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GEWERKSCHAFT/193: "Der Finanzmarktkapitalismus ist stabiler, als wir dachten" (Sozialismus)


Sozialismus Heft 9/2009

Deflationsrisiko - national und global

Von Karl Georg Zinn


Die japanische Wirtschaftskrise der 1990er Jahre diente bereits mehrmals als Menetekel. So kamen nach dem Platzen der New-Economy-Blase in den USA und in der Europäischen Union Befürchtungen auf, die Rezession könne zu einer Deflation führen. So auch wieder jetzt. Deflation meint ein tendenzielles Absinken des Preisniveaus (u.a. gemessen mit dem Index der Lebenshaltungskosten). Eine Deflation gilt als nur schwer überwindbar, weil die Nachfrage auf das herkömmliche Instrumentarium der Prozesspolitik kaum reagiert. Die Geldpolitik versucht vergeblich, der für die Deflation typischen Liquiditätshaltung bzw. Liquiditätsfalle zu entgehen, und eine Steigerung der Staatsausgaben steht vor dem Problem, dass sie nur auf relativ wenige Branchen gerichtet ist und deshalb eine (rasche) Ausbreitung der Expansionsimpulse auf die gesamte Binnenwirtschaft an strukturellen Barrieren (etwa bei hoher Exportorientierung der Industrie) scheitert. Zudem stehen hohe Überkapazitäten der privaten Investitionszunahme im Weg.

Auch der Versuch, durch direkte Kaufkrafterhöhung der privaten Haushalte (Konsumgutscheine, Subventionierung von Konsumgüterkäufen, Verbrauchssteuersenkung) die Nachfrage zu beleben, birgt in einer hartnäckigen Deflation das Risiko, dass nur die Sparquote steigt oder allenfalls Mitnahme- und Vorzieheffekte bewirkt werden, wie dies jüngst für die deutsche Abwrack-bzw. Umweltprämie festgestellt wurde.(1)


Komponenten einer Deflationsspirale

Der Widerstand einer Deflation gegen wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen erklärt sich aus verschiedenen Selbstverstärkungsmechanismen im Deflationsprozess. Vor allem handelt es sich um folgende (positive) Rückkopplungen, die als Teufelskreis wirken:

 • abwartende Haltung der Konsumenten, die weitere Preisniveausenkungen erwarten, also hoffen, demnächst noch günstiger kaufen zu können.

 • Sinkende Preise schmälern die Unternehmenserträge und erhöhen den Absatzpessimismus, was sowohl den Druck auf die Löhne erhöht, d.h. dem Ruf nach Entlastung bei den Arbeitskosten Legitimation verleiht, als auch die Investitionsneigung deprimiert.

 • Wenn es in der Deflation zu sinkenden Löhnen kommt, so verstärkt sich selbstverständlich der Deflationsprozess im Sinn einer abwärts drehenden Preis-Lohn-Nachfrage-Preis-Spirale.

 • Wenn den deflationsbedingten Einnahmeausfällen mit Kosten- bzw. Einkommenssenkungen zu begegnen versucht wird, so liegt ein typischer mikroökonomischer Fehlschluss vor, also ein Widerspruch zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlicher Rationalität. Absenkung der Löhne bzw. eine generelle Senkung der Masseneinkommen in der Krise entspricht der "Brüningschen Politik", wie sie gegenwärtig u.a. in Irland praktiziert wird; Irland erlebt momentan den stärksten Wachstumseinbruch aller Industrieländer.(2) Die Gefahr, dass die Wirtschaftspolitik das große Übel mit einem noch größeren zu bekämpfen versucht, ist also trotz (vermeintlicher) Rückkehr des Keynesianismus nicht auszuschließen.

 • Auch ohne Ingangsetzen der Preis-Lohn-Nachfrage-Spirale kann es bereits in Erwartung sinkender Arbeitseinkommen (Lohnsenkung, Entlassung) zu Konsumeinschränkungen kommen, und diese psychologische Ursache der Konsumzurückhaltung dürfte in der Regel weit einflussreicher sein als das "Spekulieren" auf weitere Preissenkungen.

