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INTERNATIONAL/121: Argentinien - Gesetz gegen 'Herumlungern' trifft vor allem junge Leute (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. März 2014

Argentinien: 'Herumlungern' in Córdoba verboten - Gesetz trifft vor allem junge Leute aus armen Verhältnissen

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Mit der freundlichen Genehmigung des 'Kollektivs der Jungen für unsere Rechte'

Am 20. November 2013 nahmen etwa 15.000 Menschen am Marsch der Kappen in der argentinischen Stadt Córdoba teil, um gegen die willkürliche Festnahme junger Leute in der gleichnamigen Provinz zu protestieren
Bild: © Mit der freundlichen Genehmigung des 'Kollektivs der Jungen für unsere Rechte'

Córdoba, Argentinien, 21. März (IPS) - In der argentinischen Provinz Córdoba ist 'Herumlungern' ein Straftatbestand. Was als Maßnahme zur Prävention von Vergehen gedacht war, hat sich vor allem als Instrument zur Unterdrückung der Verfassungsrechte junger Leute herausgestellt, die in armen Stadtteilen leben, dunkelhäutig sind und Baseballkappen tragen.

José María Luque hat es längst aufgegeben, die vielen Male zu zählen, die er von der Polizei in der Stadt Córdoba festgenommen wurde. Das erste Mal war der 28-Jährige im Alter von 13 Jahren eine Woche lang in Gewahrsam genommen worden, als er sich in Begleitung eines Freundes in Schuluniform auf dem Heimweg befand. "Sie hielten uns an, fragten nach unseren Ausweisen und nahmen uns mit. Das war's. Später fabrizierten sie die Lüge, ich sei bewaffnet gewesen seien und hätte einen Raubüberfall geplant. Doch das Verfahren wurde eingestellt."

Inzwischen ist Luque, der mit Spitznamen 'Bichi' heißt, Mitglied des 'Kollektivs der Jungen für unsere Rechte'. Wie er berichtet, ging es für ihn damals glimpflich aus, weil seine Eltern einen Anwalt bezahlen konnten. Doch dieses Glück haben die wenigsten jungen Leute, die auf der Grundlage des sogenannten Gesetzes gegen Fehlverhalten (Código de Faltas') verhaftet werden. Es kommt seit 1994 in Córdoba zur Anwendung und wurde 2007 reformiert.


Ohne Rechtsbeistand vor Gericht

95 Prozent der Betroffenen, so fand eine gemeinsame Untersuchung der Nationalen Universität von Córdoba und der spanischen Universität von La Rioja heraus, hatten keinen Rechtsbeistand. Für diejenigen, die verurteilt werden, bedeutet dies, dass sie vorbestraft sind. "Wenn du einen Eintrag in deinem polizeilichen Führungszeugnis hast, wirst du von den meisten Unternehmen, die ein solches Zertifikat verlangen, nicht eingestellt", berichtet Luque.

Das Gesetz bestraft Verhaltensweisen und Aktivitäten, die das friedliche Miteinander der Bürger stören. Dazu gehört das Randalieren auf öffentlichen Plätzen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Trunkenheit, Betteln und Hausieren. Auch wer sich nicht ausweisen kann, darf festgenommen werden.

Die Universitätsstudie fand ferner heraus, dass fast 70 Prozent der Anklagen im Zusammenhang mit dem 'Vergehen' des 'Herumlungerns' stehen. Paragraph 98 des Gesetzes sieht für Personen, die in der Nähe von Pkws oder städtischen oder ländlichen Gebäuden herumhängen und die "ein verdächtiges Verhalten zeigen und ohne ersichtlichen Grund (...) Eigentümer, Bewohner, Passanten oder Nachbarn beunruhigen" Strafen von bis zu fünf Tagen Gefängnis vor.

"Das Gesetz lässt sich völlig subjektiv und willkürlich auslegen. Es gibt keine Erklärung, was man tun muss, um sich nicht verdächtig zu machen und nicht verhaftet zu werden", so Luque, der sein Geld als Pizzabäcker verdient.

Auch in Argentinien drücken junge Leute ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe durch eine besondere Art, sich zu kleiden, aus. Dass Bichi und andere gern Baseballkappen, Jogginghosen und Turnschuhe tragen, wird ihnen quasi als Schuldeingeständnis ausgelegt. "Wer eine Schirmmütze trägt, macht sich verdächtig", meint Luke, einer der Initiatoren des 'Marsches der Kappen', der bereits seit sieben Jahren immer im November durchgeführt wird und die Abschaffung des Gesetzes gegen Fehlverhalten fordert. Im letzten Jahr nahmen 15.000 Menschen an der Demo teil.


