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STANDPUNKT/021: Neue Melodie. Altes Lied? (Ingolf Bossenz)


Neue Melodie. Altes Lied?

Papst Franziskus will dem kalten Körper der Romkirche wieder Wärme geben

von Ingolf Bossenz, 28. September 2013



Als Franziskus nach Rom kam, bat ihn ein Kardinal, dass er bei ihm übernachten möge. Doch in dem geräumigen und komfortablen Zimmer wurde der Asket von Dämonen geplagt und fragte sich besorgt, ob Gott ihn strafe, weil er die Gastfreundschaft eines Kirchenfürsten angenommen habe.

Vielleicht ist es diese Episode aus dem Leben des Heiligen und Ordensgründers, die Papst Franziskus veranlasste, das ihm zustehende Appartement im Apostolischen Palast nicht zu beziehen und weiterhin in einem Zimmer des vatikanischen Gästehauses Santa Marta zu logieren. In diesem Zimmer empfing das seit März amtierende Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche am 19. August dieses Jahres den Jesuitenpater Antonio Spadaro, Direktor der jesuitischen Zeitschrift »La Civiltà Cattolica«, zu einem ausführlichen Interview.


Franziskus-Zitate
Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen.
Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kommen danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen.
Die Lehren der Kirche - dogmatische wie moralische - sind nicht alle gleichwertig. Eine missionarische Seelsorge ist nicht davon besessen, ohne Unterscheidung eine Menge von Lehren aufzudrängen. Eine missionarische Verkündigung konzentriert sich auf das Wesentliche, auf das Nötige.
Man muss gemeinsam gehen: Volk, Bischöfe, Papst. Synodalität muss auf verschiedenen Ebenen gelebt werden. Vielleicht ist es Zeit, die Methode der Synode zu verändern, denn die derzeitige scheint mir statisch.
Die Herausforderung heute ist: reflektieren über den spezifischen Platz der Frau gerade auch dort, wo in den verschiedenen Bereichen der Kirche Autorität ausgeübt wird.
Quelle: stimmen-der-zeit.de


Nachdem das Gespräch vor gut einer Woche veröffentlicht worden war, entbrannte wenig überraschend eine Debatte um die Deutung der Aussagen des 76-jährigen Italo-Argentiniers Jorge Mario Bergoglio. Sie wurden als »sensationell« und »revolutionär« bewertet, als »Wende von großer Tragweite«; von »frischem Wind« war die Rede, gar von »Sturm«. Da das Interview in der Druckfassung über 20 Seiten lang ist, traten zudem die Zerstückler, Sezierer auf den Plan. Internetseiten präsentierten ein »Best of« der Franziskus-Zitate: Der Petrusnachfolger als Hackepeter. Die mediale Aufforderung, sich gleichfalls eine Scheibe abzuschneiden, ging vorrangig an jene Teile der katholischen Kaste von Kurialen und Prälaten, deren Schatten als verstockte Verweigerer durch das neue pontifikale Strahlen klarere Konturen zeigen.


Erinnerung an Benedikts Meisterstück im Bundestag

Das Interview des Franziskus ist zweifellos ein Meisterstück. Vergleichbar jenem, das sein Vorgänger vor zwei Jahren mit seiner Bundestagsrede geliefert hatte.

Man erinnere sich an die Begeisterung, die Parlamentarier und Medien ergriff, als Benedikt XVI. »das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren« erwähnte und die Binsenweisheit wiederholte, die Bedeutung der Ökologie sei »inzwischen unbestritten«. Joseph Ratzinger war es gelungen, die tatsächliche Brisanz seines Denkkonstrukts mit scheinbar begrüßenswerten Formulierungen zu verschleiern. Denn da sprach kein »grüner Schwarzer«, wie der Publizist Franz Alt meinte, sondern ein römischer Theologe reinster Lehre, der seinem Auditorium die Bedeutung des »Naturrechts« verkündigte, das der mittelalterliche Kirchenlehrer Thomas von Aquin als ewiges Recht sah. Als Recht, das Gott selbst in die Natur und den menschlichen Geist eingesetzt hat.

