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INTERNATIONAL/140: Die Wirtschaft von Morgen in Asien (spw)


spw - Ausgabe 6/2012 - Heft 193
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Von Drachen, Tigern, Elefanten: Die Wirtschaft von Morgen in Asien
Ein Werkstattbericht aus dem Economy of Tomorrow Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien

Von Marc Saxer



Auf den ersten Blick scheint alles so klar. Der Westen, der sich dem Marktradikalismus verschrieben hatte, rutscht immer tiefer in die Krise. Der Osten, der dieses Modell vehement zurückgewiesen hat, leitet ein asiatisches Jahrhundert ein. Ist nicht augenfällig, was daraus folgen muss? Der neoliberale Kaiser ist nackt, höchste Zeit, den Finanzkapitalismus zu bändigen.

Schaut man näher hin, bleibt von diesem Bild wenig übrig. Im Westen ist es der Status Quo-Koalition gelungen, die Deutungshoheit über die Krise zu gewinnen. Nicht Raubtierkapitalismus und Systemversagen, sondern faule Griechen und fette Wohlfahrtsstaaten seien die Wurzel allen Übels. Was nun geschehen muss liege auf der Hand, den Gürtel enger schnallen, zurück zu den Tugenden der schwäbischen Hausfrau. In der Eurokrise wird dem europäischen Süden die alte IWF Rosskur verschrieben, ganz so, als sei nie etwas geschehen. Versuche, die Finanzmärkte zu regulieren sind weitgehend versandet. In den USA und Frankreich stehen die Doktoren schon bereit, um die angeblich siechenden Sozialstaaten zur Ader zu lassen. Kurzum: den progressiven Kräften des Westens ist es nicht gelungen, die marktradikale Hegemonie mit einer eigenen Erzählung zu brechen. Ohne die Vision einer besseren Zukunft, ohne eine glaubwürdige Erzählung über den Weg dorthin ist es schwer, Menschen zu mobilisieren. Ohne die Unterstützung der Massen gehen diejenigen als Sieger aus gesellschaftspolitischem Kämpfen hervor, die über Zugänge und Ressourcen verfügen. Die Krise des Kapitalismus ist eine Krise der Demokratie. Die Krise der Linken spiegelt die metaphysische Krise der westlichen Postmoderne.[1]


1. Die Ausgangslage in Asien

Der neoliberale Glaube an die "unsichtbare Hand" des freien Marktes hat sich dagegen in den staatszentrierten Ländern Asiens nie wirklich durchgesetzt. Dem japanischen Modell folgend hat der 'Beijing Consensus' aus staatlich koordinierter Industrialisierung, merkantilistischer Exportförderung und Billiglöhnen zum spektakulären wirtschaftlichen Aufstieg Taiwans, Singapurs, Hong Kongs, Südkoreas und Thailands und etwas später Chinas und Vietnams geführt. Der wirtschaftliche Aufschwung Indiens und in jüngerer Zeit Thailands ist dagegen eher eine Folge der Befreiung des Privatsektors aus den Klauen einer korrupten und inkompetenten Bürokratie. Auch hier gibt es jedoch starke Vorbehalte gegen den neoliberalen 'Washington Consensus'. Indonesien schließlich profitierte von seinem enormen Ressourcenreichtum, der von den Aufsteigern Asiens aufgesogen wird.

Auch den erfolgreichen Aufsteigern Asiens wird es jedoch immer deutlicher, dass die Entwicklungspfade angesichts der neuen Herausforderung an ihrem Ende angelangt sind. Als Outsourcing Standorte an der Peripherie der industriellen Zentren haben die kleineren Schwellenländer Asiens ähnliche Problemen wie Polen bzw. Osteuropa. Die wirtschaftlichen und politischen Gestalter haben in den meisten Ländern erkannt, dass die alten Modelle nicht mehr ausreichen, um die ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen zu meistern. Quer durch alle Lager kommen daher immer mehr Vordenker aus Europa und Asien zu der Einsicht, dass neue Modelle entwickelt werden müssen, um einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschlagen.

