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STEUER/1152: Jenseits des Steuerwettbewerbs (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 127/März 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Jenseits des Steuerwettbewerbs
Wie Regierungen Staatseinnahmen sichern können

Von Nelly Exbrayat


Mehr Wettbewerb unter Staaten sollte zu mehr Effizienz und niedrigeren Preisen und Steuern für die Bürger führen - könnte man meinen. Doch beim Steuerwettbewerb, der sich vorrangig auf die Besteuerung von Unternehmen bezieht, sieht das anders aus. Sinken nämlich wegen niedriger Unternehmensteuersätze die Steuereinnahmen insgesamt, haben die Bürger keinen Vorteil davon. Im Gegenteil: Der Staat belastet nun die Bürger anstelle der Unternehmen mit höheren Steuern und Gebühren. Oder er reduziert seine öffentlichen Ausgaben, wenn er sich nicht noch weiter verschulden will.


Die zunehmende Entwicklung hin zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum stellt die nationalstaatliche Politik vor neue Herausforderungen. Dabei ist der Steuerwettbewerb eines der meistdiskutierten Themen. Nach der These des Steuersenkungswettlaufs ("race to the bottom") führt die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen und Arbeitnehmern zu einer höheren Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Das verleitet Staaten dazu, sich gegenseitig Konkurrenz mit niedrigen Körperschaftsteuersätzen zu machen, um Kapital ins Land zu ziehen.

Sieht man sich die Entwicklung der Körperschaftsteuer in entwickelten Ländern in den vergangenen drei Jahrzehnten an, scheint die Angst vor Steuerwettbewerb begründet: In der Zeit von 1982 bis 2005 sanken die Steuersätze in OECD-Ländern im Durchschnitt um etwa ein Drittel. Dabei gibt es allerdings große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Im Jahr 2006 lag beispielsweise der durchschnittliche Körperschaftsteuersatz der G7-Staaten mit 36,5 Prozent um 10 Prozentpunkte höher als der Durchschnittssatz der 27 EU-Staaten mit 25,9 Prozent. Ähnliches gilt für die Situation innerhalb der Europäischen Union, wo 2006 die 15 alten Mitgliedstaaten mit 29,4 Prozent einen im Schnitt 10 Punkte höheren Steuersatz aufwiesen als die zwölf seit 2004 neu aufgenommenen Länder (Durchschnitt: 19,33 Prozent).

Diese Zahlen deuten darauf hin, dass nicht alle Länder gleichermaßen dem Steuerwettbewerb ausgesetzt sind. Was bestimmt also die Position eines Staates im Steuerwettbewerb? Und welche Möglichkeiten haben Länder, sich diesem Wettlauf zu entziehen?

Die wissenschaftliche Literatur zur Neuen Ökonomischen Geographie - deren prominentester Vertreter der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman ist - befasst sich mit diesen Fragen und bietet neue Lösungsansätze. Diese Literatur geht davon aus, dass sich wirtschaftliche Aktivitäten in Ballungszentren konzentrieren, was beispielsweise für die EU empirisch belegt ist. Daraus lässt sich schließen, dass es für Unternehmen vorteilhaft ist, sich mit anderen am selben Ort anzusiedeln, um gemeinsam Infrastruktur, Personal oder Lieferanten zu nutzen. Staatliche Steuerpolitik ist hier also nur eine Determinante, die Unternehmen bei ihrer Standortwahl beeinflusst. Je stärker der Vorteil durch Agglomeration ist, desto unempfindlicher reagieren ansiedlungswillige Firmen auf die Unternehmensteuer.

Dasselbe Prinzip gilt, wenn es um das Marktpotenzial eines großen Landes geht: Die Handelsvorteile, einen großen Markt direkt zu bedienen, können die Nachteile einer (höheren) Steuer wettmachen. Unter Berücksichtigung dieser Einsichten der Neuen Ökonomischen Geographie wird deutlich, dass in einer Welt mit unvollständiger Handelsfreiheit zwischen den Ländern und Agglomerationsräumen nicht alle Staaten gleichermaßen dem Steuerwettbewerb ausgesetzt sind. Dies wirft ein neues Licht auf die Debatte.

Es konnte bisher empirisch belegt werden, dass größere Länder trotz höherer Steuersätze attraktiv für mobiles Kapital - hier in Form von Unternehmensansiedlungen - sein konnten, denn Marktgröße und Agglomerationsvorteile entfalteten ihre Wirkung. Die Staatsseite kann außerdem die Attraktivität eines Standorts nicht nur mit Steuer-, sondern auch mit Subventionspolitik fördern. Eine WZB-Analyse zum Subventionswettbewerb zwischen Ländern, die sich in der Produktivität der Arbeitskräfte unterscheiden, zeigte: Firmen siedelten sich bevorzugt in einem Land mit höherer Produktivität an, auch wenn dieses Land niedrigere Subventionen bot. Offensichtlich ist also aus Firmensicht das Produktivitätsniveau für den Erfolg entscheidender als staatliche Subventionsanreize.

