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INTERNATIONAL/052: Indien - Wucherer diskreditieren Mikrokreditsektor, viele Bauern überschuldet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Oktober 2011

Indien: Wucherer diskreditieren Mikrokreditsektor - Viele Bauern überschuldet

von Manipadma Jena

Korbflechterinnen in Kerala profitieren von Mikrokrediten - Bild: © ESAF/IPS

Korbflechterinnen in Kerala profitieren von Mikrokrediten
Bild: © ESAF/IPS

Bhubaneswar, Indien, 14. Oktober (IPS) - Mikrokredite sind in Indien ins Zwielicht geraten, nachdem private Finanzinstitutionen ihren Kunden das Dreifache der ursprünglich festgesetzten Zinsen abverlangten. Millionen Frauen in den ländlichen Gebieten weigern sich nun, die aufgenommenen Darlehen zu tilgen.

Die Kreditnehmer sehen sich geprellt. "Die Mikrokreditinstitutionen müssen uns die Hälfte der Beträge, die wir schon gezahlt haben, zurückerstatten", forderte Vijaya Kasipati, die in einem Dorf im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh lebt.

"Die Mikrofinanzinstitutionen (MFIs) bieten oft einen pauschalen Zinssatz von zehn bis zwölf Prozent an", erläutert Jamuna Paruchuri, die Direktorin der staatlichen Gesellschaft zur Beseitigung der Armut in ländlichen Gegenden (SERP). Auf den ersten Blick erscheine das attraktiv.

Dabei werde aber übersehen, dass bei der Berechnung der Zinsen stets die gesamte Darlehenssumme zugrunde gelegt werde. Die bereits getilgten Raten würden nicht davon abgezogen, kritisiert Paruchuri. "Der versteckte Zinssatz steigt somit auf etwa 36 Prozent."


Schulden treiben Menschen in den Selbstmord

SERP arbeitet in Andhra Pradesh mit fast 1.000 unabhängigen Gruppen zusammen, die mehr als elf Millionen Frauen vertreten. Diese Frauen weigerten sich nun, die Kredite weiter abzuzahlen, da sie bereits ein Vielfaches des ursprünglich geliehenen Geldes getilgt hätten, berichtet Paruchuri. Zahlreiche Bäuerinnen hätten sich im vergangenen Jahr das Leben genommen, weil sie vor lauter Schulden keinen Ausweg mehr gesehen hätten.

Die Kreditraten laufen über ein Jahr und müssen im Wochenturnus beglichen werden. Etwa um die 25. Woche überredeten MFI-Mitarbeiter ihre Kunden dazu, ein weiteres Darlehen aufzunehmen. "Die Kreditnehmer zahlen also weiterhin Zinsen auf die ursprüngliche Summe und zusätzlich auf das neue Darlehen", sagt Paruchuri. "Damit steigt die Zinsbelastung schließlich auf über 70 Prozent."

"Die Menschen geraten in eine Schuldenfalle", so auch Sudhirendar Sharma, ein früherer Berater der Weltbank. "Dabei war die ursprüngliche Idee hinter den Mikrokrediten, arme Menschen in ländlichen Regionen aus den Klauen lokaler Geldverleiher zu befreien."

Als die wachsenden Schuldenberge Bauern scharenweise in den Selbstmord trieben, sah sich die Regierung von Andhra Pradesh zum Handeln gezwungen. Im Oktober vergangenen Jahres brachte sie einen Gesetzentwurf ins Parlament ein, um die MFIs und ihre Mittelsmänner an der wöchentlichen Eintreibung der Raten zu hindern. Die Interessen der Frauengruppen, die von privaten Geldverleihern ausgebeutet würden, müssten geschützt werden, hieß es in der Präambel des Gesetzes.

Als viele Schuldner von einem Tag zum anderen aus Protest ihre Zahlungen einstellten, erhielten die MFIs von den großen Banken kein Kapital mehr. Sie mussten daraufhin Personal entlassen und stürzten in die Krise.

Die Farmer selbst wandten sich wieder den traditionellen Geldverleihern zu, die Tür-zu-Tür-Geschäfte machen. Normale Banken hätten kein Interesse daran, in abgelegenen Regionen tätig zu werden, sagt Mohammed Nooruddin Amin, Chef der Finanzorganisation 'Adhikar', die seit 2004 Mikrokredite vergibt. "Die Armen und Ungebildeten werden durch die umständlichen Bewilligungsverfahren abgeschreckt."

Für die Krise in dem Mikrokreditsektor machte Amin profitorientierte MFIs verantwortlich. "Das Kreditportfolio sozial orientierter Vereinigungen wie Adhikar entspricht nur etwa 30 Prozent", erklärt er. Bei den profitorientierten Unternehmen sei der Anteil höher. Zudem stünden sie unter Druck ihrer Investoren und Anteilseigner, höhere Profite vorzuweisen.


Gesetzespläne verwirren Bevölkerung

Doch auch der Non-Profit-Sektor gerät in Turbulenzen. Auch Adhikar musste diese Erfahrung machen. So hat sich die Rückzahlungsmoral seit dem Gesetzesvorstoß der Regierung im Oktober 2010 deutlich verschlechtert. "Die Menschen saßen Gerüchten auf, wonach die indische Zentralbank ihnen die Rückerstattung der Darlehen erlassen würde", weiß Amin.

Doch die Situation scheint sich allmählich wieder zu bessern. So berichtet Paul Thomas, der Gründer des Evangelischen Forums für Sozialaktion (ESAF) in Kerala, dass die öffentlichen Banken allmählich wieder bereit sind, Kreditbeträge bereitzustellen.

Unabhängige Finanzexperten fordern ein Verbot für die Vergabe mehrfacher Kredite. Verlangt werden außerdem größere Transparenz und niedrigere Zinssätze. Wie Amin hervorhebt, muss den Organisationen, die die Darlehen vergeben, allerdings auch eine gewisse Gewinnmarge zugestanden werden. Andernfalls könnten sie nicht auf die Bedürfnisse der Allerärmsten eingehen. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.serp.ap.gov.in/SHG/index.jsp
http://www.adhikarindia.org/
http://www.esafindia.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105394

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2011