Wie dieses alternative Entwicklungsmodell aussehen kann ist aber zwischen den asiatischen Denkschulen umstritten. Die liberal-demokratischen "Tiger" Indien und Süd-Korea gewähren ihren Bürgern politische Freiheiten, legen jedoch weniger Wert auf Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Die autoritären "Drachen" China, Vietnam und Singapur versuchen die wachsende soziale Ungleichheit durch Umverteilungspolitiken zu entschärfen, behalten aber im Interesse der Stabilität die politischen Zügel fest in der Hand. Thailands politischer Konflikt dreht sich auch darum, welchem der beiden Pfade die Gesellschaft folgen soll. Indonesien laviert zwischen den Polen hin und her. Das sich öffnende Burma wird seinen Pfad in diesem Koordinatensystem suchen.

Im Gegensatz zum angelsächsischen Marktradikalismus finden Elemente des sozialdemokratischen Modells großes Interesse bei den "Pfadfindern" Asiens. Die Betonung des sozialen Friedens, die aktive Rolle des Staates in der sozio-ökonomischen Ordnung und das Ideal der Balance zwischen Exportorientierung und Binnennachfrage sind in Asien anschlussfähig.

Vor allem China bedient sich aktiv am Erfahrungsschatz der kontinentaleuropäischen Sozialstaaten. Peking hat längst damit begonnen, seine Sozialsysteme nach dem deutschen Vorbild auszubauen (auch wenn dabei Bismarck'sche Überlegungen zur Abfederung der politischen Verwerfungen eine Rolle spielen). Der gigantische Stimulus zur Abfederung der globalen Finanzkrise verdeutlicht zudem die keynesianischen Instinkte der Chinesen. Die nachfrageorientierte Lohnpolitik und die auf höhere Wertschöpfung zielende Industriepolitik Pekings haben bereits heute massive Auswirkungen auf die Arbeitsteilung in Südost-Asien. Trotz der Blase in der Photovoltaikindustrie versucht China entschlossen, die Potentiale ökologischer Industriepolitik zu nutzen, um sich von einer Billiglohn- zur High Tech-Wirtschaft weiter zu entwickeln. Dieser Pfadwechsel Chinas weg vom Beijing Consensus wird in Asien sehr genau beobachtet.

Selbstverständlich wird auch die Krise der Eurozone sehr genau registriert. Viele Asiaten zweifeln, ob die europäischen Wohlfahrtsstaaten nicht doch über ihre Verhältnisse gelebt haben. Entsprechend wird die Einführung von Sozialsystemen auf europäischem Niveau für die Schwellenländer Asiens auf mittlere Sicht ausgeschlossen. Dort, wo Sozialsysteme aufgebaut werden, verläuft die Debatte anders als in Europa. Mit Ausnahme Indonesiens läuft die Argumentation für höhere Sozialstandards nicht über Rechte (z.B. soziale Menschenrechte), sondern über die Performanz (z.B. höhere Produktivität des Humankapitals, Binnenkonsumnachfrage, Flexibilität des Arbeitsmarktes) oder politische Stabilität (soziale Kohäsion/ sozialer Sprengstoff).

Der progressive "Elefant" findet sich also in einer Sandwichposition zwischen dem liberalen "Tiger" und dem autoritären "Drachen". Progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik mit ihrer Betonung sozialer Gerechtigkeit findet vor allem bei den entwicklungsdiktatorischen "Drachen" Resonanz. Die Institutionalisierung der Freiheit in einer sozialen Demokratie spricht dagegen die demokratischen "Tiger" an. Positiv gewendet ist das Modell sozialer Demokratie im asiatischen Diskurs nach allen Seiten anschlussfähig.

Im Gegensatz zu den vergleichsweise gut organisierten Parteien und Gewerkschaften Europas sind die progressiven Kräfte in vielen asiatischen Ländern marginalisiert. Mit Ausnahme Indonesiens sind progressive Akteure oft kaum in der Lage die Interessen ihrer Klientel zu vertreten, geschweige denn tiefgreifende Strukturveränderungen voran zu treiben. Obwohl die marktradikale Ideologie sich in Asien nie wirklich durchsetzen konnte, zahlen die Gesellschaften einen hohen Preis für den wirtschaftlichen Aufstieg. Der Beijing Consensus aus rücksichtsloser Industrialisierung, menschenunwürdigen Billiglöhnen und verletzlicher Exportorientierung hatte massive soziale, ökologische und politische Verwerfungen zu Folge.