 • Die Bereitschaft, Kredite aufzunehmen sinkt - sowohl bei Konsumenten als auch bei Investoren - wegen der Umverteilungswirkung der Deflation; die Schuldner müssen real mehr für Zins und Tilgung aufwenden, wenn das Preisniveau sinkt, und die Gläubiger gewinnen real. Es besteht also die zur inflationsbedingten Umverteilung von den Gläubigern zu den Schuldnern konträre Situation.

 • Die in der Krise hohe Liquiditätspräferenz sowie das krisenbedingt steigende Kreditausfallrisiko minderten die Bereitschaft der Banken zur Kreditvergabe.

 • Doch selbst wenn von der binnenwirtschaftlichen Situation eines Landes keine deflatorischen Einflüsse ausgehen, wird es bei einer deflatorischen Entwicklung im Ausland bzw. in globaler Dimension der Deflation nicht entgehen. Denn es kommt zur "importieren Deflation" - analog zur importieren Inflation bei einem Anstieg des internationalen Preisniveaus. Nach bisheriger Erfahrung schützen vor solchen "Importen" auch flexible Wechselkurse nicht; allenfalls wird die Übertragung des internationalen Preisniveaus auf das Inland durch Wechselkursbewegungen leicht gedämpft.

Schematisch lässt sich der Zusammenhang zwischen Preisniveauentwicklung und Beschäftigung mit der ("kurzfristigen") Phillipskurve verdeutlichen, wobei die Kurve nicht bei einer "Null-Inflation" endet, sondern in den negativen Bereich unterhalb der x-Achse, wo das Preisniveau sinkt, extrapoliert werden muss: Je weiter das Preisniveau fällt, desto höher steigt die Arbeitslosenquote. Empirische Untersuchungen hierzu konnten selbstverständlich (noch) nicht vorgenommen werden, da wir bisher, d.h. seit dem Zweiten Weltkrieg, nur eine mehr oder weniger starke globale und säkulare Inflation erlebt haben. Die (positive) Korrelation von steigender Arbeitslosenquote und Deflation nach Beginn der Depression 1929 entspricht jedoch der theoretisch begründbaren Vermutung, dass mit sinkendem Preisniveau ein Anstieg Arbeitslosigkeit verbunden ist.


Arbeitslosenquote und Veränderung des Preisindex der 
 Lebenshaltungskosten (Deflationsrate) der USA 1927-1934
Jahr
Arbeitslosenquote
Deflationsrate
1927
1928
1029
1930
1931
1932
1933
1934
4.1
4.4
3.2
8.7
15.9
23.6
24.9
21.9
-1.85
-1.21
0
-2.59
-8.96
-10.15
-5.30
+3.43

Quelle: Karl Georg Zinn, Preissystem und Staatsinterventionismus, Köln 1978, S. 191.


Unterschiedliche Preisreaktionen verschiedener Branchen

Die Entwicklung des Preisniveaus setzt sich aus sehr unterschiedlichen Preisbewegungen einzelner Warengruppen zusammen. Es gibt Güter, die extreme Preisschwankungen aufweisen und andere mit relativ geringen Preisänderungen. Deflation und Inflation werden also in ganz unterschiedlichem Ausmaß von einzelnen Gütergruppen bestimmt. Für die Preisverläufe in den USA während der Großen Depression hat Gardiner C. Means sehr umfangreiche Untersuchungen vorgelegt, die eine intensive, kontroverse Diskussion u.a. zu der Frage auslösten,(3) ob Bereiche mit sehr flexiblen oder jene mit relativ starren Preisen in stärkerem Maße zur gesamtwirtschaftlichen Instabilität beitragen.

