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WOHNEN/219: Umkämpfter Wohnraum in der Großstadt (spw)


spw - Ausgabe 3/2018 - Heft 226
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Umkämpfter Wohnraum in der Großstadt

von Daniel Gardemin (1)


Die Städte der Republik stehen unter Druck. Steigende Mieten, Wohnungsnot und Verdrängung haben inzwischen alle Städte über 500.000 Einwohner erfasst, sowie die Großstädte zwischen 100.000 und 500.000 Einwohnern mit nennenswerten Bildungseinrichtungen. Grundsätzlich begrüßen die Städte ihr Wachstum, bedeutet es doch auch Aufwertung und Prosperität. Doch irgendetwas läuft schief. Bereits der seit Jahren aufflammende Protest gegen Gentrifizierung hätte aufrütteln müssen. Denn der Kern des Protests war ja der Hinweis darauf, dass sich ökonomisch starke urbane Bevölkerungsgruppen zu Lasten anderer Platz verschaffen und damit in die gewachsenen Strukturen der Städte eingreifen (vgl. Gardemin 2013). Stattdessen wurde der Protest zumeist als lokale Folklore abgetan. Die meisten Städte waren sogar froh darum, als sich lange Jahre vernachlässigte Stadtviertel zu bunten Quartieren entwickelten. Die Folgen der Entwicklung und die Notwendigkeit, steuernd in Prozesse der Stadtentwicklung einzugreifen, wurden kaum beachtet. Gentrifizierung ist ein grundsätzlich segregierender Prozess. Unabhängig davon, ob eine ökonomische oder kulturelle Überformung der Quartiere stattfindet, findet in jedem Fall eine Verdrängung von einkommensschwachen Mietern statt. Und Verdrängung bedeutet Auszug, Umzug und räumliche Veränderung. Je nachdem, wie die spezifischen Gegebenheiten der Städte ausfallen, findet der Prozess schneller und härter oder langsamer statt. Und wir sollten uns nicht von der lebensweltlichen Oberfläche des Phänomens vereinnahmen lassen, sondern die Folgen für den Wohnungsmarkt und die Menschen, die auf Wohnraum angewiesen sind, in den Blick nehmen.

Wohnen als Grundrecht

Gentrifizierung ist Pionierarbeit, sozusagen der Türöffner für eine viel gravierendere Entwicklung in den Städten. Wohnungsgesellschaften, Investmentfonds und private Vermieter sehen ihre Chance gekommen, den Wandel der Städte aus ihrer interessengeleiteten Perspektive zu nutzen und sowohl bei Neubauvorhaben als auch bei Sanierung im Bestand ihre eigenen Regeln aufzustellen. Die unvorbereiteten Kommunen haben zwar das Recht auf ihrer Seite und sind bemüht, ihren Anspruch an Stadtentwicklung geltend zu machen, doch schwindet das Vertrauen der Bevölkerung.

Die fehlende Gestaltungsmacht in den Städten nährt sich am jahrzehntelangen Schrumpfungsprozess. Nicht nur verloren fast alle Großstädte seit den 1990er Jahren sukzessive Bevölkerung, sondern sie sparten auch ihre Verwaltungen klein, verkauften abertausende städtische Wohnungen und delegierten öffentliche Aufgaben in private Hand. Die meisten Städte sind heute schlichtweg überfordert, überhaupt den Sanierungsstau aufzuholen, geschweige denn neue Projekte gestaltend selbst in die Hand zu nehmen. Dafür übernehmen das andere, in öffentlich-privater Partnerschaft oder gänzlich im freien Spiel der Märkte. In der Umsetzung bedeutet das, schneller und günstiger als andere zu bauen. Darunter leidet die Qualität, also Aussehen, Funktionalität und Ausführung sowie die Umsetzung, also Beteiligung, Baudurchführung und Bausicherheit und letztlich die Einhaltung von Regeln und Gesetzen. Der empfindlichste und gleichzeitig öffentlich auch wahrnehmbarste Bruch entsteht bei der Aushöhlung des Mietrechts. Denn das Mietrecht beruht auf der Grundannahme, dass Eigentum verfassungsrechtlich verpflichtet, Wohnen als ein Grundrecht zu akzeptieren. Wenn jedoch der Eindruck entsteht, das Grundrecht gelte auf dem freien Markt nicht und der Staat und die politischen Parteien seien nicht in der Lage oder nicht willens, sich schützend vor die Bevölkerung zu stellen, entsteht ein elementarer Vertrauensbruch mit schwerwiegenden Folgen für die Glaubwürdigkeit und Schutzfunktion staatlicher Autorität.

