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STEUER/1219: Für eine Neuausrichtung der Steuerpolitik (spw)


spw - Ausgabe 5/2011 - Heft 186
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Für eine Neuausrichtung der Steuerpolitik -
Aufkommenssicherung und Verteilungsgerechtigkeit als Richtschnur

von Achim Truger


Von wenigen Ausnahmen abgesehen war Steuerpolitik in den vergangenen 15 Jahren immer Steuersenkungspolitik. Fast immer wurden diese Steuersenkungen wachstums- und beschäftigungspolitisch begründet. Mal ging es um Entlastungen zur Entfesselung der Leistungsanreize, mal um die Stärkung des Standort Deutschlands, wieder ein anderes Mal um konjunkturpolitische Stimulierung - an Argumenten wurde benutzt, was gerade zu passen schien. Im Ergebnis kam es seit 1998 zu gewaltigen Senkungen der Steuersätze, vor allem bei der Einkommensteuer und weitaus stärker noch bei den Kapital- und Unternehmenssteuern. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hält - im Gegensatz zur SPD - mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz und ihren immer noch nicht ad acta gelegten Plänen aus dem Koalitionsvertrag weiter an dieser Politikrichtung fest. Dass Steuersenkungen eine solch bedeutende wirtschaftspolitische Rolle spielen konnten - und dies zum Teil noch heute tun - ist mehr als verwunderlich, denn aus ökonomischer Sicht sprach nie viel für bedeutend positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte einer solchen Politik. Hinzu kommt, dass die konkreten praktischen Erfahrungen in Deutschland extrem ernüchternd waren.


Hochstilisierung von Steuersenkungen zum zentralen wachstums- und beschäftigungspolitischen Instrument gescheitert

Die angebotsseitigen Effekte der Besteuerung sind seit langem Gegenstand der finanzwissenschaftlichen (Lehrbuch-)Literatur. Dort werden die Auswirkungen der Besteuerung auf wirtschaftlich bedeutende Entscheidungen der privaten Haushalte und der Unternehmen ausführlich untersucht (vgl. etwa Rosen 1999, 375 ff.). Es lassen sich allerdings - auch im Mainstream - keine überzeugenden theoretischen oder empirischen Belege für starke negative Anreizeffekte der Besteuerung und damit entsprechend positiver Effekte von Steuersenkungen finden (vgl. ausführlich Corneo 2005).

Nachfrageseitig können Steuersenkungen durchaus sinnvoll sein. Defizitfinanzierte Steuersenkungen erhöhen das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte und damit nach Maßgabe der marginalen Konsumquote auch die private Nachfrage. Der expansive Effekt ist bei unveränderter staatlicher Nachfrage desto größer, je stärker die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen entlastet werden, da diese eine besonders hohe Konsumquote aufweisen. Steuersenkungen sind damit zur nachfrageseitigen Konjunkturankurbelung in einer Situation mit unterausgelasteten Kapazitäten grundsätzlich geeignet. Allerdings konkurrieren sie mit ausgabenseitigen Maßnahmen, also einer Erhöhung der Staatsausgaben, insbesondere der staatlichen Investitionen, der nach akzeptierter Lehrmeinung deutlich höhere Multiplikatoren und damit eine deutlich höhere konjunkturpolitische Effizienz zugeschrieben wird (SVR 2009, S. 166ff. sowie Elmendorf/ Furman 2008). Grundvoraussetzung für eine positive nachfrageseitige Wirkung ist aber, dass die mit der Steuersenkung einhergehenden Steuerausfälle auch tatsächlich durch höhere Budgetdefizite zwischenfinanziert werden. Wird stattdessen auf der Ausgabenseite "gegengekürzt", dann dürften gleich große Steuer- und Ausgabensenkungen zu einem restriktiven Gesamteffekt führen: Der positive Effekt der Steuersenkungen wird durch ausgabenseitige Konsolidierungsmaßnahmen überkompensiert. Insofern können Steuersenkungen wachstumspolitisch durchaus kontraproduktiv sein.