Hier kann nicht weiter auf diese durchaus interessante Diskussion eingegangen werden, aber es liegt auf der Hand, dass Preisniveauänderungen, also auch eine Deflation, vor allem von Warengruppen bestimmt werden, die sehr preiselastisch auf Nachfrageveränderungen reagieren. Hohe Preiselastizität wird begünstigt durch intensiven Preiswettbewerb und relativ geringe Angebotselastizität, wie sie bei Agrarprodukten, mineralischen Rohstoffen und anderen Branchen besteht, die ihre Produktion aus technischen Gründen nicht kurzfristig einer Nachfrageänderung anpassen können.


Deflationsursachen und Symptome nicht verwechseln!

Die Korrelation von Deflationsrate und Arbeitslosenquote darf jedoch nicht einfach als ursächlicher Zusammenhang interpretiert werden. Vielmehr ist die realwirtschaftliche Depression die eigentliche Ursache sowohl der steigenden Arbeitslosigkeit als auch der Preisdeflation. Beide sind sozusagen Folgen, somit in gewisser Weise Symptome der Depression. Dass sich der Deflationsprozess in gewissem Umfang dann im Sinn des Prinzips der Selbsterfüllung von Prognosen selbst verstärken kann, ist zwar eine plausible Annahme, aber entscheidend sind doch die verschiedenen Depressionsursachen und damit die sie auslösen den Krisenfaktoren. Anders gesagt: Die Deflation wird nicht von Deflationserwartungen der Konsumenten ausgelöst, sondern beides - Deflationsprozess und Erwartungsbildung - sind Komponenten der bereits angelaufenen Krise.

Erwartungen, also eine psychologische Einflussgröße, spielen für das Verhalten von Investoren und Konsumenten eine wichtige Rolle. Es sind zwar, wie gesagt, nicht die Erwartungen, die als eigentliche Krisenursache infrage kommen, aber Erwartungen können den bereits in Gang gesetzten Krisenprozess erheblich verstärken. Der Absturz der "Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals" (Keynes) erfolgt nicht aus heiterem Himmel, sondern ist eine Reaktion auf bereits vorhandene Krisenerscheinungen. Das psychologische Moment, auf das Keynes hierbei immer wieder hingewiesen hat, besteht in der überpessimistischen Aufblähung negativer Absatz- bzw. Zukunftserwartungen. Die Wirtschaftspolitik gerät dadurch in eine Zwickmühle. Einerseits sollen optimistische Erwartungen erzeugt werden, was ein Schönreden der Situation nahelegt, andererseits birgt aber der an der Wahrheit vorbeigehende Zweckoptimismus das Risiko eines (noch) größeren Vertrauensverlustes in die Wirtschaftspolitik, sobald offenkundig wird, dass die Lage viel übler ist, als sie von der Beschwichtigungsrhetorik dargestellt wurde.

Psychologische Faktoren wie die Erwartungsbildung lassen sich nicht unabhängig von der mentalen Grundverfassung einer Gesellschaft verstehen. Deshalb ergeben sich hierbei deutliche länderspezifische Unterschiede. So liegt es etwa auf der Hand, dass in Ländern - wie u.a. USA und GB -, deren Konsumenten sich "leichtfertiger" verhalten, d.h. relativ weniger sparen und in der Vergangenheit ihre Konsumgüterkäufe in einem Ausmaß mit Krediten finanziert haben, dass die Konsumquote zeitweilig sogar über eins stieg, die Konsumeinschränkung stärker ausfällt als dort, wo die Haushalte in geringerem Maße auf Kredit einzukaufen pflegten. Je höher der Anteil der mit Kredit finanzierten Konsumausgaben war/ist, desto stärker wird die Konsumeinschränkung in der Krise ausfallen müssen, weil die Kreditquellen versiegen und Haushalte insolvent werden.

