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MELDUNG/664: Der Globalisierungsmotor gerät ins Stocken (idw)


Bertelsmann Stiftung - 01.09.2016

Der Globalisierungsmotor gerät ins Stocken


Grenzöffnungen, Abbau von Zollschranken, Kommunikation über den Erdball in Echtzeit - die Globalisierung kannte bisher nur eine Stoßrichtung: größer, schneller, weiter.
• Doch die Verflechtung der Staatengemeinschaft geht seit 2007 zurück. Der Globalisierungsreport 2016 zeigt, welche Auswirkungen dies für die Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens in den Industrie- und Schwellenländern hat.


Gütersloh, 1. September 2016. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat zu einem Globalisierungsrückschritt geführt. Seit 2007 geht die durch einen Index gemessene Globalisierung zum ersten Mal im Beobachtungszeitraum (1990-2014) flächendeckend zurück - und zwar in 35 von 42 Ländern. Trotz dieser Entwicklung erzielt Deutschland zusammen mit weiteren Industrieländern, wie beispielsweise Japan, der Schweiz, Finnland und Dänemark, immer noch die höchsten globalisierungsbedingten Zuwächse beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und gehört damit zu den Gewinnern der Globalisierung. Das sind die zentralen Ergebnisse des Globalisierungsreports 2016 der Prognos AG, der im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt wurde. In 42 Industrie- und Schwellenländern wurde untersucht, wie groß die Wohlstandsgewinne aufgrund der voranschreitenden Globalisierung ausfallen.


Der Grad der internationalen Verflechtung wird im Globalisierungsreport mit einem Index berechnet, der sich eng an den Globalisierungsindex der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich anlehnt. Zwischen 1990 und 2007 legte der Indexwert für die 42 Länder deutlich von durchschnittlich 46,4 Punkten auf 65,1 Punkte zu. Im Anschluss war er hingegen rückläufig und zeigt seit 2011 eine stagnierende Entwicklung. Im Jahr 2014 lag der Index bei durchschnittlich 62,6 Punkten. Damit werden auch die jährlichen globalisierungsbedingten Wohlstandsgewinne kleiner. Während das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1990 bis 2011 - dem Beobachtungszeitraum der Vorgängerstudie - durch Globalisierungseffekte durchschnittlich um rund 610 Euro pro Kopf und Jahr wuchs, waren es im erweiterten Zeitraum (1990-2014) nur noch rund 580 Euro pro Kopf. Trotzdem ist die Gesamtbilanz positiv: Im Untersuchungszeitraum wuchs das BIP aufgrund der voranschreitenden Globalisierung in der Gesamtheit aller 42 untersuchten Länder im Schnitt um fast 970 Milliarden Euro pro Jahr. Dies entspricht in etwa der Wirtschaftsleistung einer mittelgroßen Volkswirtschaft wie Spanien oder Südkorea. "Protektionismus ist keine überzeugende Antwort auf die Finanzkrise. Wir brauchen neue Impulse für Wachstum und internationale Verflechtung, um Wohlstandsgewinne für Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer zu sichern", so Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, über die Ergebnisse.


Deutschland unter den Globalisierungsgewinnern

Auch bei der Exportnation Deutschland haben die internationalen Krisen der letzten Jahre Spuren hinterlassen. Bereits seit 2003 sinkt der Globalisierungsgrad für Deutschland. Von 73 Punkten in 2003 ging er bis 2014 auf 65,7 Punkte herunter. Dennoch gehört Deutschland zu den zehn Staaten, die am stärksten von der Globalisierung profitieren. Pro Jahr hat die voranschreitende Globalisierung zwischen 1990 und 2014 das BIP durchschnittlich um 1.130 Euro pro Kopf erhöht "Deutschland profitiert wie kaum ein anderer Staat von der Vernetzung und zeigt, dass Globalisierung nicht zu einem Wettrennen um die billigsten Arbeitsplätze verkommen muss. Deutschland sollte deshalb als gutes Beispiel vorangehen, um für ein weiteres Zusammenwachsen zu werben", so Aart De Geus.