Wie zu erwarten waren die konkreten Erfahrungen mit Steuersenkungen in Deutschland sehr ernüchternd. Die "Steuerreform 2000" setzte ganz auf sehr weit reichende schrittweise Senkungen bei der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung zur Wachstums- und Beschäftigungsstimulierung. Auffällig ist, dass gerade die Phase der kräftigen Steuersenkungen identisch mit der langen Stagnationsphase der deutschen Wirtschaft von 2001 bis 2005 war, während der Aufschwung 2006 und 2007 in eine Phase deutlicher Steuererhöhungen fällt. Offensichtlich haben die Steuersenkungen nicht den erhofften Wachstumsschub gebracht. Dass sie dies nicht konnten und bei nüchterner Betrachtung sogar kontraproduktiv waren, liegt genau an den beschriebenen Interaktionen mit der Ausgabenseite. Weil die damalige Bundesregierung an den Stabilitäts- und Wachstumspakt gebunden war, begann sie - ebenso wie die Länder- und kommunalen Haushalte - spätestens 2003 mit drastischer Sparpolitik auf der Ausgabenseite, was mögliche positive Wachstumseffekte der Steuersenkungen negativ überkompensierte (vgl. Truger 2004 und 2009a).


Nebenwirkungen für Staatsfinanzierung und Verteilungsgerechtigkeit katastrophal

Die Steuersenkungen verfehlten nicht nur ihr eigentliches Ziel, die Stärkung von Wachstum und Beschäftigung, sie waren auch mit gravierenden Nebenwirkungen verbunden. Vor allem schwächten sie die durch die schlechte wirtschaftliche Performance ohnehin schon geschwächte Finanzierungsbasis des Staates empfindlich. (vgl. ausführlich Truger 2009). Abbildung 1 [siehe S. 19 der Printausgabe] zeigt die fiskalischen Nettoeffekte der Änderungen des Steuerrechts seit 1998 für die Jahre 2000 bis 2013 und ordnet sie den jeweils amtierenden Bundesregierungen zu. Sie wurden durch Addition und ggf. Fortschreibung der vom Bundesfinanzministerium veröffentlichten Finanztableaus ermittelt. Es handelt sich um Nettoeffekte, d.h. zwischenzeitliche Steuererhöhungen sind in den Zahlen berücksichtigt und mit den quantitativ weitaus bedeutenderen Steuersenkungen saldiert.

Nach drastischen Steuersenkungen durch die rot-grüne Bundesregierung, insbesondere die so genannte Steuerreform 2000, kam es seit 2006 zunächst im Zuge der Konsolidierungsbemühungen der großen Koalition zu kompensierenden Mehreinnahmen, insbesondere aufgrund der Erhöhung der Umsatzsteuer. Hätte es danach keine weiteren Änderungen gegeben, hätten sich die Aufkommensverluste in etwa bei der Hälfte der durch die rot-grünen Reformen induzierten Werte stabilisiert. Im Rahmen der Konjunkturpakete wurden dann jedoch weitere Steuersenkungen verabschiedet, so dass im Jahr 2009 die von den zuvor beschlossenen Maßnahmen der großen Koalition herrührenden Mehreinnahmen bereits fast wieder aufgezehrt waren. Trotzdem setzte auch die seit Herbst 2009 regierende schwarz-gelbe Koalition mit dem so genannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz auf weitere Steuersenkungen. Insgesamt belaufen sich die Einnahmenverluste aller Gebietskörperschaften aufgrund der Steuersenkungspolitik seit 1998 in diesem Jahr auf rund 51 Mrd. Euro (2,1 Prozent des BIP). Abbildung 2 [siehe S. 20 der Printausgabe] zeigt die Verteilung der Steuereinnahmenverluste auf Bund, Länder und Gemeinden.