Das Deflationsrisiko in Ländern mit hoher Konsumquote (in den USA bewegte sie sich um 70%) ist also höher zu veranschlagen als in Volkswirtschaften mit niedrigen Konsumquoten (in Deutschland lag sie in der jüngeren Vergangenheit unter 60%).(4)

Auch die mehr oder weniger ausgeglichene Einkommensverteilung spielt eine Rolle. Sofern ein relativ hoher Anteil der Haushalte am oder unter dem Existenzminimum lebt, besteht für sie kaum die Möglichkeit weiterer Konsumeinschränkung. Bei den Bessergestellten sind es einerseits die krisenbedingten Vermögensverluste, die ihre Konsummöglichkeiten reduzieren, andererseits haben sie bereits in der Vergangenheit ihre Sparquote erhöht; die Sparquote der bundesdeutschen Haushalte ist seit 2001 über zwei Prozentpunkte gestiegen.(5)

Um also die Deflationsgefahr, soweit sie vom Konsumverhalten ausgeht, einschätzen zu können, sind genauere (statistische) Daten über Einkommenslage und Vermögensentwicklung erforderlich. In Deutschland ergaben Umfragen der Nürnberger "Gesellschaft für Konsumforschung" (GfK) vom Frühjahr 2009, dass die Konsumenten ihren Konsum nicht wesentlich einzuschränken beabsichtigten.

Dieses Ergebnis des Kosumtests überrascht - zumindest auf den ersten Blick. Jedoch ist objektiv festzustellen, dass die realen Einzelhandelsumsätze - wenn der temporäre Abwrack-Boom des Kfz-Sektors und der Umsatz der Tankstellen herausgerechnet werden - tendenziell weiter sinken, wie es schon in den Vorjahren geschah.(6) Der Konsum war in den vergangenen Jahren schon leicht rückläufig und trug nichts zum letzten Konjunkturaufschwung bei, was sich vor allem mit der relativ schwachen Entwicklung der Arbeits- bzw. Masseneinkommen erklärt.

Das weist darauf hin, dass bereits eine beachtliche Konsumzurückhaltung stattgefunden hat, sodass eine noch weitere Absenkung des Konsumniveaus für die Masse der Verbraucher weniger wahrscheinlich ist. Dass die Konsumenten dann in den besagten Umfragen "stabile" Nachfrage signalisieren, erscheint somit gar nicht mehr so überraschend. Mit dem absehbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit wird jedoch die Konsumnachfrage unvermeidlich sinken - nicht wegen Deflationserwartungen, sondern weil die Massenkaufkraft schwindet.


Helfen Inflationserwartungen gegen die Deflation?

In der gegenwärtigen Situation sind die kurz- und mittelfristigen Erwartungen zur Preisniveauentwicklung gegenläufig: kurzfristig auf Deflation, mittel- bis längerfristig auf Inflation gerichtet. Viele Verbraucher befürchten sowohl (weitere) Verluste ihres Geldvermögens, wenn beispielsweise die Rückzahlung von Anleihen ausgesetzt wird, oder sogar Staaten ein Schuldenmoratorium erklären, als auch durch die von verschiedenen Seiten verkündeten Inflationswarnungen Furcht vor künftiger Geldentwertung geschürt wird. Es ergibt sich also ein ganzes Bündel von Einflussfaktoren des Konsumverhaltens, deren Wirkungen sich kaum auseinanderhalten lassen. Die Gesamtwirkung wird aber wohl darauf hinauslaufen, das Vorsichtsverhalten zu verstärken, was die Wahrscheinlichkeit für eine Deflation erhöht.

Es dürfte schwierig, wenn nicht unmöglich sein, im tatsächlichen Konsumverhalten diese einzelnen Erwartungskomponenten herauszudestillieren. Auch für die lange japanische Deflation der 1990er Jahre ist nur festzustellen, dass die Wirtschaftskrise des Landes mit einer Deflation verbunden war, aber ob die damalige relative Konsumschwäche den Erwartungen sinkender Preise oder nicht vielmehr der krisenbedingt pessimistischen Grundhaltung der Menschen geschuldet war, ist damit keineswegs geklärt.

