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INTERNATIONAL/053: Brasilien - Der chilenische Weg, Menschenrechtsverfahren trotz Amnestiegesetz (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. März 2012

Brasilien: Menschenrechtsverfahren trotz Amnestiegesetz - Junge Staatsanwälte gehen chilenischen Weg

von Fabiana Frayssinet


Rio de Janeiro, 21. März (IPS) - In Brasilien haben sich Staatsanwälte verschiedener Bundesstaaten zum Ziel gesetzt, Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur von 1964 bis 1985 trotz eines geltenden Amnestiegesetzes vor Gericht zu bringen.

Die Gruppe 'Justiça de transição' (Justiz des Übergangs) bedient sich eines Arguments, mit dem bereits Amnestiegesetze in Chile und Guatemala erfolgreich ausgehebelt werden konnten: dass das Verschwindenlassen von Menschen solange als aktuelles Verbrechen zu betrachten ist, bis die Leichen der Opfer gefunden werden.

"Damit versuchen wir das Amnestiegesetz zu überwinden, das sich auf Verbrechen bezieht, die vor dem 15. August 1979 begangen wurden", erklärte der Staatsanwalt von Rio de Janeiro, Ronaldo Cramer. "Es geht uns nicht darum, ein Gesetz neu zu fassen oder anders auszulegen", betonte der Jurist, der sich in der 'Kampagne für Gedächtnis und Wahrheit' engagiert.


Erste Klage eingereicht

Am 14. März unternahmen die Staatsanwälte ihren ersten konkreten Schritt, als sie vor einem Gericht im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará Klage gegen den Oberst der Reserve Sebastião Curió einreichten. Ihm wird die Entführung von fünf Mitgliedern der Araguaia-Guerilla, dem bewaffneten Arm der Kommunistischen Partei Brasiliens, 1974 vorgeworfen. Nach Angaben von Augenzeugen waren die fünf Rebellen zuletzt in Militärgewahrsam gesehen und gefoltert worden.

"Die Entscheidung von Staatsanwälten der Bundesjustiz, einen ehemaligen Armeeoffizier wegen gravierender Menschenrechtsverstöße in den siebziger Jahren anzuklagen, ist ein Meilenstein auf dem Weg Brasiliens zur Verantwortlichkeit", heißt es in einer Mitteilung der Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' (HRW).

Offiziellen Berichten zufolge wurden während der Militärherrschaft mehr als 470 Menschen ermordet oder aus politischen Gründen verschleppt. Weitere 50.000 Menschen wurden inhaftiert und mindestens 20.000 gefoltert.

Die Initiative der Staatsanwälte sei eine gute Nachricht für die Familien, die in der Zeit der Repression nach dem Staatsstreich 1964 Angehörige verloren hätten, erklärte José Miguel Vivanco, der HRW-Direktor für Lateinamerika, in dem Kommuniqué.

Ein Bundesrichter wird nun entscheiden, ob der Fall Curió tatsächlich vor Gericht verhandelt wird. Sollte dies der Fall sein, würde in dem südamerikanischen Land erstmals ein Mitglied der Streitkräfte wegen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen. Außerdem wäre ein Präzedenzfall für die Verhandlung von 55 ähnlich gelagerten Fällen geschaffen.

Die Gültigkeit des Amnestiegesetzes wurde erst 2010 vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Dem Staatsanwalt des Bundesstaates São Paulo, Sérgio Suyama, zufolge steht die Klage in keinem Widerspruch zu dem Gesetz, weil die Curió zur Last gelegte Straftat noch andauert.


Brasilien von interamerikanischem Gericht verurteilt

Die Staatsanwälte reagieren mit ihrem Vorgehen auf einen Beschluss des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichts vom November 2010, in dem Brasilien wegen der Aufrechterhaltung des Amnestiegesetzes verurteilt wurde. Das Gesetz sei mit den von Brasilien unterschriebenen internationalen Menschenrechtsabkommen unvereinbar, heißt es in dem Urteil.

2011 hatte das Parlament in Brasilia die Einrichtung einer Wahrheitskommission beschlossen, die in diesem Jahr damit beginnen wird, Menschenrechtsverletzungen seit 1964 zu untersuchen. Die Kommission ist allerdings nicht berechtigt, gerichtliche Verfahren einzuleiten. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.hrw.org/americas/brazil
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=100351
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107098

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2012