Wer wollte leugnen, daß er nicht dann und wann im Gegensinn zur modernen Aufgeklärtheit eine Prise Aberglaubens in seinen Alltag streut. Wem sind nicht jene gar nicht seltenen Augenblicke vertraut, da er glaubt, einer inneren Stimme zu folgen und Dinge tut, die keinen rechten Sinn ergeben und sich dennoch nahtlos in unser Leben einfügen. Selbst der messerschärfste Denker zieht sich bisweilen nur zu gerne ins Mysterium einer Innenschau zurück, um fernab der tristen Gegenwart von bunt-närrischen Bildern zu träumen. Es ist also gar nicht nötig, atavistische Gespenster aus einem jahrtausendealten Bewußtseinsschlaf zu erwecken; sie haben sich nie schlafen gelegt.
Wer auf eine kleine Reise gehen möchte, der schließe nun die müden Augenlider und denke sich zurück ins Jahr 1948. Wir schreiben den turbulenten 9. Mai, und wenn man jetzt allmählich wieder die Augen öffnet, befindet man sich in Moskau bei der 5. Runde des Weltmeisterschaftsturniers um die Nachfolge des 1946 verstorbenen Alexander Aljechin.
Die fünf Meister Michail Botwinnik, Wassilij Smyslow, Paul Keres, Samuel Reshevsky und Max Euwe haben einen dornenreichen Weg zurückgelegt, um zuletzt in Moskau die königlichen Steine solange zu führen, bis einer unter ihnen sich würdig zeigt, den verlassenen Schachthron wieder zu besetzen.
Unser Augenmerk fällt auf zwei Männer, die sich mit zerfurchter Stirn über eine denkwürdige Stellung beugen. Der eine hat die Hoffnung längst begraben, die Krone zu erringen, während auf den anderen bereits das Licht des Siegers fällt. Max Euwe weiß, daß er dem neuen Weltmeister gegenübersitzt. Michail Botwinnik kann sich des feierlichen Titels gewiß sein, denn er führt in der Bilanz so souverän, daß er zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Unentscheiden braucht, um seine Kontrahenten uneinholbar abzuhängen.
Botwinnik hat nicht von ungefähr die Abtausch-Variante im Damengambit gewählt, ein Abspiel, das früher oder später ein Remis besiegeln wird. Die Figuren werden bedächtig auf die Felder gestellt, kein Zug überschreitet die Remisbreite, und so verwundert es nicht, daß Botwinnik bereits nach 1.d2-d4 d7-d5 2.Sg1-f3 Sg8-f6 3.c2-c4 e7-e6 4.c4xd5 e6xd5 5.Sb1-c3 c7-c6 6.Dd1-c2 g7-g6 7.Lc1-g5 Lf8-g7 8.e2-e3 Lc8-f5 9.Lf1-d3 Lf5xd3 10.Dc2xd3 0-0 11.0-0 Sb8-d7 12.Sf3-e5 Dd8-e8 13.Se5xd7 De8xd7 14.b2-b4 Tf8-e8 ein Remis anbietet.
Die Stellung ist völlig ausgeglichen, und es bedarf schon eines zweischneidigen Willens, um überhaupt mehr als eine leichte Initiative ins Spiel zu bringen. Botwinnik hat innerlich schon Abstand von der Partie genommen, als er Euwes Zögern bemerkt, und als dieser sodann antwortet, daß er noch ein wenig weiterspielen möchte, packt Botwinnik die Wut. Von einer Sekunde zur anderen ist er ganz Kampfeslust, da ist keine Spur mehr von einem geruhsamen Remisspiel, nein, nun gilt es, die Waffen bis zum bitteren Ende zu kreuzen.
Doch Euwe wäre nicht Euwe, wenn er nicht mit tiefem Gespür Botwinniks Verwandlung zu einem Tiger an Tatkraft bemerkt hätte, und da er ohnehin hoffnungslos das Schlußlicht in dieser Weltmeisterschaft bildet, ist er wenig geneigt, seine Seele in Aufruhr zu versetzen für einen Kampf, den er letztlich nicht gewinnen kann. Also reicht er schnell die Hand über das Brett und versöhnt Botwinnik lächelnd mit einem Remis.