Die Ausweitung der Kampfzone

Die Verunsicherung ist bereits eingetreten. Bis weit in mittlere Einkommensgruppen hinein geraten Mieter unter Druck. Vor allem die Diskrepanz zwischen Bestandsmiete und Neuvermietung verhindert die dynamische Wohnverteilung in nahezu allen Großstädten der Republik. Wer kann, verharrt, wer in Folge von Berufswechsel oder Änderung der Lebenssituation zum Auszug gezwungen ist, zahlt inzwischen für Neuvermietungen in München, Frankfurt oder Stuttgart mehr als die Hälfte des Haushaltseinkommens für die Miete. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung haben 1,3 Millionen Großstadt-Haushalte nach Abzug der Miete weniger Resteinkommen als wenn sie Hartz IV-Regelsätze beziehen würden (vgl. Lebuhn/Holm/Junker/Neitzel 2017). Wer nicht zahlen kann, muss raus aus der Stadt. Folgen sind Entwurzelungen aus dem Wohnumfeld, Verzicht an urbaner und kultureller Teilhabe und lange Wegstrecken. In Frankfurt mit mehr als 10.000 Zuzügen jährlich allein ins Stadtgebiet erstreckt sich der Ballungsraum inzwischen in unzählige Städte, aus denen über 350.000 Menschen täglich in die Stadt hinein pendeln, davon 70 Prozent mit dem Auto (Frankfurter Rundschau, 04.04.2017). Derzeit wird überlegt, mit einer Ringbahn den zu klein dimensionierten S-Bahn-Verkehr zu entlasten. Wer heute außerhalb des S-Bahn-Ringes und der Bahn-Trassen wohnt, muss umständliche und lange Wege auf sich nehmen. Ähnlich sieht es in München aus, einer Stadt die sich der annähernden Vollbeschäftigung rühmt (Süddeutsche Zeitung, 02.04.2018). Hier nutzt vielen die Beschäftigung aber nicht viel für ein Wohnen in der Stadt. Gab es bis vor einigen Jahren noch Nischen in weniger gefragten Stadtteilen, so hat sich diese Option inzwischen geschlossen. Das einstige Arbeiterviertel Untergiesing, am Rand der Stadt München, ist ein typischer Stadtteil der zweiten Reihe. Einem kleinen durchsanierten Gründerzeitviertel schließen sich Wohnsiedlungen der dreißiger, fünfziger und sechziger Jahre an. Dazwischen ein 2014 fertiggestelltes Neubauviertel auf dem ehemaligen Agfa-Gelände. Zwei-Zimmer-Wohnungen sind für rund 1.400 Euro zu haben, das sind über 20 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter. Die 1.200 Wohnungen des Neubauquartiers, das wie ein Fremdkörper im Stadtteil wirkt, waren unmittelbar nach ihrer Fertigstellung vermietet. Die mit der Neubausiedlung verbundene Veredelung der Wohnlage wurde dankend von privaten Investoren aufgegriffen, die seitdem die Mieten der umliegenden Bestandsbauten in schnellen Schritten dem Markt anpassen, mittels modernisierungsfreier Mieterhöhungen. So greift der starke Mietenanstieg inzwischen auch in Stadtteilen wie Untergiesing, die noch vor kurzem als Rückzugsorte dienten und deren Wohnungsbestand und Sanierungslogik nicht dem üblichen Muster von Aufwertung und Gentrifizierung zu entsprechen schienen. Doch mit etwas Farbgebung, Linoleum und Retromöbeln erfahren enge Wohnungsschnitte, geringe Raumhöhen und kleine Fenster in schlichter Zeilenbebauung eine Umdeutung. Rückzugsorte sind letztlich nur noch Wohnungen in städtischem oder genossenschaftlichem Besitz. Dieser ist aber nicht groß genug, den Mietendurchschnitt ausreichend abzudämpfen, außerdem sinkt die Umzugsquote deutlich.

In Städten, die den kommunalen Wohnungsbestand verkauft haben, fehlt der mietdämpfende Effekt völlig. So wurden in Stuttgart ganze Stadtquartiere mit sogenannten Schlichtwohnungen von großen Wohnungsunternehmen aufgekauft, mit Gewinn wieder verkauft, bei Neuvermietungen mutmaßlich die Mietpreisbremse ausgehebelt und schließlich mit Ablauf der vereinbarten Sozialcharta über Modernisierungsumlagen den Mietern die Miete bis zu 60 Prozent erhöht (Stuttgarter Nachrichten, 07.05.2018). Wahlweise dürfen die Mieter die von den Wohnungsunternehmen einst günstig erworbenen Hochhauswohnungen jetzt für den drei- bis vierfachen Preis als Eigentum erwerben. In den Wohnungen wohnen aber Mieter, die nicht nur kaum in der Lage des Eigentumserwerbs sein werden, noch die hohen Mietsprünge dauerhaft werden halten können. Sie müssen ausziehen, doch wohin? Selbst zwischen den alten Bahngleisen ist es teuer geworden. Der Umbau des Hauptbahnhofs und die damit entstehenden gewaltigen Flächen für den Wohnungsbau haben bereits die Investoren in den Bestand gelockt. 4.600 Wohnungen rund um den Bahnhof gehören allein Vonovia, dem mit Abstand größten Wohnungsunternehmen Deutschlands (370.000 eigene und verwaltete Wohnungen).

Nicht nur in Stuttgart wehren sich Mieter gegen die Geschäftspraktiken von Vonovia und anderen. Es entstehen Mieterproteste in etlichen Städten, so allein im Frühjahr 2018 in Hamburg, Münster, Konstanz, Dortmund, Hannover, Berlin und Bremen. Die Aktionäre wollen Cash sehen. Ein Antrag der Mietervertreter auf Dividendenverzicht wurde abgelehnt. Gegenüber 2017 stieg die Ausschüttung um 18 Prozent. In der Branche wird dem Unternehmen unverhohlen Respekt für sein Geschäftsmodell gezollt: "Vonovia hat dank der Modernisierungen und der damit verbundenen Mietsteigerungen (...) erstmals die Milliardengrenze überschritten (...) Für 2018 dürfte das Niveau weiter ansteigen. Vonovia wird deshalb wohl den Mietern wenig Gehör schenken und sein Modernisierungsprogramm fortsetzen" (Der Aktionär 11.05.2018).