Die katholische Kirche sieht das bis heute so. Und leitet daraus unter anderem die Ablehnung von Homosexualität, die Zurücksetzung der Frau, rigide Sexualvorschriften sowie andere dem Menschenrechtsgedanken widersprechende Ge- und Verbote ab. Die der Ratzinger-Rede folgenden Ovationen in Parlament und Presse galten auch diesen Folgerungen.

Auch Papst Franziskus sieht das so. Selbstverständlich. Und er macht daraus durchaus kein Hehl: »Man kennt ja übrigens die Ansichten der Kirche, und ich bin ein Sohn der Kirche«, sagte er dem jesuitischen Interviewer mit Blick auf Themen wie Schwangerschaftsabbruch, homosexuelle Ehen, Verhütungsmethoden.

Bleiben wir bei dem in der Medienexegese strapazierten Thema Homosexualität: In der Tat schlägt der auf Homosexuelle bezogene Franziskus-Satz »Wir müssen sie mit Barmherzigkeit begleiten« Töne an, die überraschenden Wohlklang besitzen gegenüber wohlfeilen Verurteilungen, Verfemungen, Verdächtigungen, die selbst von oberen und obersten Etagen der Una Sancta in der Vergangenheit zu hören waren.

Doch sollte man auch nicht den Misston überhören, der offenbart, dass sich an der Sache, der grundlegenden, nämlich der Sicht auf Homosexuelle, nichts geändert hat. Ihnen gebührt nicht Gleichberechtigung und Akzeptanz ihrer Lebensweise, sondern bestenfalls »Barmherzigkeit«. Denn: Sünde bleibt Sünde. Oder, wie es Thomas von Aquin formulierte: »Gott hat Erbarmen mit unserer Not und verzeiht dem Sünder, wenn er sich bekehrt.«

»Toleranz des Bösen ist etwas ganz anderes als die Billigung oder Legalisierung des Bösen.« Dieses Zitat ist nicht aus dem Interview mit Franziskus, sondern entstammt einem Dokument, das vor zehn Jahren in der Verantwortung von Joseph Ratzinger zum Thema Homosexualität erstellt wurde (Ratzinger war damals Kurienkardinal und Präfekt der Glaubenskongregation). Auch wenn es die stillschweigende Duldung homosexueller Lebensgemeinschaften im Sinne der »Barmherzigkeit« erlaubt, rechnet es die gleichgeschlechtliche Liebe zum »Bösen« und bezeichnet sie als eine schwere Verirrung. Das Attribut »menschlich« wird in dem Papier nur jenen sexuellen Beziehungen zugestanden, die »für die Weitergabe des Lebens offen« bleiben.

Da liest sich selbst der 1992 - ebenfalls unter der Ägide Kardinal Ratzingers - veröffentlichte Katechismus der Katholischen Kirche moderater. Bei aller Ablehnung und Verneinung wird dort anerkannt, dass Homosexuelle »ihre Veranlagung nicht selbst gewählt« haben und die Forderung erhoben: »Man hüte sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen.«

Um in den jüngsten Kundgaben von Franziskus einen »echten Kurswechsel« zu sehen, wie die Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche, bedarf es denn doch einigermaßen heftigen Wunschdenkens. Im Gegenteil: Jorge Bergoglio geht es gerade darum, den Kurs zu halten, den die Kirche seit Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten vorgibt - konziliant im Ton, konsequent im Tun. Das trifft auch auf den Umgang mit und den Einsatz von Frauen zu: »Die Räume einer einschneidenden weiblichen Präsenz in der Kirche müssen weiter werden.« Einschneidend? In der römisch-katholischen Kirche liegt die Macht in den Händen einer klerikalen Hierarchie, an deren Spitze der Papst als absoluter Monarch steht. Und diese Priesterherrschaft ist eine Männerherrschaft, an der sich auch künftig außer kosmetischen Korrekturen nichts ändern wird. Denn Johannes Paul II. hat 1994 in einer »unfehlbaren« Verfügung erklärt, »dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und dass sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben«. Endgültig! Roma locuta, causa finita. Rom hat gesprochen, der Fall ist beendet.