Die Schwächung der staatlichen Einnahmenseite blieb nicht ohne Wirkung. Aufgrund des Drucks zur Haushaltskonsolidierung begann spätestens 2003 eine drastische Sparpolitik, die international ihresgleichen sucht: Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der gesamtstaatlichen Ausgaben lag in Deutschland von 1998 bis 2010 nominal bei nur 1,8 Prozent. Der Durchschnitt in der alten EU lag mit 3,8 Prozent mehr als doppelt so hoch. Im betrachteten Zeitraum gab es mit Japan nur ein einziges von 32 Ländern, für die die EU-Kommission (2011) Daten vorhielt, das ein niedrigeres Staatsausgabenwachstum verzeichnete als Deutschland (siehe TABELLE). Das gilt auch für die realen, d.h. mit dem (Harmonisierten) Verbraucherpreisindex deflationierten Staatsausgaben, die in Deutschland annähernd stagnierten, während sie im EU-15-Durchschnitt immerhin um 1,8 Prozent pro Jahr zunahmen.


TABELLE: Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten der gesamten 
 Staatsausgaben von 1998 bis 2010 im internationalen Vergleich in %


EU-27
EU-15
EWU-17
EWU-12
Rumänien
Irland
Lettland
Island
Estland
Bulgarien
Zypern
Slowenien
Ungarn
Polen
Luxemburg
Slowakische Republik
Griechenland
Litauen


nominal 4.0
3.8
3.7
3.7
25.9
11.8
10.8
10.1
9.4
9.6
8.5
8.2
7.9
7.7
7.6
7.0
6.7
6.6


real* 1.5
1.8
1.7
1.7
7.5
9.1
5.7
4.3
5.1
3.4
5.8
3.3
1.5
3.8
4.8
1.7
3.3
3.8



Spanien
Großbritannien 
USA
Norwegen
Portugal
Tschechien
Niederlande
Malta
Belgien
Finnland
Frankreich
Dänemark
Italien
Schweden
Österreich
Schweiz
Deutschland
Japan


nominal 6.6
6.5
6.3
6.2
5.7
5.6
5.0
4.9
4.1
4.0
3.8
3.7
3.2
3.2
3.2
2.3
1.8
-0.5


real* 3.7
4.5
3.8
4.1
3.2
3.1
2.8
2.4
2.0
2.2
2.0
1.6
1.0
1.4
1.4
0.2
-0.2

*) deflationiert mit dem (Harmonisierten) Verbraucherpreisindex.
Quelle: Europäische Kommission (2011); eigene Berechnungen


Verschlimmert wird die fiskalisch katastrophale Bilanz der Steuerpolitik dadurch, dass sie die ohnehin trendmäßig zunehmende Schieflage der Einkommens- und Vermögensverteilung weiter verschärft hat. Unternehmen und reiche Haushalte profitierten weit überproportional. Die zwischendurch umgesetzten Steuererhöhungen - vor allem die Mehrwertsteuererhöhung 2007 - trafen dagegen besonders die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen. Diese Politik hat die Staatsfinanzierung in Deutschland in einen Teufelskreis getrieben: Die verursachten Kürzungen staatlicher Leistungen und der Sozialabbau verbunden mit dem Gefühl einer ungerechten Lastenverteilung führen zu Forderungen nach weiteren Steuersenkungen, die wiederum in Kürzungen und weiteren Ungerechtigkeiten einmünden. Diesen Teufelskreis gilt es durch eine Neuausrichtung der Steuerpolitik zu durchbrechen.


Neuausrichtung Teil I:
Deutliches Mehraufkommen zur Stärkung der staatlichen Handlungsfähigkeit und für zentrale Zukunftsinvestitionen erforderlich

Die Finanzpolitik steht vor gewaltigen Herausforderungen. Angesichts der drastischen strukturellen Unterfinanzierung hat sie es schon schwer genug, die Handlungsfähigkeit des Staates auf den traditionellen Gebieten aufrecht zu erhalten. Hinzu kommt der Bedarf an bislang vernachlässigten zentralen Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung sowie traditionelle und ökologische Infrastruktur. Aufgrund der drastischen Sparpolitik der jüngeren Vergangenheit sind die Spielräume für eine Finanzierung über Kürzungen bei anderen Ausgaben gering. Gleichzeitig verhindert die im Sommer 2009 im Grundgesetz verankerte so genannte Schuldenbremse eine Finanzierung der Investitionen über eine höhere Staatsverschuldung - im Gegenteil, aufgrund der immer noch hohen strukturellen Defizite in den öffentlichen Haushalten erhöht sie sogar den Finanzbedarf des Staates zur Haushaltskonsolidierung. Will die Gesellschaft vor diesen Herausforderungen nicht kapitulieren, sondern am Ziel des Ausbaus der zentralen Zukunftsinvestitionen bei gleichzeitiger Einhaltung der Schuldenbremse festhalten, dann muss die staatliche Einnahmenseite wieder gestärkt werden.