Da verwundert es nicht, wenn heute das Wirtschaftsforschungsinstitut IW Köln den Kommunen wieder empfiehlt, "angesichts der stark gestiegenen Preise sollte erneut über Verkäufe nachgedacht werden" (Handelsblatt, 19.03.2018). Aus Sicht der Privatwirtschaft hat sich der Kauf von kommunalen Wohnungen als großer Erfolg herausgestellt, wie das Beispiel Vonovia zeigt. Eine zeitlich begrenzte Sozialcharta, günstige Großkäufe, Wiederverkaufsgewinne und nach Auslauf der Fristen Sanierung und unbefristet wirksame Mieterhöhungen. Dresden, die mit 48.000 Wohnungen ihren kompletten kommunalen Wohnungsbestand verkauft haben, klagt heute gegen die Verletzung der Vereinbarungen zu Lasten der Mieter. Insgesamt wurden zwischen 1999 und 2011 in der Hochphase der Bestandsverkäufe 379.000 Wohnungen aus kommunalen Wohnungsbeständen verkauft, dazu kamen noch Verkäufe von 532.000 Wohneinheiten durch Bund und Länder (vgl. Held 2011).

Ein erneuter Verkauf von kommunalen Wohnungsbeständen würde zwar Geld in die kommunalen Haushalte spülen, aber vor dem Hintergrund der niedrigen Zinslage oder gar im Fall von Strafzinsen bilanziell eher Nachteile erwirken und der Einfluss auf den Wohnungsmarkt würde weiter schwinden. Für die Wohnungsunternehmen wäre es hingegen lukrativ, das Geschäftsmodell erneut einzusetzen. Niedrige Zinsen und unsichere Finanz- und Börsenmärkte verleiten insgesamt zu weiteren Investitionen in den Wohnungsmarkt. Doch das Angebot ist knapper geworden, die Preise haben zum Teil abenteuerlich angezogen. Schienen einst die 12- bis 14-fache Jahresnettokaltmiete als kalkulierbares Risiko, werden heute in Hamburg oder München bereits mehr als die 30-fache Jahresmiete gefordert (Süddeutsche Zeitung, 22.11.2017). Preise, die entweder Liebhaberei sind, bei denen auf Weiterverkauf spekuliert wird oder bei denen erhebliche Mietsteigerungen vorgesehen sind.

Voll-Entmietung als Geschäftsmodell

Im Windschatten des Marktführers haben auch kleinere Wohnungsunternehmen und Einzeleigentümer Strategien entwickelt. Das reicht von einfachen Mitnahmeeffekten durch Marktanpassung bei Neuvermietung oder Mieterhöhungen an den oberen Rand der örtlichen Vergleichsmiete bzw. des Mietspiegels, bis hin zu Maßnahmen in der rechtlichen Grauzone. Dazu gehören derzeit vor allem Entmietungen und Zweckentfremdungen.

Im Nordend, einem stark nachgefragten Stadtteil vor den Toren der Altstadt Frankfurts, geht derzeit alles zu hohen Preisen weg, auch unsaniert, laut und schlecht geschnitten. Die Stadt hat bereits Erhaltungssatzungen erstellt, die Luxussanierungen verhindern sollen. In dem ehemaligen Studentenstadtteil leben nicht nur Besserverdienende. Keine Balkone größer als acht Quadratmeter, keine Aufzüge, die nur ins Dachgeschoss führen etc. sind die Kriterien der Erhaltungssatzungen. Hintergrund der Maßnahme ist die zunehmende Verunsicherung mittlerer Einkommensgruppen, in der aufgeheizten Mietpreisspirale den Kiez verlassen zu müssen.

Insbesondere bei Voll-Entmietungen gehen Investoren nicht zimperlich mit den Mietern um, schließlich handelt es sich um ein Win-Win-Modell. Der erste Vorteil ist die Baufreiheit, der eine kostengünstigere Vollmodernisierung des Gebäudes ermöglicht, ohne auf noch im Haus wohnende Mieter Rücksicht nehmen zu müssen. Der zweite Vorteil ist die anschließende Neuvermietbarkeit zu Marktpreisen, ohne auf das Mietrecht Rücksicht nehmen zu müssen. In der Regel wird zuerst die umfassende Sanierung angedeutet und einzelnen Mietern der Auszug schmackhaft gemacht oder eine andere Wohnung im Bestand angeboten. Dann beginnen erste Baumaßnahmen, die zu Unannehmlichkeiten für die anderen Mieter führen. Den letzten verbleibenden Mietern werden Ablösen gezahlt. Wenn das nicht funktioniert, weil die Mieter ihre Rechte in Anspruch nehmen, in der angestammten Umgebung wohnen bleiben zu wollen, werden die Methoden brachialer.

