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REDE/431: Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem DGB-Bundeskongreß, 16.05.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem DGB-Bundeskongress am 16. Mai 2010


Sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender, lieber Michael Sommer,
sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, lieber Herr Wowereit,
sehr geehrte Delegierte,
sehr geehrte Gäste,
meine Damen und Herren,

ich freue mich, bei der Eröffnung des diesjährigen Bundeskongresses des DGB dabei zu sein. Ich bin sehr gerne hierher gekommen - nicht nur, weil Sie diese Veranstaltung unter das Motto des Kampfs gegen Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus gesetzt haben, was ich ausgesprochen wichtig finde. Ich kann Ihnen, Herr Sommer, nur zustimmen: Zivilcourage ist an allen Stellen gefragt: In der Politik, in den Betrieben, bei den Gerichten und natürlich auch im Rahmen des Gesetzes. Die Tendenzen in Europa, die Sie genannt haben, sind besorgniserregend. Es ist aber auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das nicht nur in Europa, sondern auch in unserem eigenen Land so ist.

Deshalb möchte ich all denen danken, die durch Projekte und durch Initiativen dazu beitragen, dass Rechtsextremismus und Extremismus jeder Form in unserem Land keine Chance haben. Die beiden Eingangsbeiträge haben uns ja gezeigt, mit wie viel Enthusiasmus viele, viele Menschen in unserem Land dagegen auftreten. Deshalb ist es richtig, dass Sie das auch unterstützen.

Meine Damen und Herren, seit meinem letzten Besuch beim DGB-Kongress im Jahre 2006 hat sich unglaublich viel ereignet. Vieles von dem hatten wir uns alle, so denke ich, nicht vorstellen können. Die politischen Diskussionen werden auch in diesen Tagen weiter davon beherrscht, was die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise uns auferlegt.

Ich blicke noch einmal zurück: Die ersten Warnzeichen gab es im Sommer des Jahres 2007 mit den Schwierigkeiten der IKB. Danach gab es weltweit eine Vielzahl von Schwierigkeiten bei Banken - mit dem Kulminationspunkt im Herbst 2008. Wir haben dann einen dramatischen Einbruch der Weltwirtschaft, der Realwirtschaft erlebt - bei uns minus fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. So etwas hat es in den 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland nicht annähernd gegeben. Den schwersten Wirtschaftseinbruch vor dieser Krise gab es in den 1970er Jahren mit minus 0,9 Prozent. Noch einmal zur Erinnerung: Im Jahre 2009 waren es minus 5 Prozent.

Das Ganze hat sich jetzt ausgeweitet in eine Krise auch von Staaten und leider eben auch in Spekulationen gegen den Euro. Deshalb, Herr Sommer, ist die Frage der Menschen, was wir denn tun, um das einzulösen, was ich immer und immer wieder gesagt habe - wir wollen alles daransetzen, dass sich eine solche Krise nie wiederholen kann -, mehr als berechtigt.

Dabei stellt sich zuallererst natürlich die Aufgabe, dass wir fragen: Was können wir bei uns zu Hause, bei uns im eigenen Land tun? Da haben wir einiges gemacht, insbesondere bei den Vergütungssystemen. Die Bundesaufsicht für Finanzdienstleistungen hat in der Frage der Vergütungen - und zwar nicht nur bei den Vorständen der Banken, die ja oft im Visier sind, sondern bei allen in den Banken - längerfristige Regularien festgelegt. Man darf Boni nicht sofort bekommen, man muss Erfolg nachweisen. Wir haben auch Beschränkungen eingesetzt.

Wir haben in der Europäischen Union die Finanzmarktaufsicht gestärkt. Aber dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. An diesem Beispiel möchte ich Ihnen darstellen, wo manchmal die Schwierigkeiten liegen. Die EU-Kommission hat entsprechend den G20-Beschlüssen einen Vorschlag zu einer Neuregelung der Finanzmarktaufsicht gemacht und hat diesen Vorschlag den Staats- und Regierungschefs und den Finanzministern mitgeteilt. Dabei hat auch Deutschland sehr stark darauf Wert gelegt, dass unsere Märkte und unsere Banken auch von uns sehr stark beaufsichtigt werden. Das heißt, dass wir nicht zu viel von dieser Zuständigkeit an Europa abgeben. Man kann also sagen: Wir haben den Vorschlag der Kommission abgeschwächt. Jetzt hat das Europäische Parlament gesagt: Das darf aber auf keinen Fall passieren, wir müssen eher den Vorschlag der Kommission noch stärken.

Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir nicht in einen monatelangen Prozess der Vermittlung kommen, der dann in weiteren Lesungen im Europäischen Parlament mündet, sodass wir ewig und drei Tage keine europäische Finanzmarktaufsicht bekommen. Es geht also darum, dass nationale Parlamente und Europäisches Parlament gleichermaßen hieran arbeiten. Ich werde mich jetzt dafür einsetzen, dass sich das beschleunigt. Denn nur dann kann die Richtlinie über die verbesserte Aufsicht über die Ratingagenturen auch in Kraft treten. Die Ratingagenturen brauchen eine solche neue Aufsicht. Aber die muss in Europa erst einmal beschlossen werden.

Jetzt werden wir in der Europäischen Union - das wurde am Freitag ein Stück weit im Allgemeinen Rat behandelt und wird am Dienstag in der Finanzministerkonferenz endlich umgesetzt - die neue Regulierung der Hedgefonds beschließen. Leider werden wir dabei Großbritannien überstimmen müssen. Das erwähne ich nur, um einmal deutlich zu machen, wie schwierig das zum Teil ist; das geht aber mit Mehrheit. Ich glaube, wir sind uns einig, dass es an der Zeit ist, dass das in Europa endlich gemacht wird.

Ich mahne - der französische Präsident und ich haben uns jetzt auch in zwei Briefen an die Kommission gewandt -, dass wir dringend eine Regulierung für die so genannten Derivate und für die Leerverkäufe brauchen. Das eilt, denn hier brauchen wir endlich mehr Transparenz. Ich glaube, in bestimmtem Umfang ist auch ein Verbot von Leerverkäufen dringend notwendig. Wir können das immer nur zeitweise zu Hause allein machen. Ansonsten ist das eine europäische Angelegenheit. Ich kann da nicht mehr und nicht weniger tun; aber das, was ich tue, tue ich mit aller Entschlossenheit, denn hier muss endlich etwas auf den Tisch kommen.

All das, was wir tun, wird aber nur bedingt erfolgreich sein, wenn es nicht auch in den Vereinigten Staaten von Amerika umgesetzt wird. Sie können darauf vertrauen, Herr Sommer, dass ich nicht auf die Cayman Islands warten werde. Aber die Amerikaner müssen diese Finanzmarktpakete aus den G20-Beschlüssen auch umsetzen. Wir können Derivate regulieren und wir können Leerverkäufe verbieten, aber wenn in Chicago oder in New York weiter spekuliert wird, dann wird das leider keinen Wert haben. Deshalb ist das ganze Problem eines, das nach internationaler Kooperation ruft. Diese internationale Kooperation - auch darum will ich nicht herumreden - ist mühselig. Sie war in der Stunde der Not stark, aber sie droht jetzt zu verlangsamen, weil ja alles wieder scheinbar einigermaßen läuft. Deshalb werden wir auch in Kanada Druck machen müssen, damit wir da vorankommen.

Die Gewerkschaften spielen in diesem Zusammenhang inzwischen eine sehr wichtige Rolle. Ich darf Ihren Vorsitzenden, Michael Sommer, hier einmal loben, weil er eine ganz herausragende Rolle dabei spielt. Sonst gibt es ja Lob und Kritik im Zusammenhang mit nationaler Tätigkeit, hier geht es aber um den internationalen Bereich. Hier darf ich Ihnen sagen - was Sie ja vielleicht nicht jeden Tag erleben -, dass ohne Michael Sommer die Stimme der internationalen Gewerkschaften in diesem G20-Prozess nicht so stark wäre, wie sie es ist. Und das ist auch gut so, meine Damen und Herren.