Kurz nach seinem Amtsantritt in Rom hatte Bergoglio die größte Nonnen-Organisation der USA auf »Kurs« gebracht. Die Leadership Conference of Women Religious vertrat nach Ansicht des Vatikans zu liberale Positionen in Fragen Empfängnisverhütung, Abtreibung und Homosexualität. Der Glaube der Kirche bleibt die oberste Priorität

»Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit Verhütungsmethoden«, stellte der Papst im Interview unmissverständlich klar. Und: »Die wichtigste Sache ist aber die erste Botschaft: 'Jesus Christus hat dich gerettet.'« Der Glaube der Kirche, seine Verkündigung, Verbreitung, Verteidigung - das sieht Franziskus als seine oberste Priorität. Eine Kirche, die sich im Kleinkrieg um Kondome und Koitusdaten verschleißt, ist seine Sache nicht. Was nicht heißt, dass sich in der Sache etwas ändert.

Schon früher versuchten Päpste, ihrer Kirche einen dem aktuellen Jahrhundert entsprechenden Neuschliff zu geben. Im 19. Jahrhundert war es Pius IX., der 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil mit der Propagierung von päpstlichem Jurisdiktionsprimat und päpstlicher Unfehlbarkeit der Bedrängung durch die weltliche Moderne wehren wollte. Was die Angelegenheit nur noch schlimmer machte und Johannes XXIII. zu seinem Ruf »Macht die Fenster der Kirche weit auf!« veranlasste. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) gab Signale. Für mehr Kollektivität in der Führung, für mehr Menschlichkeit, Barmherzigkeit. »Doch«, so der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek, »die Reformen wurden schnell in hierarchisch-verengte Bahnen geleitet, wo inhaltliche und strukturelle Veränderungen auf der Strecke blieben. Dogmatisch, moraltheologisch, in der Sexuallehre oder auch innerhalb der Strukturen hat das Konzil nichts geändert. An der dogmatischen Arroganz, dass der Weg zum Heil nur durch die katholische Kirche führt, rüttelte das Konzil nicht im Geringsten.«

Nun also Papst Franziskus, der nicht einmal ein Konzil benötigt, um der Welt den Eindruck zu vermitteln, jetzt werde sicher nicht alles, aber vieles anders, besser. Freundlichkeit und Bescheidenheit. Verständnis statt Verurteilung. Tröstende Worte für die Verdammten dieser Erde, tadelnde für die Verderber selbiger. Eine neue Melodie. Für das alte Lied?

Der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri will weder eine neue noch eine andere Kirche. Er will der Kirche, an die der Theologe Hans Küng die Frage richtete, ob sie noch zu retten sei, in der Zeit, die ihm als Papst bleibt, ein menschliches Antlitz geben. Sein Antlitz. Dass ihm dies bereits in den ersten Monaten seines Pontifikats gelingt, sagt viel aus über das Charisma, die Einfühlungskraft und die anziehende Vitalität dieses Mannes. Es sagt aber auch viel aus über seine Kirche.

Wie tief müssen die Zerfurchungen sein, wie stark die Verwerfungen, wie schwer die Verletzungen, wenn schon die freundlichen Worte eines alten Mannes Hoffnungen wachrufen, den kalten Körper eines »Monstrums«, wie der Schriftsteller Hans Wollschläger die Romkirche nannte, in eine warme Heimat verwandeln zu können?


Buchempfehlungen:

Andreas Englisch: Franziskus - Zeichen der Hoffnung. Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes. C. Bertelsmann, München 2013, 352 S., geb., 17,99 EUR.

Hans Küng: Ist die Kirche noch zu retten? Piper Verlag, München 2011. 272 S., geb., 18,95 EUR.

Hubertus Mynarek: Warum auch Hans Küng die Kirche nicht retten kann. Eine Analyse seiner Irrtümer. Tectum-Verlag, Marburg 2012. 239 S., br., 19,90 EUR.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, September 2013
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 28.09.2013
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/834446.neue-melodie-altes-lied.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2013