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INTERNATIONAL/138: Lateinamerika - Strafvollzug in der Dauerkrise, Gewalt in überfüllten Gefängnissen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Februar 2015

Lateinamerika: Strafvollzug in der Dauerkrise - Ausufernde Gewalt in überfüllten Gefängnissen

von Marianela Jarroud


Bild: © Mit freundlicher Genehmigung von Desconcierto.cl

Angehörige der 81 Häftlinge, die in einem Gefängnis im chilenischen San Miguel bei einem Brand ums Leben kamen
Bild: © Mit freundlicher Genehmigung von Desconcierto.cl

Santiago de Chile, 4. Februar (IPS) - In den chronisch überbelegten Gefängnissen Lateinamerikas sind Häftlinge in ständiger Lebensgefahr - und das, obwohl der Region in Sachen Menschenrechte ein großer Wurf gelungen ist: In praktisch allen Ländern wurde die Todesstrafe abgeschafft.

Den Anfang machte Venezuela 1863, gefolgt von Costa Rica 1882. Nur in Kuba und Guatemala können heute noch Todesurteile gefällt werden. Doch seit 2003 beziehungsweise 2000 wurde dort niemand mehr hingerichtet.

Diese Entwicklung steht in einem krassen Missverhältnis zu den schauderhaften Zuständen in den Haftanstalten Lateinamerikas. Innerhalb der Gefängnismauern werden zahlreiche Morde und andere Gewaltverbrechen verübt und die Menschenrechte in gravierender Weise verletzt.

"In vielen lateinamerikanischen Ländern kommt eine Haftstrafe einem Todesurteil gleich", meint dazu Amerigo Incalcaterra, der regionale Vertreter des UN-Menschenrechtshochkommissariats (OHCHR).


Extrem viele Menschen in Untersuchungshaft

Laut Olga Espinoza vom Zentrum für Studien über die Sicherheit der Bürger an der Universität von Chile befindet sich der gesamte Strafvollzug Lateinamerikas in der Krise. "Der jüngste Bericht des UN-Entwicklungsprogramms hat eine Reihe konkreter Zahlen zur Überfüllung der Haftanstalten, zum unverhältnismäßig hohen Anteil von Personen in Untersuchungshaft und zu den Schwierigkeiten bei der Implementierung sozialer Rehabilitierungsprogramme genannt", erklärt sie.

Vor allem in Venezuela hat die Gewalt in den Gefängnissen ein extremes Ausmaß erreicht. Bei Auseinandersetzungen kommt es nach Angaben von Experten sogar zum Einsatz von Feuerwaffen und Sprengstoff. In dem südamerikanischen Land sitzen insgesamt etwa 53.000 Menschen hinter Gittern. Wie die Behörden dem OHCHR mitgeteilt haben, kamen in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres 402 Häftlinge gewaltsam ums Leben.

Incalcaterra zufolge sind die Gefängnisse in Venezuela zu 231 Prozent überbelegt. Das wird von der Regierung bestritten, der zufolge 87 Prozent der landesweiten Haftanstalten nicht überfüllt sind.

Auch in Brasilien herrschen inhumane und herabwürdigende Haftbedingungen. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass den Häftlingen Plastiktüten über den Kopf gestülpt, sie mit Elektroschocks traktiert und geschlagen würden. In den meisten Fällen seien Militärpolizisten beteiligt.

"Venezuela und Brasilien sind keineswegs Ausnahmen", sagte der OHCHR-Chef. "Auch in allen anderen Staaten der Region sind die Gefängnisse überfüllt und die Haftbedingungen prekär." Incalcaterra zufolge kommt es dort ebenfalls zu Misshandlungen und Folter.

Die Gefängnisse sind dem Experten zufolge vor allem deshalb chronisch überbelegt, weil der Staat keine alternativen Strafen zur Ahndung geringfügiger Delikte anbietet. Zudem fehlt es an einer adäquaten Infrastruktur. Weitere Probleme des Strafvollzugs sind eine mangelhafte Gesundheitsversorgung und eine schlechte Ernährung. "Im Allgemeinen entsprechen die Zustände im Strafvollzug nicht den internationalen Mindeststandards", moniert Incalcaterra. "Dadurch wird die Gewalt in den Gefängnissen weiter geschürt."


Die wenigsten rechtskräftig verurteilt

Nach Angaben der Interamerikanischen Menschenrechtskommission waren in ganz Lateinamerika im Jahr 2013 etwa 943.000 Personen inhaftiert. 354.000 von ihnen befanden sich in Erwartung eines Gerichtsverfahrens in Untersuchungshaft. Besonders kritisch war die Lage in Bolivien, wo 84 Prozent aller Gefangenen noch nicht rechtskräftig verurteilt waren, gefolgt von Paraguay (73,1 Prozent), Panama und Uruguay (je 65 Prozent), Peru (58,8 Prozent) sowie Venezuela und Guatemala (jeweils 50,3 Prozent).

Die miserablen Haftbedingungen werden auch für Tragödien verantwortlich gemacht, wie der in Chile am 8. Dezember 2010, als 81 Insassen einer Haftanstalt bei einem Brand ums Leben kamen. Die meisten von ihnen saßen wegen geringer Vergehen ein und waren vorher nie straffällig gewesen. Im San-Miguel-Gefängnis, das eigentlich für maximal 632 Insassen vorgesehen ist, waren zum Zeitpunkt des Brandes 1.875 Häftlinge untergebracht. Dies entsprach einer Überbelegung von 197 Prozent.

Chile ist das lateinamerikanische Land mit der höchsten Inhaftierungsrate. Auf jeweils 100.000 Einwohner kommen dort statistisch gesehen 318 Häftlinge. Der regionale Durchschnittswert liegt bei 100 bis 150 Gefangenen pro 100.000 Einwohnern, während das Verhältnis in Europa bei 60 bis 100 pro 100.000 liegt.

2012 hatte die chilenische Regierung eine Behörde eingerichtet, die die Einhaltung der Menschenrechte im Strafvollzug überwachen soll. Aus dem jährlichen Menschenrechtsbericht der Universität Diego Portales geht jedoch hervor, dass die Missstände fortbestehen. Der Staat habe keine umfassenden Vorkehrungen getroffen, um die Grundbedürfnisse der Häftlinge zu erfüllen und sich den internationalen Menschenrechtsstandards anzunähern. (Ende/IPS/ck/2015)


Links:

http://www.ipsnews.net/2015/02/no-hope-in-sight-for-latin-americas-prison-crisis/
http://www.ipsnoticias.net/2015/01/la-desafiante-deuda-de-las-carceles-latinoamericanas/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. Februar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2015


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