung zu widerstehen.

HK: Wenn es darum geht, warum Deutschland vergleichsweise gut und rasch aus der Finanz- und Wirtschaftskrise herausgekommen ist, heißt die Antwort meistens, weil das Wirtschaftswachstum wieder so schnell gestiegen ist...

WALLACHER: Das ist sicher ein wichtiger Punkt, aber es sind eben verschiedene Aspekte ausschlaggebend. Im Vergleich mit Großbritannien etwa ist die deutsche Wirtschaft viel breiter aufgestellt und nicht so abhängig von einzelnen Finanzzentren. Geholfen hat sicher auch die an sich ja durchaus ambivalente Exportstärke der Deutschen. Und nicht zu vergessen ist der Beitrag, den die Unternehmen in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und der Politik - Stichwort: Verlängerung des Kurzarbeiter-Geldes - zur Bewältigung der Krise geleistet haben. Das war eine starke gesellschaftliche Leistung, die nicht hoch genug zu schätzen ist. Der gute alte Korporatismus, der ja in Deutschland seine kulturellen Wurzeln hat, in der jüngeren Vergangenheit oft genug kritisiert und belächelt wurde, war ein ganz entscheidender Faktor, weil es so gelang, gegenseitig Vertrauen aufzubauen.

HK: Gibt es so etwas wie systemische Widerstände, die dem nötigen Umdenken oder Umlenken hin zu einem "grüneren" Wachstum entgegenstehen, eine prinzipielle Zukunftsblindheit des Marktes etwa oder das kurzfristige Denken in der Politik? Sind wir Konsumenten zu bequem oder überfordert?

WALLACHER: Eine sozial ausgewogene und umweltverträgliche Entwicklung wird auf Dauer ohne tief greifende strukturelle Reformen nicht zu erreichen sein. Solche Reformen fallen jedoch nicht vom Himmel, sondern sind auf die Unterstützung breiter Bevölkerungsgruppen angewiesen. Deshalb müssen wir alle der Versuchung widerstehen, allein das Kurzfrist-Denken der Politik oder die Gier der Banker zu beklagen. Dass die Krisen auch mit dem eigenen Leben zu tun haben, mit gesellschaftlichen Leitbildern wie einer weitverbreiteten Diskounter- oder Schnäppchen-Mentalität, die wohl den meisten von uns nicht ganz fremd ist, wird oft vernachlässigt. Der Tatsache, dass wir solchen Trends beispielsweise als Konsumenten gerne folgen, sollten wir uns öfter bewusst machen. Einzelentscheidungen haben zwar immer nur einen begrenzten Einfluss. Und sicherlich kommt dazu auch ein Ohnmachtsgefühl, angesichts der komplexen Zusammenhänge und der mächtigen Interessen- und Lobbygruppen, die Druck auf die Politik ausüben, selbst doch gar keinen nennenswerten Beitrag leisten können. Gleichwohl können persönliche Veränderungen des Verhaltens und Lebensstils wichtige Vorbild- und Vorreiterfunktion haben. Wenn sich eine kritische Masse dem anschließt, würde dies die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten stärken, was die Position nachhaltig wirtschaftender Unternehmen verbessern würde. Für die Politik wären solche "Akteure des Wandels" ein wichtiges Signal, dass die notwendigen Reformen auch Unterstützung finden und durchsetzbar sind.

HK: Wie aber lässt sich denn positiv für ein mehrdimensionales Verständnis von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität werben? Wer allzu offensiv beispielsweise vom so genannten grünen Wachstum spricht, steht rasch unter dem Verdacht, spröden Verzicht zu predigen, einer Steinzeitökonomie oder Ökodiktatur die Sache zu reden.