Für die deutsche Situation ist jedoch festzustellen, dass in diesem Land die Inflationsfurcht dominiert und eher viel zu hoch veranschlagt wird. Ob aber Inflationserwartungen zu höherem Konsum oder nicht im Gegenteil zur Konsumzurückhaltung motivieren, weil Inflation ebenfalls als Krise, die Vorsorge erfordert, wahrgenommen wird, ist unklar. Inflationserwartungen müssten zwar einen Homo oeconomicus zur Flucht in Sachwerte bewegen, aber die gehören nicht zum normalen Warenkorb des Durchschnittsverbrauchers. Mikroökonomisch könnte sich aus der Inflationsangst immerhin ein tendenziell anti-deflatorisches Nachfragerverhalten herleiten, was momentan durchaus erwünscht wäre. Doch die makroökonomischen Reaktionen auf überzogene Inflationsängste(7) hätten den äußerst unerwünschten Effekt, der zurzeit weit bedrohlicheren Deflationsgefahr nicht entschieden genug zu begegnen, also etwa auch weiterhin eine zu zögerliche Zentralbankpolitik oder gar ein vorschnelles Umschalten auf Inflationsbekämpfung zu praktizieren. Damit würde die Verschärfung der Rezession bzw. der Übergang zur Depression von der Wirtschaftspolitik geduldet, wenn nicht sogar begünstigt. Diese Gefahr ist in Deutschland umso größer, als die seit langer Zeit politisch gestützte Absenkung der Lohnquote bzw. der relativen Arbeitseinkommen (relativ zum BIP-Wachstum und zu den Besitzeinkommen) bisher nicht revidiert wurde, womit der deflatorisch wirkende Druck auf die Arbeitseinkommen anhält.


Dem Exportweltmeister droht ein Deflationsimport

Die Hauptgefahr einer Deflation kommt für Deutschland von jenseits der Grenzen. Die hohe Außenwirtschaftsverflechtung des Landes begünstigt den Deflationsimport, weshalb es sehr kurzsichtig war, dass sich die Bundesregierung (u.a. auf dem Londoner "Finanzkrisengipfel" am 2. April 2009) einem international koordinierten "Konjunkturprogramm" vehement widersetzt hat. Global besteht infolge der über lange Zeit verlaufenen Überakkumulation auf den meisten Märkten ein Überangebot, sodass bei weiter sinkender Nachfrage auf Märkten mit Preiswettbewerb auch deflatorische Preisniveauänderungen eintreten müssten.

Bekanntlich wurde durch den seit Beginn der 1980er Jahre anhaltenden Importüberschuss der USA ein fundamentales weltwirtschaftliches Ungleichgewicht geschaffen, das jetzt, da die USA nicht mehr als "Letztkonsument" (consumer of last resort) des globalen Überangebots(8) fungieren werden, gerade jene Länder in (steigende) Schwierigkeiten bringt, die einerseits ihr binnenwirtschaftliches Wachstum in starkem Maße von Export- bzw. Leistungsbilanzüberschüssen abhängig gemacht haben, andererseits aber auch nicht bereit, weil nicht einsichtig genug sind, ihr binnenwirtschaftliches Nachfragedefizit mit allen verfügbaren Mitteln zu reduzieren.

In dieser Hinsicht unterscheiden sich beispielsweise die beiden "Exportnationen" VR China und Deutschland. Das deutsche Krisenbewusstsein(9) kann durchaus als realistisch charakterisiert werden. Mehrheitlich - und das mit steigender Tendenz - wird erwartet, dass sich die Lage weiter verschlechtern wird. Dieser hoch plausiblen Beurteilung scheinen zwar die erwähnten Meldungen zu widersprechen, die ein relativ stabiles Konsumklima und optimistische Erwartungen von Managern ausweisen (Konsumklima-Index der GfK, Ifo-Konjunkturtest; ZEW-Befragung), die meinen, Licht am Ende des Tunnels zu sehen, aber das sind Meinungen und keine verlässliche Daten. Vor allem stehen solche Hoffnungen auf gutes Inlandswetter im Widerspruch zur Klimaverschlechterung der globalen Wirtschaft. Anders gesagt, die Deflationsgefahr geht in Deutschland primär nicht vom Binnenmarkt aus, wohl aber wirft sich ein globaler Deflationsprozess über die Außenwirtschaftsbeziehungen verheerend auf Wachstum und Beschäftigung in Deutschland auswirken.