2. Das Economy of Tomorrow Projekt

Dies ist der Ausgangspunkt für das "Economy of Tomorrow" Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien. In einer Reihe von nationalen Modellwerkstätten in China, Indien, Indonesien, Süd-Korea, Thailand und Vietnam werden Antworten auf drei zentrale Fragen gesucht:

  1. Wie muss ein Wirtschafts- und Entwicklungsmodell aussehen, das als Kompass für die Überwindung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen dienen kann?
  2. Wie muss die Erzählung lauten, die Vision und Orientierung für die gesellschaftspolitischen Kämpfe um den neuen Entwicklungspfad gibt?
  3. Auf welcher Plattform können sich reformorientierte Kräfte zu einer breiten gesellschaftlichen Regenbogen-Koalition vereinen?

Ziel des "Economy of Tomorrow" Projektes ist es, einen alternativen Entwicklungspfad aufzuzeigen und Diskurskoalitionen für den Kampf um seine Umsetzung zu ermöglichen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung macht dabei explizit ein Dialogangebot, das auf dem Modell des "Guten Kapitalismus"[2] basiert.

Um sich über Analysen, Ideen und Erfahrungen bei der Umsetzung auszutauschen bringt die inter-regionale Dialogplattform "Economy of Tomorrow" Vordenker aus Asien mit ihren Gegenübern aus Deutschland, Polen, Schweden und Japan zusammen. Die ersten Asiatisch-Europäischen Economy of Tomorrow Dialoge in Bangkok (Gründungstreffen), Singapur ('Grüne Jobs'), Seoul ('Nachfragegetriebenes Wachstum') und Delhi ('Grünes Wachstum') haben eine erstaunliche Konvergenz bei der Problemanalyse zwischen diesen heterogenen Ländern gezeigt. Die Verheerungen der durch marodierendes Spekulationskapital ausgelösten Asienkrise 1997 und der Einbruch der westlichen Exportmärkte nach 2008 haben den Asiaten die hohe Verletzlichkeit ihrer Modelle gegenüber externen Schocks vor Augen geführt. Trotz der großen Erfolge in der Armutsbekämpfung hat der Beijing Consensus zu einer dramatischen Öffnung der sozialen Schere in allen asiatischen EoT Ländern geführt. Vor allem die sozialen Verwerfungen machen den Schwellenländern zu schaffen. Aber auch der Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen und der nicht nachhaltige Ressourcenverbrauch werden als zentrale Probleme erkannt.

Ausgangspunkt des Dialoges ist die Prämisse, dass es Blaupausen zur Bewältigung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen nicht geben kann. Jede Gesellschaft muss ihr eigenes, maßgeschneidertes Modell finden, dass optimal auf die Bedingungen vor Ort passt. Die inter-regionalen Dialoge dienen daher zuallererst dem Austausch, und erst in zweiter Linie als Ergänzung der nationalen Modellwerkstätten. Dennoch lassen sich bestimmte Konsenslinien zwischen den Vordenkern aus Asien und Europa ausmachen.


3. Umrisse eines sozial gerechten, stabilen und grün dynamischen Wachstumsmodells
 
Normative Vision

Diese normative Vision soll zur Orientierung in gesellschaftspolitischen Debatten beitragen und als Kompass für die Ausrichtung staatlicher, wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Politiken dienen.

Ein interessanter Ausgangspunkt für eine gemeinsame progressive Plattform ist die Verbindung von Freiheit und Gleichheit im Denken des indischen Nobelpreisträgers Amartya Sen[3]. Sein Leitbild der "vollen Lebensverwirklichungschancen für alle" (full capabilities for all) ist ein Auftrag an die Gesellschaft (den Staat, die Wirtschaft, die Zivilgesellschaft), aktiv die Steine aus dem Weg zu räumen, die das einzelne Individuum an der Verwirklichung seines vollen Potentials hindern.

Das Verständnis dieser Lebensverwirklichungsmöglichkeiten (capabilities) als Freiheitsrechte entspricht nicht der europäischen Tradition, die gleiche Lebenschancen eher als Frage der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit betrachtet. 'Entwicklung als Freiheit' ist jedoch insbesondere in den libertären Tigerländern Indien und Südkorea anschlussfähig. Die pro-aktive Beseitigung von Entwicklungshemmnissen durch den Entwicklungsstaat findet vor allem in den Entwicklungsdiktaturen der 'Drachenländer' Anklang. Die Konzeption einer Ordnung, die durch die Bereitstellung von öffentlichen Gütern (Gute Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme, Sicherheit etc.) die Bedingungen für gleiche Lebenschancen produziert, ist schließlich anschlussfähig an den europäischen Diskurs zur 'Guten Gesellschaft'.