Jetzt komme ich zu der Frage: Wie können wir die Verursacher der Krise mit heranziehen? Das ist ja eine Frage, die die Menschen wirklich beschäftigt. Da habe ich eine unterschiedliche Meinung zu Michael Sommer, denn ich sage: Die Bankenabgabe ist richtig. Sie wird im Übrigen auch international vom Internationalen Währungsfonds empfohlen. Sie sollte nicht das einzige Instrument bleiben. Aber eine Abgabe der Banken ist richtig, weil wir einen Fonds aufbauen müssen, um ihn möglichen Krisen in der Zukunft entgegensetzen zu können, damit nicht wieder der Steuerzahler zahlen muss. Das ist die Aufgabe einer solchen Bankenabgabe.

Jetzt sagen Sie wahrscheinlich: Das ist zu wenig. Das ist klar, da habe ich auch erst gestutzt. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben jetzt drei Dinge zu schaffen.

Erstens. Die G20-Staaten haben beschlossen: Die Eigenkapitalanteile der Banken müssen erhöht werden, damit sie krisenfester sind. Das ist richtig und wichtig. Das wird zum großen Teil auch schon umgesetzt.

Zweitens. Die Banken müssen Kredite vergeben können. Ich glaube, das ist in unser aller Interesse. Wir können nicht in der einen Veranstaltung nur von einer Kreditklemme sprechen und in einer zweiten Veranstaltung nur von einer Bankenabgabe.

Drittens. Das deutsche Bankensystem ist ein ganz spezielles. Schauen wir es uns einmal an. Wir haben zum Beispiel die Deutsche Bank, die eine Bankenabgabe gut zahlen kann. Dann haben wir die Commerzbank. Diese gehört in wesentlichen Teilen der Bundesrepublik Deutschland, also dem Steuerzahler. Dann haben wir die HRE. Diese gehört ganz dem Steuerzahler. Dann haben wir noch wenige kleinere Banken. Des Weiteren haben wir Volks- und Raiffeisenbanken sowie Sparkassen. Diese haben sich super in der Krise verhalten, sie stellen kein systemisches Risiko dar und denen können wir auch keine Bankenabgabe abnehmen. Das ist die Realität in Deutschland.

Deshalb glaube ich, dass es zwar wichtig ist, dass wir in Deutschland eine Bankenabgabe einführen, dass es aber umso wichtiger ist, dass Bankenabgaben auch dort eingeführt werden, wo besonders viele Banken sind, nämlich an der Wall Street und in der City of London. Das ist das viel Wichtigere. Deshalb wünsche ich dem amerikanischen Präsidenten, dass er die nötigen Mehrheiten im Abgeordnetenhaus und im Senat bekommt, damit endlich auch dort die Finanzmarktpakete verabschiedet werden können. Wir unterstützen Barack Obama jedenfalls in seinem Ansinnen, denn nur so kommen wir wirklich voran.

Jetzt zu der Frage der Finanztransaktionssteuer. Ich habe immer wieder gesagt: Ich habe das Thema mit dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück in die G20-Diskussion eingebracht. Dadurch, dass wir das so vehement eingebracht haben, haben wir erreicht, dass der Internationale Währungsfonds beauftragt wurde, dazu Vorschläge zu machen. Er hat jetzt zwei Vorschläge gemacht. Der erste Vorschlag war die Bankenabgabe. Der zweite Vorschlag befasst sich damit, dass die Boni, die Gehälter und die Gewinne der Banken besteuert werden sollen. Das ist also eine so genannte Finanzaktivitätensteuer.

Der IWF sagt uns aber, dass er von einer Finanztransaktionssteuer nicht so viel hält, und zwar weil sie nicht nur die Banken im Auge hat, sondern weil sie alle Unternehmen - zum Beispiel auch die DAX-Unternehmen in Deutschland - mit im Auge hat, die an den Finanzmärkten arbeiten. Man kann darüber ja unterschiedlicher Meinung sein. Ich sage nur, dass man sich auch überlegen muss: Was kannst du international auch wirklich durchsetzen? Ich kann mühelos für die Finanztransaktionssteuer sein; das kostet mich gar nichts. Sie würden mich dann in vier Jahren aber fragen: Was ist denn nun daraus geworden, was haben Sie denn erreicht? Ich muss Ihnen heute sagen: Wenn der Internationale Währungsfonds eine Finanzaktivitätensteuer fordert und ich eine Chance habe, diese durchzusetzen, aber die andere wahrscheinlich nicht durchsetzbar ist, dann werde ich mich für das, das ich durchsetzen kann, entscheiden. Auch da will ich mit offenen Karten spielen. So ist die Welt.

Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Michael Sommer fährt demnächst ja wieder zu den internationalen Gewerkschaftstagungen. Wenn die G20-Gewerkschaften dann gemeinsam die jeweiligen Staats- und Regierungschefs dazu bringen, einhellig eine Finanztransaktionssteuer zu fordern, dann werde ich mich dem nicht entgegenstellen.

In der letzten Woche haben wir ja erlebt - das ist ein sehr ernsthafter, ich würde sogar sagen, für uns alle vor einiger Zeit fast noch unvorstellbarer Vorgang gewesen -, wie gegen den Euro, unsere Währung, spekuliert wurde. An dieser Stelle möchte ich zwei Dinge dazu sagen. Erstens ruft das nach mehr Regulierung, so wie ich es dargestellt habe. Zweitens ist das aber leider nicht die ganze Wahrheit. Leider ist es auch so, dass diese Spekulation nur möglich war und ist, weil es unter den Mitgliedstaaten des Euro erhebliche Unterschiede in der wirtschaftlichen Stärke und in der jeweiligen Verschuldung gibt. Wenn man dieses Problem einfach ignoriert, dann wird man keine Ruhe in die Sache bringen. Deshalb war es richtig, dass wir jetzt einen Rettungsschirm aufgespannt haben. Darüber werden wir auch noch zu beraten haben. Wir haben damit aber nicht mehr gemacht, als dass wir uns Zeit gekauft haben, die Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit und in den Haushaltsdefiziten der einzelnen Euroländer in Ordnung zu bringen.

Meine Damen und Herren, das, was in Griechenland passiert ist, nämlich dass man über Jahre Statistiken gefälscht hat, ist völlig inakzeptabel. Daher haben wir jetzt auch gesagt: Eurostat muss mehr Einblickmöglichkeiten bekommen. Wenn jetzt aber mehrere Länder in der Eurozone aufgrund ihres hohen Defizits von ungefähr zehn Prozent - oder in einigen Fällen auch etwas weniger - so bewertet werden, dass sie diese Schulden in absehbarer Zeit nicht werden zurückzahlen können, weil dazu ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht ausreicht, dann ist das ein Alarmsignal und wirkt sich aus auf die Frage, wie Europa insgesamt gesehen wird.

In diesem Zusammenhang muss ich einen Dissens hier ganz klar benennen: Ich glaube, dass die Schuldenbremse richtig ist. Ich glaube das deshalb, weil wir in der Zukunft vor noch größeren Problemen stehen werden, als wir sie schon heute haben. Wir werden mit einer Veränderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft konfrontiert, die in unserem Jahrzehnt, also im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, stärker als im letzten Jahrzehnt sein wird. Danach wird diese Veränderung sogar noch stärker sein. Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir mehr ältere Menschen mit einer höheren Lebenserwartung und weniger jüngere Menschen haben werden. Und es wird geschaut werden, welche Schlussfolgerung daraus für die Zukunft unseres Landes gezogen wird.

Nun kann man sagen: Die Märkte sind irrational, denen sollte man nicht glauben. Es wird aber kein Weg daran vorbeiführen, dass die Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland auch davon abhängen wird, wie wir Zukunft gestalten können. Jetzt haben wir einen Haushalt, der, was besonders der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise geschuldet ist - einen Umfang von ungefähr 320 Milliarden Euro hat, wovon 80 Milliarden Euro Neuverschuldung sind. Zu diesem Haushalt in diesem Jahr stehe ich vollkommen. Wer aber glaubt, dass er mit einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung einen solchen Pfad weitergehen kann, der raubt sich die Zukunftsfähigkeit.