Eine weitere WZB-Studie untersuchte, wie es im Kontext des Steuerwettbewerbs um die Attraktivität von Ländern für Investoren mit Blick auf die Flexibilität des Arbeitsmarktes bestellt ist. Beim Vergleich eines Landes mit flexiblem Arbeitsmarkt mit einem Staat, in dem Gewerkschaften die Löhne bestimmen, zeigt sich, dass die Regierungen mit ihrer Steuerpolitik auf die unterschiedlichen Gegebenheiten reagieren. Die Regierung des zweiten Landes versucht nämlich, die mangelnde Attraktivität durch den regulierten Arbeitsmarkt mit niedrigeren Unternehmensteuern zu kompensieren. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch am Beispiel der Körperschaftsteuersenkung einiger Länder, als der Mindestlohn erhöht wurde. Dies war in Großbritannien 1998 der Fall, in den USA 1997 und 2007 und in zwei kanadischen Provinzen 2001 und 2003.

Nicht nur die Steuerfrage ist also relevant, auch andere Determinanten wie Produktivitätsniveau, Marktgröße und Arbeitsmarktflexibilität tragen zur Attraktivität eines Unternehmensstandorts bei. Kommen Firmen in den Genuss dieser Standortvorteile, sind sie deutlich unempfindlicher gegenüber Steuererhöhungen. Regierungen von Ländern mit diesen Merkmalen können sich daher in ihrer Steuer- und Subventionspolitik darauf einstellen, dass sie hier in einem weniger ausgeprägten Wettbewerb mit anderen Ländern stehen. Im Umkehrschluss wird der Wettbewerb von weniger begünstigten Ländern stärker, Firmenansiedlungen über Steuern und Subventionen anzuziehen.

In einer umfassenden WZB-Studie wurden diese Zusammenhänge zwischen Marktpotenzial, Handelsintegration und Unternehmensteuerpolitik erstmals für OECD-Staaten empirisch getestet. Wie erwartet, sind tatsächlich in Ländern mit großem Marktpotenzial die Steuersätze höher. Zugleich zeigt sich, dass nur zwischen wichtigen Handelspartnern eine signifikant schnelle und substanzielle Reaktion eines Partners bei einer Änderung der Steuersätze eines anderen zu beobachten ist. Und auch dann gibt es keine großen Anpassungsschritte in Richtung Steuerwettlauf, wie befürchtet wurde. Würde beispielsweise Frankreich als wichtiger Handelspartner Deutschlands seine Steuersätze effektiv um einen Prozentpunkt senken, würde Deutschland darauf mit einer Senkung von 0,053 Prozentpunkten reagieren. Andersherum würde Frankreich auf eine einprozentige Senkung der deutschen Unternehmensteuer seinerseits eine Reduzierung von 0,076 Prozentpunkten folgen lassen.

Führt nun eine derart asymmetrische Entwicklung im Steuerwettbewerb - wenig Wettbewerb für große Länder mit hoher Handelsintegration, massiver Wettbewerb für kleine Länder - im Gesamtzusammenhang zu Verwerfungen? Autoren wie Gianmarco Ottaviano und Tanguy van Ypersele haben analysiert, dass in einer Situation, in der Länder ihre Steuerpolitik nicht miteinander absprechen, Unternehmensaktivitäten ineffizient verteilt werden. Große Länder erheben demnach zu hohe, kleine Länder zu niedrige Steuern. Um dem entgegenzuwirken, hat die EU einen Reformvorschlag gemacht, der schädlichen Steuerwettbewerb vermeiden soll.


Die EU und der Steuerwettbewerb

In der EU als besonders gut integriertem Wirtschaftsraum wird den potenziell schädlichen Effekten des Steuerwettbewerbs besondere Aufmerksamkeit zuteil. Schon 1997 beschloss der EU-Ministerrat einen Verhaltenskodex, der eine nachteilige Steuerpolitik einzelner Mitgliedstaaten aufdecken sollte. Auch 2009 stand das Thema fairer Steuerwettbewerb auf der Agenda: Die EU-Kommission veröffentlichte im April eine Mitteilung zur Förderung des verantwortungsvollen Handelns bei der Besteuerung zwischen EULändern und Drittstaaten.