Bekannt geworden ist ein Mehrfamilienhaus der fünfziger Jahre in der Wingertstraße in Frankfurt-Ostend (Frankfurter Rundschau, 21.08.2017). Der Eigentümer kam nicht schnell genug zur erwünschten Entmietung. So riss er Teile des Daches ab, kappte Leitungen, stellte die Heizung ab, verhängte das Baugerüst mit einer abgedunkelten Plane, funktionierte den Vorgarten zum Baumaschinenparkplatz um, dunkelte im Treppenhaus die Oberlichter der Wohnungstüren mit Markierungsspray ab. Inzwischen ist eine Dachwohnung rückgebaut worden, so dass Regenwasser durch das gesamte Haus läuft. Im Internet werden die noch vermieteten Wohnungen als "veredelter Rohbau nach Kernsanierung" zum Verkauf angeboten. Parallel wurden Eigenbedarfskündigungen gestellt, Mieterhöhungen durchgeführt und weitere angekündigt. Die Kaltmieten betrugen vor dem Aufkauf des Gebäudes durch den Investor 6,90 Euro je Quadratmeter. Am Ende sollen es 80 Prozent Mieterhöhung unter Verweis auf Modernisierungsumlagen werden. Das sind 365 Euro Mietsteigerung für eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Eine Mietpartei hat bereits die sechste fristlose Kündigung erhalten, zumeist mit der Begründung des zerrütteten Mietverhältnisses. Dazu kommen Abmahnungen mit der Vorhaltung, am Gebäude zu manipulieren. Die Bewohnerschaft, heute noch vier von ehemals zehn Mietparteien, wehrt sich inzwischen seit fünf Jahren gegen die nachweislich illegalen Baumaßnahmen. Eine Bewohnerin berichtet über das Motiv der jahrelangen Gegenwehr: "Man möchte nicht wissen, wie oft das in Frankfurt so passiert (...) Ein Grund ist es, zu verhindern, dass es den Leuten woanders genau so passiert wie uns."

Über die Jahre haben sich Nachbarn mit den verbliebenen Mietern in der Wingertstraße solidarisiert, durch die Versorgung mit Heizstrahlern und in gemeinsamen Nachbarschaftsfesten. Die Nachbarn wohnen in hochpreisigen Neubauwohnungen, die auf einem ehemals städtischen Gewerbe-Grundstück gebaut wurden. Sie äußern sich offen und betroffen, durch den Kauf ihrer Wohnungen selbst zur Attraktivität des Wohnviertels und indirekt zu den Entmietungsmaßnahmen beigetragen zu haben. "Hier sind Wohnungen für die Upper-Class entstanden. Das hat direkte Wirkungen auf die andere Straßenseite" (Habermann-Niesse/Gardemin/Lazar/Müller 2018 i.E.).

Zweckentfremden

Neben den Umwandlungen von bezahlbaren Mietwohnungen zu teuren Eigentumswohnungen blüht das Geschäft mit Zweckentfremdungen. In Regensburg wird die Innenstadt bereits als Rollkofferviertel bezeichnet, in dem die Vermietung von Wohnungen an Städtetouristen so attraktiv geworden ist, dass die Abrollgeräusche von Rollkoffern inzwischen als Straßensound wahrgenommen wird (Mittelbayerische Zeitung, 30.04.2016). Im Wrangelkiez, einem Stadtviertel in Berlin-Kreuzberg, finden sich Graffitis mit der Aufschrift "No more Rollkoffer" und "Tourists go home", ein Schriftzug, der auch in Barcelona und anderen Metropolen zu finden ist.

Berlin hat bereits 2014 die private Vermietung von Wohnungen an Feriengäste verboten. Nach Gerichtsurteilen ist das Zweckentfremdungsverbot 2018 aufgeweicht worden. 60 Tage Vermietung im Jahr sind jetzt wieder erlaubt. Trotz des Zweckentfremdungsverbots hat das Vermietungsportal Airbnb 26.000 Unterkünfte in Berlin im Angebot. Es wird aber als Erfolg gewertet, dass durch das Zweckentfremdungsverbot 8.000 Wohnungen wieder dem Wohnzweck zugeführt werden konnten (Tagesspiegel, 31.01.2018).

Dennoch werden erhebliche Anstrengungen unternommen, mit Feriengästen geschätzt die vierfache Einnahme zu erzielen. Selbst in den dem Tourismus weniger verdächtigen Städten wächst der Städtetourismus erheblich. In Hannover, einer Stadt mit traditionell hohem Anteil an Messe- und Tagungstourismus, werden ganze Häuser zu Messehotels und Ferienwohnungen umgewandelt (Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 17.12.2016). In der Lenaustraße in der Calenberger Neustadt, einem durch eine sechsspurige Ringstraße vom Zentrum Hannovers abgeschnittenen Stadtteil, vermutet kaum jemand prosperierende Geschäftszweige. Tatsächlich entsteht in der kleinen Wohnstraße nahe der Stadtbahnhaltestelle eine kleine Hostelansammlung, teils von der Stadt genehmigt, teils in Wildwuchs entstanden. Ein ganzes Mehrfamilienhaus wird ausschließlich zu Ferien- und Messezwecken angeboten, in einem weiteren Haus werden einzelne Wohnungen vollständig ihrem eigentlichen Zweck entzogen. In einem dritten Haus findet eine Entmietungswelle statt, die hier vor allem migrantische Familien mit vielen Kindern betrifft. Ein langjähriger Mieter berichtet, "der Eigentümer wolle für Beherbergungen kleinere Wohnungen erstellen. Beherbergungen sind wohl Ferienwohnungen. Ich behindere sozusagen sein Vorhaben und müsse nun ausziehen" (http://blog.gardemin.de/leermietung-herr-treumann-verliert-seine-wohnung).