Gerade über die grundsätzliche Aufgabe der wirtschaftlichen Ordnung, die Bedingungen für eine 'Gute Gesellschaft mit vollen Lebensverwirklichungsmöglichkeiten für alle' zu produzieren herrschte zwischen den Teilnehmern aller Dialoge erstaunliche Übereinstimmung. Die normative Vision des Economy of Tomorrow Projektes ist folglich die Schaffung einer "Good Society with full capabilities for all".

Welches Wachstum brauchen wir?

Allen Referenzen zu "Glück" und "Selbstgenügsamkeit" zum Trotz steht es für die Schwellenländer Asiens außer Frage, dass ihre Wirtschaften auch in Zukunft kräftig wachsen müssen, um die sozialen und politischen Verwerfungen ihrer Transformation zu meistern. Konsumverzicht, auch im Hinblick auf den Klimawandel, ist daher keine realistische Option. Im Gegenteil haben die meisten asiatischen Länder in Reaktion auf die wegbrechenden westlichen Exportmärkte damit begonnen, die Binnenkonsumnachfrage zu stärken. Die hartnäckige Weigerung vor allem Indiens und Chinas, sich einem Klimaregime zu unterwerfen hängt vor allem mit dem Misstrauen zusammen, der Westen wolle ihren wirtschaftlichen Aufstieg quasi durch die Hintertür bremsen oder gar verhindern. Wege aus der ökologischen Krise, die auf ein Nullwachstum (oder gar einen Schrumpfungsprozess) setzen, sind im Mainstream Asiens nicht anschlussfähig.

Dennoch besteht ein breiter Konsens, dass die marktradikale Obsession mit reinem BIP Wachstum zu massiven gesellschaftlichen Verwerfungen führt und durch einen neuen Wachstumsbegriff ersetzt werden muss. Die Teilnehmer der Asiatisch-Europäischen Dialoge in Bangkok, Seoul und Delhi sprachen sich für einen dreidimensionalen Wachstumsbegriff aus: "sozial gerechtes, stabiles/ ausgewogenes[4] und grün dynamisches Wachstum produziert die Bedingungen für eine Gute Gesellschaft".

Die Wachstumsmotoren

Typischerweise sind vielen Asiaten die entweder-oder-Dichotomien des westlichen Denkens fremd. Dementsprechend sprachen sich die ökonomischen Vordenker für eine "Das eine tun, ohne das andere zu lassen" Balance zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung aus. Ähnlich ausgewogen soll die eigene Verletzlichkeit durch externe Schocks gemindert werden: keineswegs durch eine Drosselung der Exporte, sondern durch die Stärkung der heimischen Nachfrage.

In der Dimension sozial gerechten Wachstums wurde vor allem ein Mangel an aggregierter Nachfrage analysiert. Um die sozialen Verwerfungen des rasanten ökonomischen Aufstieges zu korrigieren, soll die heimische Konsumnachfrage durch eine Stärkung der Kaufkraft der unteren Einkommensschichten gestärkt werden. Gleichzeitig soll die Investitionsnachfrage durch eine expansive Ausgabenpolitik des Staates, aber auch durch verstärke private Investition gestärkt werden. Die Fehler der Europäer will man dabei vermeiden. Eine Ausweitung der staatlichen Investitionstätigkeit soll durch höhere Steuern und keinesfalls durch Schulden finanziert werden.