WALLACHER: Da gibt uns gerade die empirische Glücksforschung unglaublich gute Argumente zur Hand, wenn eben die Lebenszufriedenheit jenseits eines bestimmten materiellen Wohlstandsniveaus nicht mehr allein vom Einkommenszuwachs abhängt, sondern ganz andere Faktoren eine Rolle spielen. Man muss diese Debatte keineswegs mit der Verzichts-Keule führen, wenn sich zeigen lässt, dass die Lebensqualität auch zunimmt, ohne dass ich jeden neuen Trend im Bereich Konsum oder auch Tourismus mitmache. Es ist durchaus gut belegt, dass der Einzelne einen Mehrwert daraus gewinnen kann, indem er sich vielleicht auch einmal gegen solche Trends stellt, dass man einen Mehrwert auch aus der politischen Beteiligung oder aus einem ehrenamtlichen Engagement erzielen kann. Das heißt, in moralischen Kategorien gesprochen, die Debatte um das notwendige Umdenken muss sich nicht allein auf die Frage der Pflicht beschränken. All diese ethischen Fragen lassen sich auch mit Blick auf ein positives Leitbild beantworten, nämlich unter der Perspektive, ein gelingendes, gutes Leben zu führen - ganz im Sinn der aristotelischen Ethiktradition.

HK: Wie kann aus der individuellen Frage nach einem guten und gelungenen Leben, der Suche des Einzelnen nach Lebenszufriedenheit auch ein gesellschaftliches Leitbild werden?

WALLACHER: Wenn es ethisch geboten ist zu fragen, welchen Sinn wir über einen reinen Einkommenszuwachs hinaus in unserem Wirtschaften und Arbeiten sehen, lassen sich nach dem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit - und das wäre der entscheidende Beitrag einer kantisch geprägten Ethik - gleichermaßen auch gute Argumente dafür finden, Gesellschaft und Wirtschaft durch geeignete Rahmenbedingungen so zu ordnen, dass alle Menschen mindestens grundlegende Chancen haben, ein gelingendes Leben führen zu können. Dafür braucht es nicht unbedingt einen Konsens, was für jeden Einzelnen ein gutes, gelingendes Leben ausmacht.

HK: Und wie sieht es mit unserer Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen aus oder der Verantwortung für eine menschengerechte Entwicklung in den armen und ärmsten Ländern dieser Erde? Ist hier zu einem Umdenken zu motivieren nicht ungleich schwieriger?

WALLACHER: Wenn ich wirklich darüber reflektiere, was mein Leben zu einem gelingenden macht, muss ich anerkennen, dass dies nicht nur der materielle Konsum ist. Wenn ich eine hohe Zufriedenheit erfahre, indem ich beispielsweise tief gehende Sozialbeziehungen lebe, muss ich mich doch geradezu fragen, ob ich diese Erfahrungen nicht auch anderen zugestehen will. Das ist eine moralische Frage, sicher! Aber ich muss nicht selbst auf etwas verzichten, damit andere auch eine Chance haben. Ich verzichte auf manches, weil es mir gut geht. Und dadurch ermögliche ich anderen, ein gutes Leben zu führen. Wir Menschen sind immer relative Wesen, wir vergleichen uns. Gegenwärtig herrschen bei uns Leitbilder, die sehr stark von materiellem Konsum geprägt sind und entsprechend sind eben auch unsere Vergleichskategorien bestimmt. Wenn jedoch eine kritische Masse von Menschen wirklich reflektiert, dass es für ein gelingendes Leben nicht essenziell ist, permanent die jüngste Generation von Navigationsgeräten sofort besitzen zu müssen, dann können diese Menschen zu Vorreitern eines Wandels werden, hin zu einem Leitbild: gut leben, statt viel haben.

HK: Wer sollte diesen Wandlungsprozess initiieren oder tragen - auch gegen massive Widerstände? Welche Rolle spielen hier zivilgesellschaftliche Kräfte wie die Kirchen?