Die Mansardenwohnungen sind bereits seit längerem geräumt. Ein Mieter hat sich nach Aussage des Nachbarn daraufhin das Leben genommen. Im Zuge der Räumung fiel ein Heißwasserboiler auf den Fußboden, mit der Folge eines Wasserschadens in mehreren Zimmern der darunter liegenden Wohnung. Dort, wo der Boiler aufschlug, klafft inzwischen seit zwei Jahren ein Loch in der Zimmerdecke. Mehrere Backsteine fielen ins Arbeitszimmer der Mietwohnung, einer flog durch das Zimmerfenster auf ein parkendes Auto. Der Mieter hat alle Steine in seiner Wohnung als Beweisstücke liegen gelassen und Hilfe beim Mieterverein gesucht. Er berichtet, "die Steine hätten auch meinen Mitbewohner oder mich erschlagen können. In der ganzen Wohnung ist Staub von dem Einschlag. Der morsche große Deckenbalken ist jetzt direkt am Außenmauerwerk gebrochen und ein Loch zur Mansarde klafft nun in unserer Wohnung. Nur ein Rauspund klemmt noch auf dem Loch. Das Loch ist groß genug, um bequem in unsere Wohnung einzusteigen. Die Mansarde hat ja keine Tür mehr. Tapeten, Teppich und unsere Laune sind vollkommen hinüber. Das Fenster hängt schief, Kälte kriecht herein. Die Absicht ist klar: Wer sich wehrt, wird mit allen Mitteln fertiggemacht." (Ebd.)

Eine überschlägige Auswertung von Wohnungen, die ausschließlich kommerziell vermietet werden, zeigt, dass mindestens in dreißig Häusern in Hannover Wohnungen angeboten werden, mit denen aus Zweckentfremdung ein Geschäftsmodell geworden ist (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 03.02.2018). Dazu kommen Hunderte von privaten Wohnungen, die temporär über Vermietungsportale wie Airbnb, Booking.com, Wimdu und Co. angeboten werden. In den innenstadtnahen Stadtteilen lassen sich zudem unzählige Büros in den ersten Stockwerken an den Klingelschildern als kommerzielle Umnutzung von Wohnraum ausmachen, selbst eine Klinik mit zig Betten und 130 Mitarbeitern ist ohne Baugenehmigung errichtet worden. Das Baurecht sieht in dem Wohngebiet nur Wohn- und Büronutzung vor, so dass die Stadtverwaltung drohte, die Räume zu versiegeln (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 27.04.2017).

Stigmatisieren und Ausgrenzen

In Hannover fehlt die entsprechende Sensibilität für Entwicklungen wie diese. Der Entzug von Wohnungen vom Wohnungsmarkt wird geduldet, Wohnungsknappheit wird als ein temporäres Phänomen eingeschätzt. Über Jahrzehnte schrumpfte die Stadt, bevor sie 2008 wieder zu wachsen begann. Der Wohnungsmarkt ist zwar sehr angespannt, doch der Blick nach Hamburg oder Berlin, wo alles viel schlimmer erscheint, relativiert die eigene Lage. Erschwingliche Ausweichmöglichkeiten für den Mieter aus der Lenaustraße gibt es aber im inneren Stadtgebiet nicht mehr. Selbst mit seinem Wohnberechtigungsschein wird er kaum Erfolg haben. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Anzahl an Sozialwohnungen in Hannover von einst 33.000 im Jahr 1998 auf heute rund 19.000 verringert (Landeshauptstadt Hannover (Hg.) 2016: 17). In einigen Stadtteilen, in denen sehr viele Belegrechte ausgeübt wurden, stellte die Stadt im Jahr 2016 über 3.000 Sozialwohnungen für drei Jahre von der Belegrechtsbindung frei, um Segregation vorzubeugen. An sich ein guter Ansatz, allerdings in einer Zeit von Wohnungsnot, Bevölkerungswachstum und stark gestiegener Wohnungslosigkeit auch mit erheblichen Gefahren verbunden, solange nicht anderswo ausreichend neue Belegrechtswohnungen geschaffen werden. Die Stadt Hannover verliert aber jährlich mehrere Hundert Belegrechtswohnungen im Saldo, obwohl sie sich bei Wohnungsneubau eine Quote von 25 Prozent auferlegt hat, die für Sozialwohnungen reserviert sind. Hannover ist da nicht allein, in Bremen schrumpfte der Bestand an Sozialwohnungen in den letzten zwanzig Jahren gar von 30.000 auf heute nicht einmal mehr 9.000 zusammen - mit ein Grund, weshalb Bremen die höchste Mietbelastungsquote bundesweit aufweist. Rund 30 Prozent des Haushaltseinkommens geben Bremer durchschnittlich für ihre Miete aus (Taz, 6.4.2018).

Mit seiner Vorgeschichte weckt der Mieter aus der Lenaustraße in Hannover zudem Vorbehalte bei der Wohnungssuche. In sozialen Netzwerken wird vor Mietern mit Wohnberechtigungsscheinen gewarnt. Ein Lokalpolitiker aus dem Regierungsbündnis der Stadt beteiligt sich an der Diskussion: "Tja, das kenne ich auch. Und die Räumungsklage dauert Monate und kostet richtig. Ich vermiete nach drei solchen Reinfällen in zwei Jahren nicht mehr an B-Scheinbetrüger. Diesen Typen steckt der Staat alles in den Hintern und wer arbeitet und Steuern zahlt, der wird bestraft. Jeder Bewerber muss mir eine Schufa-Auskunft vorlegen. Und wer keinen Arbeitsplatz hat, kann gleich gehen. Das sind dann die Typen, die bei RTL & Co. vor der Kamera jammern." Nicht nur die Demütigung der zerstoßenen Zimmerdecke lastet auf dem Mieter, es sind auch diese Kommentare, die Briefe, das Kündigungsverlangen des Vermieters, der Gang zum Rechtsanwalt, die Formulare beim Mieterverein, die Absagen und die viele vergebliche Zeit in den langen Schlangen bei den Wohnungsbesichtigungen.