Überzogene Angst als Vermächtnis der Diktatur

"Unabhängig davon, was die Polizei sagt - sie missbraucht den Paragraphen über das Herumlungern dazu, insbesondere dunkelhäutige Kappenträger aus den Armensiedlungen festzunehmen", kritisiert Claudio Orosz, Menschenrechtsanwalt und Vertreter des Zentrums für Rechts- und Sozialstudien in 'Córdoba. Das Gesetz sei das Spiegelbild einer "konservativen, ängstlichen und von "Unterdrückung und Völkermord der Militärdiktatur in den Jahren 1976 bis 1983 gezeichneten Gesellschaft".

Der Vorwurf wird von der Untersuchung der beiden Universitäten bestätigt. Danach handelt es sich bei der Mehrheit der Personen, die wegen Fehlverhaltens festgenommen werden, um unterprivilegierte junge Leute im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. 2011 waren 73.000 Menschen in der Provinz festgenommen worden, davon 43.000 in Córdoba-Stadt.

"Es ist im Grunde immer das Gleiche: Kommst du aus einem armen Stadtteil, bist arm oder kleidest dich auf eine bestimmte Art und Weise, hast bestimmte Gesichtszüge und eine bestimmte Hautfarbe, dann wirst du automatisch als Gefahr für die Gesellschaft wahrgenommen", betont Luque.

Zu den fragwürdigsten Aspekten des Gesetzes gehört die Übertragung von Befugnissen, wie sie eigentlich nur Richter haben sollten, an die Polizeichefs. Das sei vor allem deshalb ironisch, weil die Polizei von Córdoba für Verbrechen verantwortlich ist, die eine viel größere Gefahr für die argentinische Gesellschaft darstellten, wie Drogenhandel, Autodiebstähle und Waffenverkäufe, so Agustín Sposato, ein weiteres Mitglied des Jugendkollektivs.

Orosz zufolge tragen auch das unzuverlässige Fingerabdrucksystem und eine umständliche Verwaltung der polizeilichen Führungszeugnisse dazu bei, dass die Opfer willkürlicher Festnahmen bisweilen mehrere Tage im Gefängnis säßen. "Manchmal brauchen sie drei Tage, um herauszufinden, ob der Häftling vorbestraft ist oder nicht, und um ihn wieder freizulassen. "Wir haben es hier mit einem verfassungswidrigen System der sozialen Kontrolle durch die Polizei zu tun", betont der Menschenrechtsanwalt.

Dass die Sicherheitskräfte ohne richterliche Anordnung eine selektive und soziale Kontrolle ausüben können, verursacht bei den Opfern ein Gefühl maßloser Ohnmacht. "All die Male, die ich verhaftet wurde, hatte ich das Gefühl, verschleppt worden zu sein", berichtet Luque. "Nicht zu wissen, wann man wieder freikommt und wie man seine Familie und Freunde informiert, ist ein sehr schlimmes, düsteres Gefühl."


Reform geplant

Der Gouverneur von Córdoba, José Manuel de la Sota, hat dem Provinzparlament am 1. Februar ein Gesetz vorgelegt, dass das Gesetz gegen Fehlverhalten reformieren soll. Doch ausgerechnet der Paragraph, der ein 'Herumlungern' verbietet, scheint den Parlamentariern der Regierungspartei unverzichtbar zu sein.

Zu ihnen zählt auch Sergio Busso von der 'Union für Córdoba'. Allerdings hält auch er eine Reform für unerlässlich, die dazu führt, dass richterliche Sonderermittler mit den Fällen betraut werden und darüber hinaus Festnahmen und Strafen nur in Ausnahmesituationen verhängt und etwa durch das Ableisten von Sozialstunden ersetzt werden.

Orosz zufolge gehört das Fehlverhaltensgesetz abgeschafft und muss durch einen Koexistenz-Kodex ersetzt werden, "der die gewünschten Verhaltensweisen und Konfliktlösungsmechanismen schafft, die nicht unbedingt Haftstrafen vorsehen. Denn, so Sposato, das Gesetz in seiner derzeitigen Form "ist ein Anschlag auf die Leben der Menschen, auf ihre Rechte und insbesondere auf das Recht auf Gleichbehandlung". (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/03/detenido-por-ser-joven-pobre-y-llevar-gorra/
http://www.ipsnews.net/2014/03/behind-bars-young-poor-wearing-hat/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. März 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2014