Auch in der Frage, wie die ökologischen Krisen gemeistert werden können setzen die Asiaten auf ein pragmatisches "Sowohl-als-auch". Nicht durch von außen oktroyierte Emissionsgrenzen, sondern durch technologische Innovation, industriellen Strukturwandel und eine Veränderung der Konsumgewohnheiten hofft man die ökologische Krise zu meistern, ohne auf Wirtschaftswachstum verzichten zu müssen. Einerseits soll die Nachhaltigkeit des Wachstums durch ein "Begrünen der alten Wirtschaft" (Greening of the old economy) erreicht werden, also durch eine weitgehende Entkopplung der Industrie-, Immobilien- und Mobilitätssektoren von Energie- und Ressourcenverbrauch. Andererseits sollen aktiv die Potentiale 'Grünen Wachstums' erschlossen werden: Energiesicherheit durch erneuerbare Energien, neue Leit- und Wachstumsmärkte durch 'ökologische Industriepolitik', 'Grüne Jobs' durch neue Qualifikation der Arbeitnehmer. Um die Anschlussfähigkeit an den asiatischen Diskurs zu verbessern, soll diese Achse die langfristigen Potentiale 'Grünen Wachstums' betonen, statt wie der traditionelle Nachhaltigkeitsdiskurs vor allem auf die kurzfristigen Kosten zu verweisen. Das Economy of Tomorrow Modell spricht daher vom "grün dynamischen Wachstum".

Strategische Ziele

Um diese Wachstumsmotoren zum Laufen zu bringen, müssen Privatwirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam die Rahmenbedingungen schaffen.

Um sozial gerechtes Wachstum zu ermöglichen, soll die aggregierte Nachfrage durch eine gleichere Einkommensverteilung gestärkt werden. Im Vordergrund steht dabei eine progressive Lohnpolitik. Dennoch sehen die asiatischen Ökonomen die Notwendigkeit einer Korrektur von Marktverwerfungen durch staatliche Umverteilungspolitiken. Bemerkenswert dabei ist, dass auch die Tigerländer den Ausbau eines Systems sozialer Sicherheit der populistischen Ausgabe von Subventionen und Direktzahlungen vorziehen. China hat bei der Umsetzung dieser Politiken bereits Fortschritte gemacht, die die Bezeichnung 'historisch' verdienen: die Lohneinkommen steigen signifikant an, die Armut sinkt und mehr als 900 Millionen Chinesen wurden innerhalb kürzester Zeit in ein Basissystem sozialer Sicherung eingebunden.

Ein in allen Dimensionen immer wiederkehrendes Motiv ist der Fokus auf die Stärkung der Qualifizierung der Arbeitnehmer. Für die asiatischen Ökonomen ist dies die Schlüsselvariable, um aus der 'Middle Income Trap' auszubrechen und zu den Industriestaaten aufzuschließen. Diese Qualifizierung soll sowohl durch einen Ausbau der (Berufs-) Bildungssysteme, als auch durch "Training on the Job" in den 'grünen Industrien' erreicht werden.

Um 'grün dynamisches Wachstum' zu schaffen, muss einerseits die Entkopplung der Wirtschaften vom Energie- und Ressourcenverbrauch vorangetrieben werden, und neue Technologien und Produkte eingeführt werden. In beiden Fällen soll der Staat eine Brückenfunktion in der Markteinführung spielen, bis die Wettbewerbsfähigkeit der grünen Technologien durch Skalierungseffekte erreicht ist[5]. Ein Mix aus holistischen Preisbildungsmechanismen, Regulierung und gezielten Investitionen dient dabei zur Orientierung von Forschung und Entwicklung und sendet Signale für die Investitionen der Märkte.


4. Das Economy of Tomorrow Diskursmodell

Zusammen genommen zeichnen sich die Umrisse eines alternativen Entwicklungsmodells ab, die nun in den nationalen Modellwerkstätten weiter ausgearbeitet und angepasst werden müssen.

Im Sinne der Economy of Tomorrow Strategie ist dieses Modell aber mehr als ein Kompass. Es dient gleichzeitig als Plattform, auf der sich trotz unterschiedlicher Partikularinteressen eine breite gesellschaftliche Koalition reformorientierter Kräfte versammeln kann. Die Bündelung der Kräfte in einer Regenbogenkoalition ist die entscheidende Erfolgsbedingung für die gesellschaftspolitischen Kämpfe um die Pfadwechsel. Mit anderen Worten: die Umsetzungschancen von sozial gerechten, stabilen und grün dynamischen Politiken hängt von der Fähigkeit der Regenbogenkoalition ab, genügend politische Muskeln zu mobilisieren, um das Kalkül zentraler Akteure zu beeinflussen. Das EoT Projekt wird nach der ersten Phase der Modellwerkstätten also den Schwerpunkt auf die Schaffung einer Regenbogenkoalition aus Parteien und Parlamentariern, Ministerien und Durchführungsorganisationen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden NGOs, Universitäten und Think Tanks, Wirtschafts- und Berufsverbänden, Medien, Entwicklungskommissionen und Zentralbanken zu legen.