(http://ec.europa.eu/taxation_ customs/taxation/company_tax/harmful_tax_practices/index_en.htm;
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2009:0201:FIN:DE:PDF)


Bereits 1992 schlug die Ruding-Kommission vor, die EU-Länder sollten sich auf eine Untergrenze für die Besteuerung von Kapitaleinkünften an der Quelle und Unternehmenseinkünften einigen. Dieser Harmonisierungsversuch scheiterte aber an den unterschiedlichen ökonomischen Gegebenheiten der Mitgliedstaaten. Nur jene Länder profitieren nämlich von einer solchen Regelung, die als Kapitalimporteure für Anleger und Investoren besonders attraktiv sind. Kapitalexporteure dagegen sind ohne Mindestsatz besser gestellt - diese Staaten versagten daher ihre Zustimmung. Die einzige Möglichkeit für eine Einigung zwischen asymmetrisch aufgestellten Ländern läge darin, anstelle eines Minimalsatzes ein Steuersatzfenster mit einer Unter- und einer Obergrenze für Kapitalbesteuerung einzuführen. Das schlagen auch Wirtschaftswissenschaftler vor, in der EU-Politik angekommen ist dieser Vorschlag indes noch nicht.

In einem integrierten Wirtschaftsraum wie der EU hat nicht nur das Kapital die Freiheit, sich an den Standorten mit den besten Bedingungen anzusiedeln, auch die Arbeitskräfte haben sie. Mit einer hohen Steuerbelastung könnten Staaten also auch ihre Bürger vertreiben, die sich aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU relativ problemlos in einem anderen Land niederlassen dürfen. Prominente Steuerflüchtlinge lassen sich da als Beispiel in großer Zahl finden. Allerdings spielt für den Großteil der Bürger bei der Entscheidung, wo man wohnt und arbeitet, anderes als nur die lokale Steuerpolitik eine Rolle. Eine wichtige messbare Größe ist die Heimatverbundenheit. Je größer diese ist, desto eher bleiben Arbeitnehmer am angestammten Ort.

Das gibt den Regierungen Spielraum, diese als immobile Produktionsfaktoren stärker zu besteuern, da sie in ihrer Standortentscheidung unempfindlicher auf eine steuerpolitische Maßnahme reagieren als Arbeitnehmer mit weniger starken örtlichen Bindungen. Eine empirische Studie des WZB dazu zeigt den engen Zusammenhang zwischen starker Heimatverbundenheit oder patriotischen Gefühlen und einer höheren Steuerbelastung in den OECD-Ländern. Wollen sich die Politiker diese Steuerbasis sichern, müssen sie also die Bindungen der Bürger an die Heimat stärken.

Solange es politisch schwierig bleibt, international oder auch nur innerhalb der EU die nationale Steuerpolitik zu koordinieren, bleibt diese eine nationale Angelegenheit, und Staaten sind dem Steuerwettbewerb in unterschiedlichem Maße ausgesetzt. Damit die Steuereinnahmen der Länder durch den Steuerwettbewerb nicht gefährlich erodieren, haben Regierungen also noch andere Möglichkeiten, als sich in ihrer Steuerpolitik gegenseitig zu unterbieten. Wie gezeigt werden konnte, richten sich Firmen und Arbeitnehmer an anderen Größen als nur an niedrigen Steuern aus. Ein Standort kann auch durch die Förderung der Heimatverbundenheit - die auch mit öffentlichen Mitteln oder gesetzlichen Regelungen unterstützt werden kann - attraktiver werden. Eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mildert den Steuerwettbewerb ebenfalls.


Nelly Exbrayat hat von Oktober 2008 bis August 2009 in der Abteilung "Marktprozesse und Steuerung" im deutsch-französischen Projekt "Competition among Nation States" zu Fragen des Steuerwettbewerbs und der Neuen Ökonomischen Geographie geforscht. Davor studierte sie an der Universität von Lyon und der Université de Saint-Etienne, wo sie auch 2008 promoviert wurde. Seit September 2009 ist sie als Wissenschaftlerin und Lehrende (Maître de conférences) an der Université d'Auvergne in Clermont-Ferrand und am Centre d'Etudes et de Recherches sur le Développement International (CERDI).
exbrayat@wzb.eu


Literatur

Nelly Exbrayat, Carl Gaigné, Stephane Riou, "Trade Integration and the Destination of Subsidies", in: Louvain Economic Review, Vol. 75, No. 4, 2009, S. 407-423

Nelly Exbrayat, Carl Gaigné, Stephane Riou, How Labor Market Rigidities Shapes Business Taxation in a Global Economy, Working Paper, 2009, 36 S.
(http://www.fundp.ac.be/facultes/eco/departements/economie/actualites/Tax-bargain24.pdf)

Nelly Exbrayat, The Impact of Trade Integration and Market Potential on Tax Interactions: Evidence from OECD Countries, Working Paper, 2009, 37 S.
(http:// sew2009.univ-fcomte.fr/english/Exbrayat.pdf)

Salmai Qari, Kai A. Konrad, Benny Geys, Patriotism, Taxation and International Mobility, 41 S. (WZB-Bestellnummer SP II 2009-03)

Gianmarco I. P. Ottaviano, Tanguy van Ypersele, "Market Size and Tax Competition", in: Journal of International Economics, Vol. 67, No. 1, 2005, S. 25-46


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 127, März 2010, Seite 46-48
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2010