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STANDPUNKT/113: Nachruf auf den Befreiungstheologen Ernesto Cardenal (Gerhard Feldbauer)


Der Priester Ernesto Cardenal ist verstorben

Er unterstützte die sandinistische Befreiungsbewegung im Kampf gegen die Somoza-Diktatur, war Daniel Ortegas Kulturminister

von Gerhard Feldbauer, 4. März 2020


Der nicaraguanische Priester und Schriftsteller Ernesto Cardenal war ein führender Repräsentant der Befreiungstheologie, unterstützte in den 70er Jahren die sandinistische Befreiungsbewegung im Kampf gegen die Somoza-Diktatur und übernahm nach deren Sturz 1979 in der Regierung Daniel Ortegas das Amt des Kulturministers. Wie die Katholische Nachrichtenagentur KNA, Domradio, die staatliche italienische ANSA und zahlreiche Medien weltweit berichteten, ist er am Sonntag in Managua im Alter von 95 Jahren verstorben.


Foto: Herbert Erwin / Public domain via Wikimedia Commons

Ernesto Cardenal am 9. März 2010 auf einer Lesung in München
Foto: Herbert Erwin / Public domain via Wikimedia Commons

Die Theologie der Befreiung breitete sich in Lateinamerika, wo knapp die Hälfte der Katholiken der Welt leben, seit der zweiten Konferenz des dortigen Episkopats 1969 in Medelin (Kolumbien) machtvoll aus. Sie erhielt entscheidende Impulse von den nationalen Befreiungskämpfen auf dem Kontinent, besonders durch deren Erfolge in Kuba und Nicaragua, aber auch von dem unter dem Sozialisten Salvador Allende in Chile unternommenen Versuch einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft. Die Befreiungstheologen gingen direkt von solchen Verkündungen aus, dass Christus sein Werk der Erlösung "in Armut und Verfolgung" vollbrachte und so auch die Kirche berufen sei, den gleichen Weg einzuschlagen. Nicht wenige lateinamerikanische Bischöfe verkündeten, als ihre Anhänger mehr oder weniger offen an der Seite der kämpfenden Völker standen, angesichts des unerträglichen Elends und des Hungers, dass das Reich Gottes nicht erst im Jenseits beginnen könne.

Cardenal stand in einer Reihe mit dem "Vater der Theologie der Befreiung", dem Peruaner Gustavo Gutiérrez, dem brasilianischen Professor Leonardo Boff oder dem ebenfalls aus Brasilien stammenden Erzbischof Hélder Câmara. Die Befreiungstheologen waren einer regelrechten inquisitorischen Verfolgung durch den polnischen Papst Karol Wojtyla alias Johannes Paul II. (Papst von 1978-2005) und des deutschen Kardinals Joseph Ratzinger, seit 1981, bis er 2005 selbst Papst wurde, Chef der Glaubenskongregation, ausgesetzt. Hunderte von ihnen wurden wie Cardenal wegen ihres sozialen Einsatzes für die Armen und Unterdrückten verfolgt, gemaßregelt, aus ihren Ämtern entfernt und auch regelrechten neuzeitlichen Inquisitionsprozessen unterworfen. Kardinal Ratzinger hat in den 24 Jahren seiner Zeit als Großinquisitor - wie der frühere Dekan der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, Hubertus Mynarek, in dem Buch "Papst ohne Heiligenschein" (Frankfurt/Main 2006) einschätzte - 150 Theologen nach einem Inquisitionsprozeß verurteilt. Unter ihnen Leonardo Boff und Hélder Câmara.

Wojtyla hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Mitglieder des klerikalfaschistischen Opus Dei in Chile in die Pinochet-Regierung eintraten. Während eines Besuchs in Chile rief ihm eine protestierenden Menge zu: "Papa pellegrino, maledeci l'Assasino" (Pilgerpapst, verfluche den Mörder). Ungerührt zeigte er sich stattdessen mit dem faschistischen Diktator auf dem Balkon und segnete ihn und die Mitglieder seiner Regierung. Cardenal aber forderte er bei einem Besuch in Managua im März 1983 in demütigender Weise auf, sein Ministeramt niederzulegen. Als Cardenal, der obendrein "beschuldigt" wurde, Marxist zu sein, sich weigerte aus der Regierung auszutreten, erteilte ihm der Papst 1984 Berufsverbot und suspendierte ihn als katholischer Priester. Sein 2016 verstorbener Bruder Pater Fernando SJ, der Erziehungsminister war, wurde 1984 aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen.

Als der Theologie-Professor Johann Baptist Metz, langjähriger Direktor des Seminars für Fundamentaltheologie an der westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, sich lobend über Cardenal äußerte und anführte, er habe dazu beigetragen, sein Land von dem korrupten Clan des Diktators Somoza zu befreien, ließ ihn Ratzinger dafür aus der Liste der Bewerber um einen Lehrstuhl an der Universität in München streichen. Der polnische Papst stellte sich auf einer Eucharistiefeier schützend vor die Mörder der von den USA nach Nicaragua eingeschleusten Terrorbanden "Contras" und gebot Müttern, welche diese Mordtaten anklagten, zu schweigen.

Cardenals poetisches, in Wuppertal erschienenes Werk umfasst neun Bände. Von seinem kämpferischen Engagement zeugen "Das Evangelium der Bauern von Solentiname", 2 Bände, Wuppertal 1976/1978, "Zerschneide den Stacheldraht. Südamerikanische Psalmen", Wuppertal 1967 oder "Kuba. Bericht von einer Reise", Wuppertal 1972. Cardenal hat damit einen Beitrag zur Weltliteratur geleistet und dafür sowie für sein Engagement für den kulturellen Austausch zwischen Nicaragua und anderen Nationen eine Reihe hoher und höchster Ehrungen erhalten. Das schloss das soziale und politische Engagement des streitbaren Gottesmannes ein. Mehrere Universitäten, darunter 2017 die Universität Wuppertal, verliehen ihm den Doktor honoris causa, Städte die Ehrenbürgerschaft. Als er 2000 emeritierte, nahm er in Paris den internationalen Simon-Bolivar-Preis der UNESCO entgegen, in Deutschland den Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Zuletzt machte Cardenal 2019 Schlagzeilen in den Medien, als dem an einer Niereninfektion Schwererkrankten im Krankenhaus der Nuntius (Botschafter) des Vatikan in Nicaragua, Erzbischof Waldemar Stanislaw Sommertag, eine Botschaft des Papstes überbrachte. Laut Medienberichten hatte Franziskus die Verurteilung von Ernesto Cardenal zurückgenommen. Es habe außerdem, so die spanische El País, vorher ein Briefwechsel zwischen Franziskus und Cardenal stattgefunden. Ein weiterer Besucher war der Weihbischof von Managua, Silvio José Báez Ortega, der, wie Medien berichteten, direkt einem "Wunsch aus Rom" gefolgt sei. Er habe vor Cardenals Krankenbett niedergekniet und den "Abtrünnigen" um seinen "priesterlichen Segen" gebeten. Die Visite habe, wie in einer Verlautbarung des Vatikans betont wurde, jedoch dem "Priester-Poeten" gegolten. Entgegen anderweitiger Verlautbarungen berichtete ANSA damals, Cardenal habe sich vom Marxismus und seiner revolutionären Vergangenheit nicht distanziert. Wie El País schrieb, hatte Cardenal jedoch die Wahl Franziskus'begrüßt und geäußert: "Ich identifiziere mich mit dem neuen Papst. Er ist besser, als wir ihn uns hätten erträumen können."

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2020

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