Deshalb haben wir mit der Schuldenbremse ein Instrumentarium im Grundgesetz, das uns zwingt - ja, ich sage: das uns zwingt; und das wird nicht einfach -, einen Weg zu gehen, auf dem wir ab 2016 im Bund nur noch 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Neuverschuldung machen können. Das heißt ja nicht, dass wir irgendeinen Cent der Schulden, die wir schon gemacht haben, abbauen, sondern nur, dass wir nicht zusätzlich noch neue Schulden aufnehmen. Zu der Schuldenbremse gehört auch, dass die Bundesländer ab dem Jahr 2020 keine Neuverschuldung mehr haben dürfen. Ich weiß, dass das schwierig wird. Ich weiß auch, dass das die Frage der Gerechtigkeit beim Sparen unglaublich auf die Tagesordnung bringt. Ich weiß aber auch: Wenn wir, wie im jetzigen Bundeshaushalt, über 50 Prozent Sozialausgaben und noch einmal 25 Prozent Personalkosten und Zinszahlungen haben, werden wir damit die Zukunft nicht bauen können. Das ist die schwierige Aufgabe, vor der wir alle gemeinsam stehen.

An dieser Stelle will ich ein herzliches Dankeschön sagen. Es ist richtig, Herr Sommer: In der Wirtschaftskrise haben die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern in herausragender Weise zusammengearbeitet. Wäre das nicht so gewesen, hätte die Politik überhaupt nicht agieren können. Es ist richtig, dass das die Stunde war, in der sich gezeigt hat: Die Mitbestimmung ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können, ein Pfund, das wir haben und das unsere Soziale Marktwirtschaft ausmacht - deshalb ein klares Bekenntnis dazu. Es ist ja fast umgekehrt wie im normalen Leben, denn hier muss man eigentlich sagen: Man sollte sich in den guten Zeiten erinnern, wer in den schlechten Zeiten zusammengestanden hat. Normalerweise ist es in den guten Zeiten ja leichter, zusammenzustehen, und in den schlechten Zeiten wird die Probe aufs Exempel gemacht. Hier war es genau umgekehrt. Es hat sich aber gezeigt: Das hat funktioniert.

Dieses Gut der Sozialen Marktwirtschaft müssen wir im Übrigen auch als Leitgedanken in die Globalisierung hineinbringen. Ansonsten werden alle Regeln nichts nützen, wenn das Denken im sozialen Ausgleich und im Miteinander nicht wirklich weltweit Kraft bekommt und so normal wird wie bei uns in Deutschland. Ich sage auch, dass das alles andere als ausgemacht ist. Denn es gibt viele internationale Tendenzen hin zur Ansicht "Wir machen so weiter, wie wir es immer gemacht haben", um dann in zehn Jahren vor einer Situation zu stehen, in der wir die nächste Krise haben. Das ist nicht die Politik dieser Bundesregierung - im Übrigen der gesamten Bundesregierung, wenn ich das einmal sagen darf. Sie können ja versuchen, uns auseinander zu dividieren, aber ich bin die Bundeskanzlerin einer christlich-liberalen Koalition und will das hier heute auch noch einmal deutlich sagen. So ist es - das hat der Wähler so gewollt. Der Wähler hat in Deutschland im Übrigen ziemlich häufig Gelegenheit, seine Meinung zu sagen.

Insofern wird das alles auch seinen guten Gang nehmen. Denn - und auch das sage ich - eine der Stärken unserer Sozialen Marktwirtschaft ist auch immer gewesen, dass wir selbst bei unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat bei den großen Reformprojekten - ob das bei der Rente war, ob das bei der Gesundheit war - über Jahrzehnte zusammengestanden haben. Ich glaube, dieser Pfad hat Deutschland nicht schwächer, sondern im Hinblick auf die langfristige Stabilität sogar stärker gemacht.

Also, meine Damen und Herren, die Schuldenbremse ist etwas, was uns mahnt, nicht weiter über unsere Verhältnisse zu leben. Ich habe immer wieder den Satz gesagt - der ist schwer zu verwirklichen; das will ich ganz eindeutig sagen: Wir wollen aus der Krise stärker herauskommen, als wir in sie hineingegangen sind. Deshalb sage ich auch: Trotz allen Sparens müssen wir weiter Zukunft gestalten. Deshalb wird zum Beispiel das Betreuungsprogramm für unter dreijährige Kinder in Deutschland umgesetzt, denn das ist dringend notwendig - auch mit Blick auf den demografischen Wandel und auf die Frage, wie wir mit Kindern umgehen.