Von Eichengreen/O'Rourke wurde Anfang April 2009 dargelegt, dass die globale Krise von heute der Großen Depression nach 1929 nicht nachsteht, sondern sie sogar noch übersteigen dürfte.(10) Der Absturz der globalen Industrieproduktion während der vergangenen Monate verlief vergleichbar heftig wie vom Juni 1929. Der Rückgang der Börsenkurse fiel sogar stärker als nach dem Börsencrash von 1929 aus, und der internationale Handel bricht offensichtlich sogar schneller und stärker zusammen als von 1929 an. Die genannten Autoren komprimieren ihren wirtschaftsgeschichtlichen Vergleich der Großen Depression nach 1929 und der Gegenwart in der alarmierenden Feststellung, "... globally we are tracking or doing even worse than the Great Depression, whether the metric is industrial production, exports or equity valuations".(11)

Die Krise wird nicht in allen Ländern ein gleiches Ausmaß erreichen. Die länderspezifischen Unterschiede sowohl der Ausgangsbedingungen zu Krisenbeginn als auch der wirtschaftspolitischen Reaktionen bewirken auch Unterschiede im jeweiligen Deflationsrisiko. Je höher beispielsweise die gesamtwirtschaftliche Konsumquote war, desto stärker dürfte der Konsum im weiteren Krisenverlauf einbrechen. Das trifft vor allem auf jene Volkswirtschaften zu, deren relativ hohe Konsumquoten sich in beachtlichem Umfang des kreditfinanzierten privaten Verbrauchs verdankten. Nachfragestabilisierend erweist sich wahrscheinlich der Bevölkerungsanteil mit einem relativ (krisen-)sicheren Einkommen - ob es nun relativ hoch oder niedrig liegt. Soweit Transfereinkommensempfänger (Ruheständler, Bezieher von sozialen Unterstützungen und dergleichen) einerseits ein Einkommensniveau aufweisen, das den lebensnotwendigen Bedarf kaum übersteigt, andererseits jedoch relativ sicher sind, keine Einkommenseinbußen zu erleiden, werden sie ihr Ausgabeverhalten unter dem Einfluss von Preisniveauvariationen kaum verändern (können). Die so genannten automatischen Stabilisatoren, zu denen im weiten Sinn auch die Finanzierung von Kurzarbeit zu rechnen ist, wirken der Nachfragekontraktion entgegen. Es liegt daher im gesamtwirtschaftlichen Interesse, diese automatischen Stabilisatoren weiter auszubauen - auf nationaler wie auf europäischer Ebene.


Karl Georg Zinn ist emeritierter Hochschullehrer der Volkswirtschaftslehre der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.


Anmerkungen

(1) "Drei von vier Neuwagenkäufern hätten auch ohne den staatlichen Zuschuss von 2.500 Euro ein Fahrzeug erworben ... (wird berichtet) ... unter Berufung auf eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle ..." siehe dpa, Studie: Mitnahmeeffekte bei Abwrackprämie groß, in: Handelsblatt, Nr. 84, 4. Mai 2009, S. 6.

(2) Die hohe Exportabhängigkeit der irischen Wirtschaft mag als ein Argument für die binnenwirtschaftliche Deflationspolitik angeführt werden. Denn ein einzelnes, zumal kleines Land kann im Sinn der beggar-my-neighbour-policy hoffen, dass es durch die Expansionspolitik anderer Volkswirtschaften seinen Export (wieder) zu steigern vermag. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrien könnte sich ggf. durch die inländische Deflation verbessern. Es versteht sich, dass eine solche "Strategie" nur aufgehen kann, wenn ihr nicht eine Mehrzahl der Länder oder gar alle folgen.