Japan profitiert am meisten von voranschreitender Globalisierung

Im internationalen Vergleich haben wohlhabende Industriestaaten am meisten von der Globalisierung profitiert. Bei dem Spitzenreiter Japan wuchs das BIP pro Einwohner globalisierungsbedingt durchschnittlich um 1.470 Euro pro Jahr. Die Gründe dafür sehen die Autoren vor allem in gestiegenen japanischen Direktinvestitionen im Ausland und einem erhöhten Außenhandel im Dienstleistungsbereich. In der Schweiz (1.360 Euro), Finnland (1.340 Euro) und Dänemark (1.210 Euro) waren die Zuwächse ähnlich hoch.


Schwellenländer bilden das Schlusslicht

Am geringsten sind die globalisierungsbedingten Gewinne in den sogenannten BRIC-Staaten. Brasilien, Russland, China und Schlusslicht Indien konnten gemessen am BIP insgesamt zwar von der Globalisierung profitieren, aber in deutlich geringerem Maße als die Industriestaaten. Die Zuwächse schwanken hier zwischen 120 Euro durchschnittlichem BIP-Zuwachs pro Kopf und Jahr (Brasilien) und 20 Euro (Indien). Laut Studienleiter und Wirtschaftsexperte Thieß Petersen liegt das schlechte Abschneiden der Schwellenländer zum Teil an bestehenden Handelsrestriktionen, aber auch an den makroökonomischen Voraussetzungen: "Je niedriger das Ausgangsniveau des BIP, desto geringer fallen auch die absoluten Zuwächse aus. Außerdem gilt: Je später die Globalisierung in einem Land eingesetzt hat, desto kürzer ist auch der Zeitraum, um mögliche Globalisierungsgewinne zu realisieren", so Petersen.


Experten der Bertelsmann Stiftung fordern neue Wachstumsimpulse

Um die ins Stocken geratene Globalisierung wieder anzukurbeln, empfehlen die Experten der Bertelsmann Stiftung eine bessere Integration der Schwellen- und Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft. Gerade diese Länder haben noch große Globalisierungspotenziale und könnten damit entsprechend hohe globalisierungsbedingte Wachstumseffekte generieren. Dafür ist es wichtig, dass die Industriestaaten ihre Märkte für Produkte aus weniger entwickelten Ländern öffnen, ihre Subventionen für Agrarprodukte reduzieren und Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. So können Schwellenländer die notwendige Infrastruktur, Bildungsmaßnahmen und Produktionsanlagen finanzieren.


Zusatzinformationen

Im Rahmen des Globalisierungsreports werden Globalisierungsfortschritte anhand des sogenannten "Globalisierungsindex" erhoben, der sich eng an den KOF-Globalisierungsindex der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich anlehnt. Dieser enthält neben Indikatoren zur wirtschaftlichen Globalisierung auch Aspekte sozialer Globalisierung (Tourismus, Migration) und politischer Globalisierung (institutionalisierte Verflechtung, Außenbeziehungen etc.). Der im Globalisierungsreport verwendete Index übernimmt die Teilindizes für die Bereiche Soziales und Politik vom KOF-Globalisierungsindex, gewichtet sie aber geringer. Der Teilindex Wirtschaft berücksichtigt zum einen Transaktionsgrößen, etwa zu Handel oder Investitionen, und zum anderen Transaktionsbeschränkungen, etwa Zölle, Steuern oder Kapitalkontrollen. Aus den Daten lässt sich für jedes Land und jedes Jahr ein Globalisierungsindex entwickeln, der Werte zwischen 0 und 100 annehmen kann. Dabei gilt: Je höher die Ausprägung des Indexes ist, desto größer ist die Verflechtung dieses Landes mit den anderen Ländern der Welt. Im "Globalisierungsreport 2014" wurde untersucht, wie stark 42 Industrie- und Schwellenländer von der voranschreitenden Globalisierung zwischen 1990 und 2011 profitierten. Im "Globalisierungsreport 2016" wird diese Untersuchung auf den Zeitraum 1990 bis 2014 ausgeweitet. Im ersten Report führte der Zuwachs des Globalisierungsindexwertes um einen Punkt zu einer Zunahme der Wachstumsrate des realen BIP je Einwohner um 0,35 Prozentpunkte. Nun liegt der entsprechende BIP-Zuwachs bei 0,31 Prozentpunkten.


Weitere Informationen unter:
http://www.bertelsmann-stiftung.de
www.ged-project.de.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution605

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Bertelsmann Stiftung, Benjamin Stappenbeck, 01.09.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2016

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