Deshalb werden auch die Themen Bildung und Forschung Schwerpunkte dieser Bundesregierung und der nächsten Jahre bleiben - weil es gar nicht anders geht. Wir werden immer mehr junge Menschen mit Migrationshintergrund haben und wir werden immer mehr dafür sorgen müssen, dass uns keiner verlorengeht. Wir haben zum Beispiel miteinander vereinbart - Herr Wowereit weiß das -, dass wir die Zahl der Schulabbrecher halbieren wollen und dass wir die jungen Menschen ausbildungsfähig machen wollen. Es ist auf Dauer auch nicht einzusehen, dass die Kinder aus der Schule kommen und die Beitragszahler der Bundesagentur für Arbeit dann als erstes für die Schulabschlüsse sorgen müssen. Denn wir brauchen das Geld wirklich an anderer Stelle. Auch das muss sich verändern.

Wir werden außerdem etwas für die Kommunen tun. Ich bin ganz Ihrer Meinung: Wenn es einer Strukturreform bedarf, dann bedarf es einer für die Kommunen. Deshalb hat Wolfgang Schäuble die Kommission zur Neuordnung der kommunalen Finanzen eingerichtet. Aber meine Bitte ist auch - Herr Wowereit ist ja Mitglied des Deutschen Städtetages -, dass wir eine Antwort für alle Städte finden und dass nicht wenige Städte dann wieder einen Konsens blockieren. Meine Bitte ist auch, dass die kommunalen Spitzenverbände versuchen, eine gemeinsame Meinung zu haben, denn dann verhandelt es sich viel besser mit der Bundesregierung und mit den Bundesländern. Das sind die Aufgaben, die sich stellen.

Die Kommunen sind in einer schwierigen Situation. Ich habe mir einmal angeschaut, was in den letzten zehn oder zwölf Jahren bei der Ausgabenstruktur der Kommunen passiert ist. Es ist so, dass die Ausgaben für Sozialleistungen massiv gestiegen sind und dass zum Beispiel die Ausgaben für Bauleistungen dramatisch gefallen sind. Auch da leben wir über unsere Verhältnisse und auch da müssen wir schauen, wie wir das hinbekommen. Über den Bundeshaushalt habe ich vorhin schon gesprochen: Auch wir haben erhebliche Defizite. Das heißt, wir können den Kommunen nicht einfach Geld geben und glauben, dass dann alles gut wird. Wir müssen aber dafür Sorge tragen, dass Kommunen auf Dauer eine Perspektive haben, ohne dass sie Jahr für Jahr mehr Schulden machen und in immer neue Nothaushalte kommen. Denn wenn kommunal ehrenamtlich Tätige überhaupt nichts mehr zu entscheiden haben und nur noch Mangel zu verwalten haben, dann verändert das die Bundesrepublik als ganzes. Ich weiß das, deshalb werden wir da alle unsere Kraft einsetzen.

Jetzt ist die Frage: Wie können wir auch in Zukunft miteinander arbeiten? Ich glaube, in diesem Zusammenhang ist eine wichtige Anregung des DGB gewesen, dass die Bundesregierung, die Wirtschaft und Forschungsinstitutionen eine Konferenz zur Arbeit der Zukunft - eine riesige Herausforderung - veranstalten. Ich sage aber auch: Wir müssen alles dafür tun, dass wir bereits die Arbeit von heute möglichst gut und mit möglichst geringer Arbeitslosigkeit gestalten können.

Dabei hat sich erwiesen: Das Instrument der Kurzarbeit ist herausragend, es hat uns wirklich Brücken in eine Zeit nach der Krise gebaut. Es sieht auch so aus, dass die so genannte Abwrackprämie - viel gescholten; viele Theorien wurden darüber entwickelt - ihre Wirkung genau so, wie es angedacht war, entfaltet hat. Denn die Exporte entwickeln sich jetzt ganz gut, während die Inlandsnachfrage in diesem Jahr natürlich etwas geringer ist. Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, was es da für Theorien darüber gab, warum das alles ganz falsch sei, dann kann man sagen: Die Maßnahme ist absolut richtig gewesen.