In jüngster Zeit wird immer deutlicher, dass Mieterhöhungen, Voll-Entmietungen und Zweckentfremdungen durch Boden- und Leerstandspekulation zusätzlich angeheizt werden. Günstig von der Kommune oder zeitig am Markt erworbene Grundstücke werden in Erwartung höherer Erträge über Jahre oder sogar Jahrzehnte nicht verkauft oder bebaut (Zeit 19.04.2017). Oder noch gravierender: Wohnungsleerstand wird durch Spekulation belohnt. Die leeren Wohnungen werden jahrelang abgeschrieben und erst im Peak meistbietend vermietet oder verkauft (Tagesspiegel, 22.05.2018).

Schließung des Wohnungsmarktes

Die geschilderten Fälle sind nicht das ganze Bild. Kommunen mühen sich, es werden Wohnungsbauprogramme aufgesetzt, Verordnungen geschrieben. Und Wohnungen müssen auch renoviert und modernisiert werden. Doch die Wahrnehmung ist eine andere. Im Alltag werden Entmietungen und Mieterhöhungen in 30- bis 60-Prozent-Schritten wahrgenommen, stehen Nachbarn, Familien, Wohnungssuchende über Jahre unter Druck.

Die Schließung des Wohnungsmarktes führt nicht nur zu Segregation und Wohnungslosigkeit, sondern entfremdet die sozialen Milieus voneinander und setzt sie in eine verschärfte Konkurrenzsituation. Die Konkurrenz entwickelt sich nicht nur anhand der generellen Verfügbarkeit von Wohnraum, sondern auch entlang qualitativer Kriterien, die weit in die Sozialstruktur hineinwirken. Stefan Hradil hatte bereits 1987 darauf hingewiesen, dass neben die alten Ungleichheiten von Einkommen, Besitz und Bildung neue Ungleichheiten getreten sind. Dazu gehören u.a. die Wohnqualität und mit ihr verbunden der Wohnstatus, die Sicherheit der Wohnung und der Zugang zu Infrastruktur, aber auch soziale Sicherheit, Freizeitmöglichkeiten und Diskriminierungsbedingungen.

Die Entwicklung seit dem zweiten Weltkrieg kann vor diesem Hintergrund auch als eine Neuordnung der Städte betrachtet werden: Nicht nur die Phase der Rekonstruktion und des Neubaus in den 1950er und 1960er Jahren sondern auch und vor allem die Deindustrialisierung der Städte vor allem in den 1970er und 1980er Jahren und die Transformation zu Dienstleistungs- und Bildungszentren bis heute. Dieser Prozess hinterlässt Gewinner und Verlierer. Sieht man von den eingesessenen Familien mit Grundbesitz und den Bestverdienern auf der einen Seite und den Wegziehenden und nur temporär Zugezogenen ab, so ist die große Mehrheit der Stadtgesellschaft gefordert, die eigene Reproduktion und Lebensweise den Erfordernissen und Veränderungen der Stadt anzupassen. Dazu gehören die spezifische Wohnortwahl, die Pflege der sozialen Position im Gefüge der sozialen Milieus und die Teilhabe an den Institutionen und Entscheidungen. Dabei bemisst sich das Ergebnis nicht im höchsten Einkommen oder der größten Wohnung. Natürlich ist Stadt auch ein Ort der verdichteten Leistungsgesellschaft, aber nicht nur. Natürlich spielt die Dauer der Zugehörigkeit zur Stadt eine Rolle, führen ökonomische Ressourcen und Bildungstitel zu unterschiedlichen Startchancen. Doch im Wettbewerb der Milieus und in der Vielfalt der Erwerbs- und Lebensstile entstehen besondere Formen des Miteinanders. So bilden sich Nischen, Räume des Ausprobierens, die nicht nur Ausdruck funktionaler Arbeitsteilung sind, sondern auch Orte der urbanen Milieus, die in der Lage sind, den Widerstand gegen die Bevormundung marktradikaler Kräfte zu formulieren.