Der anzusetzende Finanzbedarf ist dabei riesig. Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass öffentliche Investitionen, z.B. in die Infrastruktur, von zentraler Bedeutung für Wachstum und Beschäftigung sind. Konsens dürfte mittlerweile zudem sein, dass es aus ökonomischer Sicht nicht ausreicht, lediglich den traditionellen Investitionsbegriff der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung oder der Finanzstatistik anzuwenden, die letztlich lediglich Investitionen "in Beton" abbilden. Mindestens ebenso wichtig sind aufgrund von externen Effekten Investitionen in Humankapital und Forschung und Entwicklung (vgl. Romer 1994), die in der traditionellen Statistik jedoch als "konsumtive" Ausgaben beim Staatsverbrauch verbucht werden.

Schon allein für die traditionellen "Investitionen in Beton", bedürfte es einer dauerhaften Aufstockung um gut 30 Mrd. Euro (1,2 Prozent des BIP), wenn Deutschland nur zum durchschnittlichen Investitionsniveau der anderen Länder in der alten EU-15 aufschließen wollte. Auf eine ähnliche Zahl kommt man für den - in den letzten Jahren in den Fokus der öffentlichen Kritik geratenen - Bildungsbereich. So kommt Jaich (2008) zu einem laufenden jährlichen Ausgabenbedarf von über 30 Mrd. Euro. Im Rahmen des so genannten Bildungsgipfels wurde für die Bereiche Forschung, Entwicklung und Bildung sogar eine Summe von 25 bis 60 Mrd. Euro jährlich genannt, wenn bis 2015 die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie Bildung auf insgesamt 10 Prozent des BIP angehoben werden sollen. Insgesamt liegen die zusätzlichen Investitionsbedarfe sicher im hohen zweistelligen Milliardenbereich.

Obwohl es wünschbar und durchaus denkbar wäre, dass die vorstehend genannten Investitionsbedarfe und Möglichkeiten zu ihrer Realisierung im Mittelpunkt der finanzpolitischen Debatte stünden, wird diese ebenso wie die tatsächliche Politik vom Thema Haushaltskonsolidierung dominiert. Ein wesentlicher Grund dafür ist die seit Sommer 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Vom Jahr 2016 an darf das strukturelle Haushaltsdefizit des Bundes nur noch 0,35 Prozent des BIP betragen; die Länder dürfen sich ab 2020 gar nicht mehr strukturell neu verschulden. Aufgrund der Unschärfen, Gestaltungsmöglichkeiten und Intransparenzen der Schuldenbremse (vgl. Horn et al. 2008; Horn et al. 2011) ist es schwierig, den genauen strukturellen Konsolidierungsbedarf für die deutsche Finanzpolitik in den nächsten Jahren festzustellen. Aufgrund der bislang kräftigen konjunkturellen Erholung haben sich auch die strukturellen Defizite verringert; im nächsten Abschwung ist wieder mit einer Ausweitung zu rechnen. Als Untergrenze kann jedoch von einem bestehenden strukturellen Defizit von mindestens 20 Mrd. Euro pro Jahr ausgegangen werden, das abgebaut werden muss.