WALLACHER: Solche Prozesse laufen immer über soziale Gemeinschaften, deshalb ist es wichtig, dass in solchen sozialen Gemeinschaften Leitbilder positiv besetzt sind. Das können Kirchengemeinden sein oder andere zivilgesellschaftliche Gruppen. Der Vorteil oder das große Potenzial der Kirchen liegt hierbei darin, dass sie nicht nur lokal oder national organisiert sind und so immer schon, über den Kontakt mit den Kirchen in anderen Weltreligionen, den globalen Horizont einbringen können. Das gleiche kann auch in anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen stattfinden, die sich gegenseitig befruchten. Ein gesellschaftlicher Wandlungsprozess kommt in jedem Fall nur dann zustande, wenn wiederum eine kritische Masse solcher sozialer Gruppen entsteht. Dabei sehe ich eine große Chance darin, dass diese Gruppen heute lange nicht mehr so geschlossen sind wie früher. So beobachten wir heute doch sehr interessante Verbindungen beispielsweise zwischen aufgeschlossenen Kirchengruppen, Umweltschutzgruppen, Gewerkschaftern sowie innovativen Unternehmen und Unternehmern.

HK: Wäre hierzulande ein entschiedeneres Engagement gerade der katholischen Kirche wünschenswert?

WALLACHER: Sich mit innerkirchlichen Fragen auseinanderzusetzen ist wichtig, aber das darf nicht die ganze Energie absorbieren. So muss sich die Kirche immer wieder vergegenwärtigen, wie wichtig auch Kontakte zur Wissenschaft, zu den Unternehmen, zu Gewerkschaften, politischen Parteien sind, um diesen gesellschaftlichen Wandlungsprozess noch stärker mit voranzutreiben. Es gilt, noch viel mehr diese Allianzen der Solidarität auch jenseits der klassischen kirchlichen Gruppen zu suchen und zu finden. Die Kirche sollte da weniger Berührungsängste zeigen.

HK: Stoßen die Kirchen aber auch auf offene Ohren, wenn sie in diesen Fragen mitreden wollen?

WALLACHER: Nach wie vor stellen die Kirchen eine wichtige gesellschaftliche Kraft dar. Zwei Aspekte für dieses Engagement sind jedoch zentral: Die Kirchen müssen sich mit guten Argumenten zu Wort melden, nicht einfach nur mit moralischen Appellen. Und diese guten Argumente müssen tiefer reichen als der oft an der Oberfläche bleibende öffentliche Diskurs. Die Kirchen, Theologie und vor allem die Philosophie können diesen Beitrag durchaus leisten. Der zweite Aspekt betrifft die Glaubwürdigkeit der Kirchen. Wenn beide Aspekte zusammenkommen, sind die Kirchen sehr gefragte Gesprächspartner, weil es von Seiten der Gesellschaft eine ganz große Nachfrage nach Sinnorientierung, eine große Sehnsucht nach authentischen und gelingenden Formen von gutem Leben gibt.

HK: Mitte der neunziger Jahre veröffentlichten die beiden großen Kirchen in Deutschland ein "Gemeinsames Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland". Damit wollten sie eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Wertefundament der Sozialen Marktwirtschaft anregen. Bedarf es mit Blick auf die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Klima- und die Hungerkrise nicht dringend einer Fortschreibung? Jede für sich haben die Kirchen sich ja ausführlich zu Wort gemeldet ...

WALLACHER: Es war das große Verdienst dieses Wortes, dass die Kirchen gemeinsam Stellung bezogen haben. Das war ebenso wichtig für die Ökumene wie für das Bild der Kirchen in der Gesellschaft. Viele Argumente sprechen dafür, bei der angesichts neuer Herausforderungen nötigen Fortschreibung dieses Wirtschafts- und Sozialwortes wieder ökumenisch vorzugehen, zumal ja in diesen Fragen unter den Kirchen eine große Einigkeit herrscht.


Der in Philosophie und Wirtschaftswissenschaften promovierte Johannes Wallacher (geb. 1966) ist seit September dieses Jahres Präsident der Jesuiten-Hochschule für Philosophie in München. Seit 2006 war er dort Professor für Sozialwissenschaften und Wirtschaftsethik. Seit 2008 Vorsitzender der Sachverständigengruppe "Weltwirtschaft und Sozialethik" der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz; seit 2004 Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Jüngst veröffentlicht: Mehrwert Glück. Plädoyer für menschengerechtes Wirtschaften, München 2011; zusammen mit Matthias Rugel (Hg.): Die globale Finanzkrise als ethische Herausforderung, Stuttgart 2011.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2011, S. 609-613
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2012