Eine Kultur der Gegenwehr

Die Menschen gestalten ihre Stadt zu einem Raum der Unterschiede. Ganz entscheidend ist dabei die Qualität des Zusammenlebens, die Akzeptanz der anderen Lebensweise, das Aushalten von Widersprüchen und der fortwährende Lernprozess im Spannungsfeld einer sich permanent verändernden Stadt. Die Menschen der Stadt sind Gestaltende und Lernende zugleich. Im Veränderungsdruck, der Konfrontation mit dem Anderen, dem Aushalten des Fremden, der Neugier auf den Wandel entsteht eine diverse liberale Stadtgesellschaft. Eine kluge Stadtgesellschaft schafft für diesen Lernprozess Orte der Verständigung und unterstützt das Entstehen einer kulturellen Ausgestaltung der sich wandelnden Stadt. So wird aus der Stadt, die Walter Siebel einen Ort nennt, an dem Fremde leben (Siebel 2015: 285), eine Stadt der Vielfalt, in der das Fremde vor dem eigenen Erfahrungshintergrund nicht mehr befremdlich erscheint. Mehr noch, das Fremde wird zur Legitimation meiner selbst, zur Auseinandersetzung mit den Werten und Abgrenzungen des eigenen Milieus. Es geht also genau nicht darum, alle Lebensweisen zu adaptieren und sich schließlich in einem Vielfaltsmilieu aufzulösen. Ganz im Gegenteil, Diversität schafft Identität. Den Grad der Auseinandersetzung schaffen die Stadtbewohner selbst, indem sie sich entscheiden, ob und wie sie sich mit sich und anderen beschäftigen wollen. "Auf dem Marktplatz der Stadt ist der Bekannte auffällig und begegnet man zu vielen, beschleicht einen die Furcht, in der Provinz zu leben, nicht in einer richtigen Stadt" (Ebd.: 34). Der Ort, an dem Fremde leben, ist nämlich auch ein Ort, an dem wir uns aus dem Weg gehen können, nicht permanent dem anderen gegenüber verpflichtet sind. Für den anderen gilt ja das Gleiche, nicht ständig mit mir konfrontiert werden zu wollen, mich meinen eigenen Weg gehen zu lassen. "Der öffentliche Raum der Stadt als Raum symbolischer Präsenz des Fremden und die Stadt als ein Mosaik aus kulturellen Dörfern eröffnen ein Panorama der Kulturen und Lebensmöglichkeiten" (Ebd. 366).

In der kanadischen Gesellschaft ist aus der Erkenntnis heraus, dass Vielfalt die Anerkennung des Fremden zur zentralen Figur gesellschaftlichen Zusammenlebens bedingt, sogar die Verfassung geändert worden. Aus dem Recht auf kulturelle Differenz und auf gleiche Chancen der Teilhabe entsteht ein Modell der Einheit-in-Verschiedenheit. Nicht eine wie auch immer definierte Leitkultur ist der Maßstab, sondern die Verfassung und die Gesetze des Staates (vgl. Geißler 2003). Die europäische Stadt ist geradezu prädestiniert, sich dieses Gedankens anzunehmen. Denn Respekt und Anerkennung von Diversität sichern Wettbewerb, Entwicklung, Kreativität und Innovation. Das hat schon immer so funktioniert. Stadt ist auf den Respekt vor der Lebensweise des Andersdenkenden angewiesen. Wesentlich ist die Gesetzestreue, nicht die Gleichheit von Lebensweise, Religion oder Kultur. Der Aspekt einer respektierenden und vorsichtig miteinander umgehenden Gesellschaft muss an dieser Stelle noch einmal besonders hervorgehoben werden, denn das Fremde wird als zentrale Figur in einem Abwehrkampf gegen eine vielfältige Gesellschaft instrumentalisiert. Längst ist die Aufforderung zur Integration zu einem Kampffeld um Homogenität gegen Diversität verkommen, in der ein per se vollständig integrationsverweigernder Teil der Gesellschaft die Regeln der Gesellschaft aus nationaler und ethnozentristischer Perspektive definieren will.

Vielfalt als Kapital

Ein Modell der Einheit-in-Verschiedenheit ist als Gegenentwurf zur Restauration und zur Stärkung der kohäsiven Kräfte einer solidarischen Stadtgesellschaft umso erforderlicher. Mindestens drei Gründe sprechen dafür. So bringt in den meisten Großstädten Westdeutschlands bereits jedes zweite Neugeborene im engeren Sinne einen Migrationshintergrund mit. Zweitens nimmt europäische Binnenmigration weiter zu. Drittens soll, so das erklärte Ziel der Regierungskoalition, ein Zuwanderungsgesetz dafür sorgen, Arbeitskräfte für den Abbau des anhaltenden Fachkräftemangels anzuwerben. Nach Jahrzehnten der Massenarbeitslosigkeit öffnen sich heute Berufschancen vor allem in den Städten. Sie sind die zentralen Ankunftsorte, hier locken die neuen Berufe der Dienstleistungsgesellschaft und der digitalen Revolution, hier wird die Öffnung des sozialen Raums besonders wirksam. Und die Bereitschaft von Zuwanderern, dem meritokratischen Versprechen zu folgen, ist ausgesprochen groß (vgl. Geiling/Gardemin/Meise/König 2011). Die zugespitzte einseitige öffentliche Berichterstattung über Zuwanderungsverlierer überlagert den Mobilisierungseffekt, der sich aus der Öffnung des sozialen Raumes ergibt. Gleichwohl tritt der Effekt zeitlich nicht passgenau ein. Dafür wurde in der Zeit der Stagnation zu wenig in Bildungsgerechtigkeit investiert. Diese jetzt nachzuholen, ist ebenso eine Herkulesaufgabe wie Schulen, Kitas, Infrastruktur und Wohnraumversorgung baulich den Anforderungen der wachsenden Städte anzupassen. Erst wenn Menschen migrantischer Herkunft auf dem Arbeitsmarkt, in den Gymnasien und Hochschulen, in den Behörden und den öffentlichen Einrichtungen und in politischen Gremien annähernd proportional vertreten sind, ist der Rückstand aufgeholt. Das kann in einer Phase der Prosperität gelingen, sofern der Bund und Städte an einem Strang ziehen. Vielfalt wird dann zu einer zentralen Kraft des Erneuerungsprozesses.

Vielleicht die wichtigste Aufgabe ist dabei, eine heterogene Stadt zu bewahren, Segregation vorzubeugen und den Zugang zum Wohnungsmarkt offen zu halten. Ohne Wohnung keine Teilhabe. Die Frage nach den Zugangschancen zu Wohnraum spielt in der Konfiguration von Bildungsaufstiegen, Arbeitsmarkt und letztlich auch des Konnubiums eine zentrale Rolle.