Auch über den Investitions- und Konsolidierungsbedarf hinaus gibt es durchaus noch weitere potenzielle Finanzbedarfe: So hat die öffentliche Verwaltung in den vergangenen beiden Jahrzehnten einen gewaltigen Schrumpfungsprozess durchlaufen und die Löhne und Gehälter der im öffentlichen Dienst Beschäftigten sind weit hinter der ohnehin schon schwachen gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung zurückgeblieben. Zur Korrektur solcher Fehlentwicklungen müssten sicherlich auch noch erhebliche Mittel in mindestens hoher einstelliger Milliardensumme veranschlagt werden. Gibt es darüber hinaus den Wunsch nach einer Aufstockung sozialer Leistungen und/oder einer stärkeren Steuerfinanzierung der Sozialversicherung, so kämen leicht höhere zweistellige Milliardenbeträge hinzu. Insgesamt kommt man daher leicht auf einen mittelfristigen Finanzbedarf in der Größenordnung von 100 Mrd. Euro (4 Prozent des BIP) pro Jahr und mehr.


Neuausrichtung Teil II:
Mehr Steuergerechtigkeit für eine gleichmäßigere Einkommensverteilung, eine lebenswertere Gesellschaft und eine leistungsfähigere Wirtschaft

Von ebenso großer Bedeutung wie die Stärkung des fiskalischen Ziels der Besteuerung ist die Aufwertung des verteilungspolitischen Zieles. Dabei handelt es sich erstens um eine unter normativen Gesichtspunkten zu rechtfertigende Korrektur der in den vergangenen Jahren eklatant gewachsenen Schieflage der Einkommensverteilung in Deutschland: Wie die OECD (2008) feststellte, haben in den Jahren 2000 bis 2005 in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land, wozu auch die Steuerpolitik, insbesondere über die Reformen bei der Einkommensteuer, einen Beitrag geleistet hat (vgl. Haan/Steiner 2004). Zweitens kann es darüber hinaus gerechtfertigt sein, Wohlhabende und Vermögende, die in der Finanz- und Wirtschaftskrise am meisten von den staatlichen Maßnahmen zur Stabilisierung des Finanzsektors profitiert haben, an den Kosten dieser Maßnahmen zu beteiligen.

Es geht aber über diese traditionell verteilungs- und gerechtigkeitsorientierten Gründe hinaus noch um weit mehr: Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass eine Vielzahl drängender sozialer und individueller Probleme (z.B. Kriminalität, Übergewicht, psychische Erkrankungen) positiv mit dem Grad der ökonomischen Ungleichheit korreliert sind (Wilkinson/Pickett 2010). Die Forderung nach einer Bekämpfung der ökonomischen Ungleichheit kann damit nicht als Ausfluss einer "Neiddebatte" diffamiert werden, sondern wird zum Schlüssel für die umfassende Verbesserung der Lebensqualität in einer Gesellschaft. Hinzu kommt, dass in der internationalen Debatte die ökonomische Ungleichheit mittlerweile auch als wesentliches Hemmnis für Wachstum und Beschäftigung wahrgenommen wird. International führende Ökonomen stufen sie und die durch sie entstandenen ökonomischen Ungleichgewichte als eine der Hauptursachen für die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ein (vgl. dazu Horn et al. 2009; Horn 2011).


Grundlegendes Steuerreformkonzept gefragt

Die vorstehend dargestellten Argumente sprechen insgesamt für eine Steuerreform mit deutlichen Mehreinnahmen, die gleichzeitig die Schieflage der Einkommensverteilung korrigiert. Die Tatsache, dass die Einkommensteuer neben der Umsatzsteuer die vom Aufkommen her tragende Säule des deutschen Steuersystems ist, die wie keine andere Steuer die persönlichen Verhältnisse der Besteuerten berücksichtigt und gleichzeitig progressiv ausgestaltet ist, deutet darauf hin, dass sie innerhalb eines umfassenden Konzeptes eine sehr wichtige Rolle spielen muss. In diese Richtung weist auch die Tatsache, dass in der jüngeren Vergangenheit die fiskalisch kostspieligen und verteilungspolitisch kontraproduktiven Effekte wesentlich durch Änderungen des Einkommensteuertarifs ausgelöst wurden. Allerdings kommt dem Einkommensteuertarif auch nicht die alleinige Rolle zu. Maßnahmen im Bereich der Bemessungsgrundlage der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung (Privilegierung der Kapitaleinkommen beenden, Steuerschlupflöcher für Unternehmen und Reiche schließen), der Vermögensbesteuerung (Ausbau der Erbschaftsteuer, verfassungskonforme Wiedereinführung der Vermögensteuer) sowie der Besteuerung von Finanztransaktionen sind ebenfalls von zentraler Bedeutung, sowohl was die Aufkommenserzielung angeht, als auch was die Korrektur der Einkommensverteilung betrifft. Hier weisen die zuletzt innerhalb der SPD entwickelten umfassenderen Ansätze (vgl. Projektgruppe Steuer- und Abgabenkonzept 2010; Jusos 2010, SPD 2011) bei so manchen Unterschieden im Detail allesamt in die richtige Richtung.