Wir haben jetzt aus gutem Grund das Instrument der Kurzarbeit fortentwickelt und weiter verlängert. Die Kurzarbeit nimmt ab, aber sie ist in vielen Bereichen immer noch notwendig. Ich bedanke mich bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern, bei den Betriebsräten, die dafür Sorge getragen haben, dass von diesem Instrument verantwortungsvoll Gebrauch gemacht wurde. Ich bedanke mich bei all denen, die in den Betrieben - auch als Betriebsräte - dafür gesorgt haben, dass wir viele Flexibilisierungsinstrumente haben, wie zum Beispiel die Arbeitszeitkonten. Hier wird zum Teil ein großes Risiko eingegangen, indem man bei leeren Konten sozusagen sogar noch einen Wechsel auf die Zukunft nimmt. Ich bedanke mich bei den Tarifpartnern, die zum Teil durch sehr, sehr verantwortungsvolle Tarifabschlüsse gezeigt haben, dass die Rettung und die Sicherung des Arbeitsplatzes im Augenblick das Allerwichtigste ist. Zur Mitbestimmung habe ich bereits gesprochen. Sie können also auch darauf setzen, dass wir die Frage der Tarifeinheit hoch werten und dass wir uns die Rechtsprechung dazu natürlich genau anschauen werden.

Meine Damen und Herren, um ein Thema will ich nicht herumreden. Das ist das Thema, das wir schon vor vier Jahren hatten, nämlich die Frage der flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhne. Ich glaube, dass das nicht die richtige Antwort ist. Ich glaube aber auf der anderen Seite, dass wir alles dafür tun müssen, dass die Tarifautonomie in Deutschland gestärkt wird. Sie ist für mich Ausdruck der Sozialen Marktwirtschaft. Deshalb haben wir auch an den Stellen, an denen sich die Tarifpartner auf branchenspezifische Mindestlöhne geeinigt haben - der letzte anstehende Bereich werden die Pflegeberufe sein -, durch Entscheidungen der Bundesregierung sehr deutlich gemacht, dass wir dann, wenn die Tarifpartner sie gemeinsam ausgehandelt haben, auch solche branchenspezifischen Mindestlöhne unterstützen. Ich füge hinzu: Ein besonderes Augenmerk müssen wir auf die Phase legen, in der die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union auftritt, denn dann können natürlich noch Verwerfungen auftreten, die wir heute so noch nicht haben.

Ich glaube ansonsten aber, dass ein einheitlicher flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn die Tarifautonomie schwächen würde. Darüber haben wir vielerlei Diskussionen geführt. Deshalb werden wir darin auch heute nicht einig werden. Was ich aber sagen kann, ist, dass ich die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen gebeten habe, mir eine Tarifkarte mit den häufigsten Berufen zu machen, um zu schauen: Wo überall gibt es heute weiße Flecken? Denn auch ich muss erkennen bzw. habe schon seit langem erkannt, dass gerade in den Dienstleistungsberufen die tariflichen Abschlüsse längst nicht mehr so flächendeckend sind, wie wir das aus der klassischen Industrie gewöhnt sind. Da muss gehandelt werden, meine Damen und Herren, denn sonst wäre das eine Unterminierung der Tarifautonomie.

Ein Thema, das Ihnen sehr am Herzen liegt, ist der Arbeitnehmerdatenschutz. Hierzu hat der Bundesinnenminister jetzt erste Eckpunkte vorgelegt. Ich glaube, darüber wird es eine heiße Diskussion geben. Aber dass wir ein entsprechendes Gesetz brauchen, ist unbestritten. Die Bundesregierung wird auf diesem Gebiet auch weiter handeln.

Meine Damen und Herren, ich will das nicht im Sinne eines Kassandra-Rufers sagen, aber ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Vor uns liegen sehr, sehr schwierige Jahre. Sie dürfen eines mitnehmen: Bei allen strittigen Entscheidungen werde ich den Gesprächsfaden zu den Gewerkschaften nicht nur aufrechterhalten, sondern immer intensiv suchen. Bei allem, was wir zu entscheiden haben, ist vollkommen klar: Es wird in einer Weise geschehen, die das Miteinander und den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördert und voranbringt. Das wird nicht immer einfach sein. Ich glaube, unser gemeinsames Hauptziel muss sein, möglichst vielen Menschen die Chancen auf Teilhabe und damit auf Arbeit zu eröffnen.