Stadtkultur entwickeln

Es geht aber nicht nur um die Frage der Anzahl der zu errichtenden Wohnungen, es geht auch um die Frage, in welcher Qualität von Stadt wir leben wollen und wie wir miteinander umgehen wollen. Soll die Stadt eine Burg mit konzentrischen Mauern werden oder eine offene Stadt des Austauschs? Soll die Stadt durchökonomisiert und kommerzialisiert werden oder wollen wir in einer Stadt der unterschiedlichen Lebensentwürfe leben? Wollen wir eine Stadt, in der der Stärkere die Regeln bestimmt oder wollen wir eine Stadt in der die Schwächeren sich auf das Recht verlassen können?

Diese Fragen sollten wir diskutieren, der Werkzeugkasten für den Schutz von Mietern existiert bereits: Sozialwohnungen können gebaut werden, Zweckentfremdungsverordnungen führen Wohnungen wieder ihrem Zweck zu, über das öffentliche Vorkaufsrecht kann die öffentliche Hand steuernd eingreifen, über Modelle der sozialgerechten Bodennutzung können den Investoren soziale Vorgaben gemacht werden. Grundstücke können im städtischen Besitz verbleiben oder von der Stadt aufgekauft und selbst bewirtschaftet werden, mit Erhaltungssatzungen können Städte ein Übermaß an Sanierung eindämmen, sie können Wohngruppen und alternative Eigentumsprojekte unterstützen. Statt Vergabe an private Investoren, können kommunale Wohnungsunternehmen ertüchtigt werden, eigene Projekte durchzuführen. Genehmigungsvorbehalte können verhindern, dass Sanierungen gegen den Willen der Mieter stattfinden. Die Stadt kann sozial orientierte Genossenschaften fördern und mit Umwandlungsverordnungen kann die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen gesteuert werden.

Stadtentwicklung bedeutet nicht nur die Beseitigung eines baulichen Sanierungsstaus, sondern sie ist auch ein sozialer und kultureller Beitrag.


(1) Dr. Daniel Gardemin ist freiberuflicher Sozialwissenschaftler. Seine Schwerpunkte sind Milieuforschung, Stadtentwicklung und Wahlforschung. Derzeit ist er tätig für eine Studie des Bundesbauministeriums mit einem Städtevergleich zur Untersuchung sozialer Vielfalt in Stadtteilen unter Nachfragedruck. Er ist Ratsherr für die Grünen im Rat der Landeshauptstadt Hannover.


Literatur

Gardemin, Daniel 2013: Großstadt im Wandel - Plädoyer für eine neue Wohnungspolitik, in: spw 5/2013.

Geiling, Heiko/Gardemin, Daniel/Meise, Stephan/König, Andrea 2011: Spätaussiedler und türkeistämmige Deutsche im sozialen Raum.

Geißler, Rainer 2003: Multikulturalismus in Kanada - Modell für Deutschland? in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 26/2003.

Habermann-Niesse, Klaus/Gardemin, Daniel/Lazar, Raimund/Müller, Simone 2018 (i.E.): Soziale Vielfalt in der Stadt, Forschungsbericht.

Held, Tobias 2011: Verkauf landesbaukommunaler Wohnungsbestände. Ausmaß und aktuelle Entwicklungen. BBSR, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 12/2011.

Landeshauptstadt Hannover (Hg.) 2016: Kleinräumige Wohnungsmarktbeobachtung in der Landeshauptstadt Hannover 2015/2016.

Lebuhn, Henrik/Holm, Andrej/Junker, Stephan/Neitzel, Kevin 2017: Wohnverhältnisse in Deutschland - eine Analyse der sozialen Lage in 77 Großstädten. Bericht aus dem Forschungsprojekt "Sozialer Wohnversorgungsbedarf".

Siebel, Walter 2015: Die Kultur der Stadt.

Der Aktionär 11.05.2018: Mieter-Rebellion bei Vonovia. Aktie unter Druck.

Die Zeit 19.04.2017: Die Landbanker.

Frankfurter Rundschau 04.04.2017: Pendlerverkehr kurz vor dem Kollaps.

Frankfurter Rundschau 21.08.2017: Mieter wehren sich.

Handelsblatt 19.03.2018: Forscher empfehlen Städten ihre Wohnungen zu verkaufen - und rufen Empörung hervor.

Hannoversche Allgemeine Zeitung 17.12.2016: Mieter fühlen sich "brutal aus der Wohnung geekelt."

Hannoversche Allgemeine Zeitung 27.04.2017: Stadt droht Eilenriede Klinik mit Schließung.

Mittelbayerische Zeitung 30.04.2016: Ferienwohnungen verdrängen die Mieter.

Stuttgarter Nachrichten 07.05.2018: Protest in Stuttgart gegen Vonovia. Rentnerin soll 63 Prozent mehr Miete bezahlen.

Süddeutsche Zeitung 22.11.2017: Auf Stein gebaut.

Süddeutsche Zeitung 02.04.2018: Praktisch Vollbeschäftigung.

Tagesspiegel 31.01.2018: 8000 zweckentfremdete Wohnungen zurück auf dem Wohnungsmarkt.

Tagesspiegel 22.05.2018: Leerstand in Berlin? Alles nur Spekulation.

Tageszeitung 06.04.2018: Teuer wohnen für alle.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2018, Heft 226, Seite 33-41
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2018

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