(*) Der vorliegende Beitrag lehnt sich stark an die Ausführungen in Truger/Teichmann (2011), Kapitel 2, an.

Dr. Achim Truger leitet das Referat Steuer- und Finanzpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.



LITERATUR

Corneo, G. (2005):
Steuern die Steuern Unternehmensentscheidungen?, in: Truger, A. (Hrsg.): Können wir uns Steuergerechtigkeit nicht mehr leisten?, Marburg, S. 15-38.

Elmendorf, D.W., Furman, J. (2008):
If, when, how: A primer on fiscal stimulus, The Brookings Institution, Washington, D.C.

EU-Kommission (2011):

Annual macro-economic database (Ameco), May 2011.

Haan, P., Steiner, V. (2004):
Distributional and Fiscal Effects of the German Tax Reform 2000. A Behavioural Microsimulation Analysis, DIW-Discussion Paper No. 419, Berlin.

Horn, G. (2011):
Des Reichtums fette Beute. Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert, Frankfurt / Main.

Horn, G., Dröge, K., Sturn, S., van Treeck, T., Zwiener, R. (2009):
Von der Finanzkrise zur Weltwirtschaftskrise (III) - Die Rolle der Ungleichheit. IMK Report, 41.

Horn, G., Proano, C., Truger, A., Vesper, D., Zwiener, R. (2008):
Die Schuldenbremse - eine Wachstumsbremse? IMK Report Nr. 29/2008.

Horn, G., Lindner, F., Niechoj, T., Sturn, S., Tober, S., Truger, A., Will, H. (2011):
Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik 2011: Der Euroraum in Trümmern?, IMK Report Nr. 59/2011.

Jaich, R. (2008):
Gesellschaftliche Kosten eines zukunftsfähigen Bildungssystems, Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.

Jusos (2010):
Trendwende 3 x 30 plus x. Das Steuerkonzept der Jusos für Bildung, Umwelt und soziale Sicherung, Berlin.

OECD (2008a):
Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries. Paris.

Projektgruppe Steuer- und Abgabenkonzept (2010):
Steuer- und Abgabenkonzept - Einkommensbesteuerung: Eckpunkte, Für mehr Fairness bei der Besteuerung, 13. Juli 2010, Berlin

Romer, P.M. (1994):
The origins of endogenous growth, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 8, S. 3-22.

Rosen, H.S. (1999):
Public Finance, 5. Auflage, Boston u.a. Irwin/McGraw-Hill.

SPD (2011):
Nationaler Pakt für Bildung und Entschuldung. Wir denken an morgen!, Finanzkonzept der SPD-Parteiführung, 5. September, Berlin.

SVR [Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung] (2009):
Die Zukunft nicht verspielen. Jahresgutachten 2009/10, Wiesbaden.

Truger, A. (2004):
Rot-grüne Steuerreformen, Finanzpolitik und makroökonomische Performance - was ist schief gelaufen?, in: Hein, E., Heise, A., Truger, A. (Hrsg.) Finanzpolitik in der Kontroverse, Marburg.

Truger, A. (2009):
Ökonomische und soziale Kosten von Steuersenkungen. Prokla 154 (1/2009), S. 27-46.

Truger, A., Teichmann, D. (2011):
Zur Reform des Einkommensteuertarifs - Eine Analyse aktuell in der SPD diskutierter Vorschläge, Gutachten im Auftrag der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion, Berlin/Düsseldorf, März.

Wilkinson, R., Pickett, K. (2010):
The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone, London u.a.


*


Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2011, Heft 186, Seite 18-24
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2011