(3) Vgl. Karl Georg Zinn, Preissystem und Staatsinterventionismus. Geschichte und Theorie der privaten Preisadministration und der Preiskontrolle in Großbritannien und den USA, Köln 1978, S. 116-142.

(4) Vgl. Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Jg. 61, Nr. 4, April 2009, S. 61*.

(5) Sparquote der deutschen Privathaushalte einschließlich privater Organisationen ohne Erwerbscharakter (ob des verfügbaren Einkommens)

Jahr
Sparquote
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
9.4
9.9
10.3
10.4
10.6
10.5
10.8
11.5

Quelle: Deutsche Bandesbank, Monatsbericht, April 2009, S. 67.

(6) Im ersten Quartal 2009 ging der reale Einzelhandelsumsatz (ohne Kfz und Tankstellen) erneut um 3.2% zurück. Vgl. Einbußen für Händler. Umsatz schrumpft im März um 1.5 Prozent, in: Frankfurter Rundschau, Jg. 65, 103, 5. Mai 2009, S. 18.

(7) Die lnflationsbefürchtungen begründen sieh in der breiteren Öffentlichkeit mit den vermuteten Folgewirkungen der Staatsverschuldung. Hierbei wird jedoch die völlig verschiedene Wirkung von Übertragungskrediten (so bisher die Staatsverschuldung der Bundesrepublik und der EU; der EZB ist die Kreditvergabe an den Staat über Kassenkredite hinaus untersagt) und von Schöpfungskredit, insbesondere bei steigender Zentralbankgeldmenge (so in den USA, wo die Fed dazu überging, private und staatliche Schuldpapiere zu kaufen). Allerdings bewirkt die Kreditaufnahme im Ausland bzw. bei internationalen Finanzinstitutionen für das Inland eine Zentralbankgeldvermehrung, sofern die Kredite nicht zur Begleichung internationaler Verpflichtungen verwendet werden (müssen), also die inländische Geldmenge nicht vergrößern. Doch selbst ein kräftiges Wachstum der Zentralbankgeldmenge (= Geldbasis) führt nicht zwangsläufig zur Inflation, wie die Neoquantitätstheorie behauptet, sondern es kommt auf die Verwendung der gestiegenen Liquidität an. Zudem wird in einer Krisensituation die Zunahme der Geldbasis (M1) keineswegs auch zu einer proportionalen Ausweitung der Geldmengen M2 und M3 führen. Vgl. zur aktuellen Inflationsdiskussion Karl Georg Zinn, was ist von den Inflationsbefürchtungen zu halten? - Eine differenzierte Betrachtung spricht gegen die neoquantitätstheoretischen Interpretationen, in: Sozialismus, Jg. 36, Nr. 333, Heft 7-8/2009, S. 32-34.

(8) Die Konsumnachfrage am US-Binnenmarkt profitiert allerdings - im krassen Unterschied zur EU und insbesondere Deutschland - von dem nach wie vor relativ hohen Bevölkerungswachstum (ca. 1 %), das maßgeblich der Zuwanderung zu danken ist.

(9) Jörg Cezanne/Jasmin Romfeld, Selbst der eigenen Bank vertrauen nur noch 52% ... Überlegungen zu Krise und Alltagsbewusstsein, in: Sozialismus, Jg. 36, Nr. 331, Heft 5/2009, S. 27-31.

(10) Barry Eichengreen/Kevin H. O'Rourke, A Tale of Two Depressions (www.VoxEu.org).

(11) Ebd. Zu einer Gegenmeinung eines IMF-Mitarbeiters vgl. Thomas Helbling, How similar is the current crisis to the Great Depression?, vom 29. April 2009 (www.VoxEu.org).


*


Quelle:
Sozialismus Heft 9/2009, Seite 26-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2009