Wenn ich mir die Frage anschaue, was man im Bundeshaushalt sparen kann, dann muss ich sagen, dass es natürlich das Allereinfachste wäre, wenn wir bei den 40 Milliarden Euro sparen könnten, die wir für Hartz IV, also für das Arbeitslosengeld II ausgeben. Denn wenn es uns gelänge, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, dann hätten wir weniger Ausgaben und dann hätten auch die Kommunen bei den Kosten für die Unterkunft weniger Ausgaben. Deshalb hat Ursula von der Leyen jetzt für drei Gruppen Schwerpunkte gesetzt, die, wie ich glaube, auch von Ihnen mitgetragen werden.

Die erste dieser Gruppen sind die jungen Menschen. Frau von der Leyen hat sich das einmal angeschaut und festgestellt: In den Niederlanden bekommen die jungen Menschen in ganz kurzer Zeit ein Angebot, damit sie nicht aus dem Arbeitsmarkt herausfallen. Wir haben gesagt: Als nächsten Schritt versprechen wir, dass jeder unter 25-Jährige innerhalb von sechs Wochen ein Angebot bekommt - entweder für Arbeit, für Qualifizierung oder für eine Beschäftigung innerhalb des Arbeitsmarktsystems.

Zweitens. Wir werden uns beschleunigt um die vielen langzeitarbeitslosen Alleinerziehenden kümmern. Viele von ihnen würden gerne arbeiten - Sie wissen das -, können es aber nicht, weil sie keine Kinderbetreuung haben. Deshalb wird neben dem Ausbau der Kleinstkinderbetreuung, wie ihn die Bundesregierung mit den Ländern ja vereinbart hat, die Bundesagentur bevorzugt Tagesmütter bereitstellen, die dann die Betreuung der Kinder übernehmen können, damit die alleinerziehenden Arbeitslosen in das Erwerbsleben eintreten können.

Der dritte Punkt schließt an eine kritische Diskussion an, die wir hier auch schon geführt haben: Das ist die Frage der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nur wenn es uns gelingt, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, werden wir den demografischen Wandel in den Griff bekommen. Ich weiß, dass ich mich hier auf vermintem Gebiet bewege, aber schauen Sie: Wir haben die Rente mit 67. Sie finden das falsch, aber Sie können sich angesichts der demografischen Entwicklung auch nicht ganz davor wegdrücken, dass wir ein Problem haben und dass wir die jüngeren Leute nicht immer mehr belasten können.

Jetzt ist eines der Argumente, die Sie mit Recht immer wieder vorbringen: Was sollen Menschen, die mit 55, 56 oder 57 in hohem Maße keine Arbeit mehr finden, von der Rente mit 67 denken, außer dass man ihnen die Rente kürzen will? Das verstehe ich ja. Wenn nun aber auf der einen Seite die Rente mit 67 durch die demografische Veränderung nicht einfach wegdiskutiert werden kann und es auf der anderen Seite richtig ist, dass man, wenn man zu früh aus dem Arbeitsleben ausscheiden muss, keine Akzeptanz dafür finden wird, dann gibt es doch nur eine Möglichkeit: nämlich die Möglichkeit, auch älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu geben. Dagegen sind Sie doch nicht, meine Damen und Herren, oder? Nein, dagegen können Sie nicht sein.

In diesem Sinne möchte ich sagen: Ich bin doch hier, um mit Ihnen über die ehrlichen Gegebenheiten zu reden. Es war schöner, als Norbert Blüm hier noch stand und gesagt hat: Die Rente ist sicher. Aber es war dann hinterher nicht schön, als man gemerkt hat, dass es nicht so einfach ist. Was ich möchte, ist, dass Deutschland einen Weg in die Zukunft geht, auf dem wir uns vor den Wahrheiten nicht drücken und trotzdem den sozialen Zusammenhalt erhalten.

Ich wünsche Ihnen gute Beratungstage und alles Gute. Danke dafür, dass ich hier sein konnte.


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Quelle:
Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem DGB-Bundeskongreß am 16. Mai 2010
http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/05/2010-05-16-dgb.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2010