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ES GESCHAH.../007: Der Anekdotenkammer siebente Tür (SB)


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Wer kennt nicht die Mär vom Zwerg Naseweis, jenem Schlingel, der gernegroß und klüger noch als klug hat reden von sich machen wollen, als er seinen schlaubergerischen Schatten warf, als gelte es, die ganze Welt in seinen Reigen hineinzumusizieren, doch sich zuletzt nur selbst an den Pranger schwatzte zum Gespött der Bauern und Bürgersleute. Und obgleich dieser Däumling des Geistes in der Geschichte der Menschen in den verschiedensten Gestalten auftrat und ein jedesmal glaubte, in den bizarresten Verlegenheiten noch eine Gelegenheit zu erspähen, sich zur Leuchte der Welt, ja fast schon zum Magneten allen Neides aufspielen zu können, so war es doch kaum eines Federlesens wert, ihn als den Blasebalg der Worte und erschwindelten Taten zu entlarven.

Wer die siebente Tür zur Anekdotenkammer öffnet, der blickt verwundert auf einen Garten voll blühenden Unsinns, denn dies ist das Reich des Zwerges Naseweis, darin alles gedeiht und Quelle ist, was seit Menschengedenken Anstoß war für so manche Schelmengeschichte. Der Vorspann ist beileibe bunt erzählt, das Gemüt genügend gewitzelt und gekitzelt worden, so daß sich nun die Neugier geschwind auf den Weg machen kann, einen Zwerg Naseweis aus dem Dunkel des Vergessens aufzuscheuchen, der um nichts in der Welt nochmals an jene Peinlichkeit erinnert werden möchte, die geschah, als der Vera-Menchik-Klub ins Leben gerufen wurde.

Für alle, die Vera Menchik mehr vom Hörensagen kennen, sei daran erinnert, daß die erste Damenweltmeisterin in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Grundfesten der schachspielenden Männerwelt erschütterte, als sie als erste Frau - und noch dazu ungemein erfolgreich - das in den Turnierhallen alteingesessene Vorurteil ad absurdum führte, den Frauen seien vorausdenkende Pläne Rätsel mit sieben Siegeln.

Die Herren der Schöpfung staunten jedenfalls nicht schlecht, als Vera Menchik zu den großen internationalen Turnieren kam, die bislang immer nur eine Domäne der Männer waren, brillant Schach spielte und durch Siege verblüffte, die niemand einer Tochter Evas jemals zugetraut hatte.

Nun ließ sich nicht verhehlen, daß der Stolz so mancher Männerbrust sich am Stein des Unbehagens gewetzt fühlte, denn die Aussicht, gegen Vera Menchik zu spielen und womöglich zu verlieren, schwärzte als drohender Ehrverlust den Glorienschein männlicher Überlegenheitsgefühle.

Mancher, der die harte Lektion einstecken mußte, beteuerte hinterher mit verkniffenen Lippen, die reizende Dame sträflichst unterschätzt zu haben, mancher schwieg, wie vom Pferd getreten, während sich andere ins Unvermeidliche fügten und die bittere Pille als heilende Medizin gegen ihren Hochmut schluckten. Und ob man sie auch belächelte, Schneid abkaufen konnte sie allemal, so geschehen im Karlsbader Turnier 1929, wo sie neben so renommierten Schachmeistern wie José R. Capablanca, Max Euwe und Aaron Nimzowitsch spielte.

Einer ihrer größten Spötter war der Wiener Meister Becker. Von Natur aus nicht gerade mit Feingefühl gesegnet, verlegte er sich früh auf das beißende Wort, doch da er nur aufs ärmlichste mit guten Sentenzen hausieren ging, wurde er gemeinhin eher gemieden als umlagert. Solch eine Art Mensch sah sich krankhaft genötigt, durch Peinlichkeiten zu glänzen, und so schlug besagter Becker eines Tages im Tonfall prahlerischer Selbstgefälligkeit vor, man möge doch einen Vera-Menchik-Klub gründen, der all jene Pechvögel beherbergen sollte, die gegen Vera Menchik eine Partie verloren.

Nun war Vera Menchik zwar eine resolute Frau, doch im Geist ihrer Zeit zur Zurückhaltung erzogen, und so mißbehagte es ihr, das Getue und Getapse, darin sich der Wiener Rüpel so überaus gefiel, aufs öffentliche Tablett zu bringen. Oder besser gesagt, Vera Menchiks Rache und Revanche für dieses ungehörige Benehmen dürstete auf einen geeigneteren Augenblick hin.

Die Gelegenheit für Herrn Becker, ins Angesicht des Racheengels zu blicken, kam rascher, als er sich gewünscht hätte. Nun saß er der unerschütterlich aufs Schachbrett blickenden Vera Menchik gegenüber, die ihre Figuren mit solch souveräner Gelassenheit zog, daß selbst der größte Eselskopf erkennen konnte, daß hier eine Meisterin ihres Metiers am Werke war. In Erinnerung an das Damoklesschwert, das er sich eigenhändig über den Kopf gehangen hatte, begann Becker seine Partie mit äußerster Vorsicht und suchte sein Schiff vor dem Sturm und Zorn Vera Menchiks in den sicheren Remishafen zu lenken.

Doch wo Becker sich in halkyonische Winde zu flüchten suchte, wählte Vera Menchik Varianten und Zugfolgen, die vor Gift und Gewitter nur so trieften, und alsbald sah sich Becker, der vorher so große Töne auf sich gegeben hatte, genötigt, unbehaglich auf dem Stuhl hin und her zu ruckeln. Seine Meisterkollegen hingegen ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, scharwenzelten auffällig um das Spielbrett herum und beäugten ihn teils mitleidig, teils mit offener Häme, während Becker mehr und mehr vor Scham in sich versank.

Vera Menchik dagegen blieb ganz Fels in der Brandung und achtete der flackernd-flehenden Blicke Beckers nicht, sondern vollendete Zug auf Zug ihre Rache, die um so süßer schmeckte, je elender Becker dabei zumute war. Es kam zur Schlacht, die kaum das Wort Scharmützel verdiente, dann stand Beckers Armee, zersprengt an allen Fronten, vor der Kapitulation und der stolze Wiener König fiel.

"Alle Teufel!" schrie Becker auf, erhob sich rasch, nickte stumm und verließ mit fliegenden Fahnen das Feld, das ihm zum Schandfleck geworden war. Welche Ironie des Schicksals, daß der Urheber der verteufelten Idee sich selbst den Klumpfuß aufgeschwatzt hatte. Der Vera-Menchik-Klub hinwiederum ist über die Jahre um so manch illustren Namen bereichert worden, von denen Jacques Mieses, Frederick Dewhurst Yates, Conel H. O'D. Alexander, Edgar Colle, Max Euwe und Samuel Reshevsky nur einige der bekanntesten sind.


Erstveröffentlichung am 24. April 1995

01. März 2007


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