Die Umsetzungschancen von Politiken hängt jedoch ebenso davon ab, wie diese Initiative im Diskursraum aufgenommen wird. Werden sie abgelehnt, schon weil sie 'aus der falschen Ecke' kommen? Widersprechen sie allseits akzeptierten Überzeugungen und Erklärungsmustern? Liegen sie außerhalb dessen, was man sagt oder tut? Oder gibt es eine wohlwollende Grundhaltung, eine neue Betrachtung der Situation, eine Offenheit für neues Denken und Handeln? Ob das Spielfeld günstig oder ungünstig ist wird maßgeblich von der Deutungshoheit im Diskurs beeinflusst.

Das Economy of Tomorrow Modell ist daher als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer neuen Erzählung konzipiert. Die drei Dimensionen sozial gerechtes, stabiles und grün dynamisches Wachstum funktionieren dabei als Diskursachsen, entlang derer in nur vier argumentativen Schritten ein hochkompliziertes Politikinstrument mit einer für Laien nachfühlbaren normativen Vision zu verknüpfen ist. Beispielsweise lässt sich nun argumentieren: "Mindestlöhne sind ein wichtiges Instrument zur Angleichung der Einkommensverhältnisse. Stärkere Massenkaufkraft treibt sozial gerechtes Wachstum an und schafft so die Bedingungen für eine Gute Gesellschaft mit vollen Lebensverwirklichungsmöglichkeiten für alle". Umgekehrt gibt die normative Vision Orientierung für staatliche und private Akteure bei der Ausrichtung ihrer Politiken. Die Diskursmatrix erlaubt es also, schwer verständliche Instrumente in einen größeren Erklärungsrahmen zu stellen, und erleichtert gleichzeitig die Entwicklung kohärenter Politiken. Dieser Rahmen hilft Unternehmen bei der Produktentwicklung, Märkten bei der Investition, Parteien bei der Entwicklung von Programmarbeit, Ministerien bei der Planung, Bürokratien bei der Implementierung, Forschern bei der Fokussierung, der Zivilgesellschaft bei der Kontrolle, Medien bei der Kritik und Konsumenten beim Kauf. Die Diskursmatrix erleichtert es einer pluralistischen Gesellschaft, sich auf einen Pfad zu einigen, und sendet Richtungs-Signale in ihre fragmentierten Subsysteme, um alle Akteure auf ein gemeinsames Ziel hin auszurichten.

Mit der Verlagerung des Schwerpunktes der Weltwirtschaft nach Asien wird die Deutungshoheit im asiatischen Diskurs auch Auswirkungen auf die Diskurse im Westen haben. Eine gemeinsame asiatisch-europäische Erzählung mit sozialdemokratischen Referenzen wird auch die Einstellung beeinflussen, mit der in Deutschland über Grundfragen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gedacht und gesprochen wird. Das Economy of Tomorrow Projekt sucht also nicht nur Antworten auf die Herausforderungen von heute, sondern bereitet den politischen und diskursiven Boden für die gesellschaftspolitischen Kämpfe um die Wirtschaft von morgen.


ANMERKUNGEN:

[1] Marc Saxer: Die Große Krise des Westens.
http://www.fortschrittsforum.de/debattieren/wirtschaft-wachstum/artikel/article/die-grosse-krise-des-westens.html

[2] Dullien, Herr, Kellermann, Der gute Kapitalismus: ... und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, transcript 2009; Decent Capitalism: A Blueprint for Reforming our Economies, Pluto Press 2007.

[3] Amartya Sen, Development as Freedom, Oxford University Press, 1999.

[4] Über die Dimension der Stabilität/Ausgewogenheit soll im Februar 2013 in Bangkok ein Konsens ausgearbeitet werden. Hier wird es sich vor allem um die Frage drehen, wie den Boom- und Bust-Zyklen des entfesselten Finanzkapitalismus ein neues Modell koordinierter Finanzströme entgegengestellt werden kann.

[5] Matthias Machnig, Ökologische Industriepolitik als Schlüsselelement einer zukunftsfähigen Wirtschaft in Europa, FES Perspektive, November 2011,
http://library.fes.de/pdf-files/id/08690.pdf


Marc Saxer ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Thailand.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2012, Heft 193, Seite 33-39
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2013