Augenblicke später bricht ein freudiger Tumult in die gedankenschwere Stille ein, und Hauptschiedsrichter Milan Vidmar hat seine liebe Not, wieder Ruhe einkehren zu lassen. Michail Botwinnik, der frischgebackene Weltmeister, wird unterdessen von seinen Freunden aus der Turnierhalle entführt, um seinen Sieg gebührend zu feiern.
Doch die Klinke zur zweiten Tür der Anekdotenkammer ist noch gar nicht berührt worden, das bisher Gesagte war nur Baldachin und Vorspann zu einem Schmunzeln, daß hinter der Türe noch auf seine Entdeckung wartet. Also noch etwas Geduld.
Die überragende Bedeutung dieses Meistertreffens wird von der Sowjetunion dadurch gewürdigt, daß die "Wochenschau" mit laufenden Kameras die wichtigsten Etappen im Kampf um die Weltmeisterschaft festhält. Aber als Botwinnik den Blicken der Kameraleute entschwindet, bemerken sie mit einem großen Ach und Weh, daß der letzte Zug im entscheidenden Spiel Botwinniks gegen Euwe nicht auf Film gebannt wurde. Das Bedauern kennt keine Grenzen. Was also tun? Der neue Weltmeister feiert irgendwo mit seinen Freunden den wohlverdienten Sieg. Nie würden sie ihn jetzt noch aus ihrer frohen Runde gehen lassen.
Die Blamage sitzt allen im Nacken, und gerade in der traditionsreichen Sowjetunion wird ein solches Verfehlen als eine schlimme Schande angesehen. Den Kameraleuten wollen schon graue Haare wachsen, da kommt jemandem ein blendender Einfall. Der junge Schachmeister, der während der Spiele das Demonstrationsbrett bedient hat, trägt glücklicherweise einen Anzug von genau der gleichen Farbe wie der von Botwinnik. Die Freude ist kaum zu bändigen, als die Idee zur Tat heranreift.
Die Szene wird schlichtweg mit einem gedoubelten Botwinnik nachgedreht. Denn was die Zuschauer der "Wochenschau" nicht wissen, nicht einmal ahnen können, ist, daß der letzte Zug Botwinniks, der ihm die Ehre des Weltmeistertitels einbringt, nicht von ihm selbst, sondern von dem damals 25jährigen und überaus talentierten Schachmeister Jakow Estrin ausgeführt wird.
Aber das Ganze hat noch ein rührendes Nachspiel. Denn wo mit solcher Gewitztheit der Anschein von Realität neu geprägt wird, geht die Rolle des Hauptakteurs auf die verwendeten Requisiten über, der schelmische Geist wechselt die Behausung, und so kommt es, daß, kaum ist der Bauernzug auf dem Film verewigt, mit einemmal die Mär von der Zauberkraft dieses Bauern in den Köpfen herumspukt.
Und der Bauer beginnt, die anwesenden Zeugen dieser kleinen Gaunerei in einen seltsamen Bann hineinzuziehen, die Grenzen von Sein und Schein schmelzen zusammen und die über dem Ereignis gestülpte Maske einer reinen Vorgaukelung von Fakten nimmt plötzlich die Farbe der Authentizität an. Und so weiß Jelisaweta Bykowa nicht so recht, wie ihr geschieht, als sie zum Schachbrett trottet und den weißen Bauern als Talisman einsteckt. Sie ist aufs unerklärlichste eingenommen von einer Ahnung, die ihr sagt, daß nichts anderes als ebendieser Bauer ihr dazu verhelfen wird, Weltmeisterin der Damen zu werden.
Jelisaweta Bykowa handelt klug, als sie der "inneren Stimme" folgt, denn sie holt sich 1953 tatsächlich den Titel der Weltmeisterin. Und als sie den Titel 1956 an Ludmilla Rubtsowa verliert, hilft ihr der Talisman abermals, zwei Jahre später im Revanchekampf zu siegen und für weitere vier Jahre Weltmeisterin zu bleiben. Und der junge Schachmeister Jakow Estrin bleibt ebenfalls von der Macht des "Zauberbauern" nicht verschont, denn er wird 1963 Fernschachmeister der UdSSR.
Erstveröffentlichung am 24. April 1995
27. Februar 2007
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