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ES GESCHAH.../026: Der Anekdotenkammer sechsundzwanzigste Tür (SB)


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In einem schwermütigen Moment sann Robert James Fischer einmal darüber nach, wer von seinen Schachkollegen ihn dereinst auf seinem letzten Gang auf Erden im Trauerzug als Sargträger begleiten dürfte. Am Ende seiner Grübelei kam er auf drei Brettgefährten: Boris Spassky, Lajos Portisch und Andor Lilienthal. Fischers Freundeskreis war offensichtlich eng begrenzt.

Mit Spassky verband Fischer ein heroisches Datum. 1972 hatte der US-Großmeister dem Russen den Titel des Weltmeisters entrissen und damit zumindest für eine kurze Dauer die jahrzehntelange Vorherrschaft sowjetischer Meisterspieler auf dem Thron durchbrochen. Dass die Schlagzeilen selbst in kleinen lokalen Zeitungen das Match in Reykjavik für einen propagandistischen Systemvergleich zwischen der freiheitlichen westlichen und der autoritär kommunistischen Gesellschaftsformation missbrauchten, war für Fischer nur ein ideologisches Bühnentheater, auf das er nichts gab. Als beide 1992 trotz des von der US-Regierung über Jugoslawien verhängten Boykotts in Sveti Stevan ein Revanchematch austrugen, bestätigte Fischer, wie wenig ihm die weltumspannenden Strategiespiele des Weißen Hauses bedeuteten.

Lajos Portisch war Fischer über viele Jahre und Treffen ans Herz gewachsen, er geniesst in der Schachwelt einen untadeligen Ruf, ist ein gewitzter Taktiker auf dem Brett und im Umgang ein Mensch von reifen, vorurteilsfreien Gedanken, stets zuvorkommend, charmant, einer, der sein Herz auf der Zunge trägt. Spassky und Portisch haben wie Fischer auf ihre jeweils individuelle Art Schachgeschichte geschrieben. Wer aber war der Dritte im Bunde, was hatte es mit Andor Lilienthal auf sich?

Sein Name taucht im Buch der Erinnerungen viel seltener auf, nur hier und da blitzen seine Siege auf, aber ein festes Bild will sich im Gedächtnis nicht einstellen. Diese Lücken zu füllen und dabei auf kleine phantastische Einschübe nicht zu verzichten hat sich die sechsundzwanzigste Anekdotenkammer zur Aufgabe gemacht. Was Lilienthal trotz alledem den Nimbus der Unsterblichkeit verlieh, geht im Grunde genommen, sieht man von Ausschmückungen der allgemeinen Art, wie sie sich in jeder Biographie finden lassen, einmal ab, auf eine einzige Partie zurück. Doch davon soll später die Rede sein.

Ein Leben voll Dornen, Mühsal und Schicksalsschlägen war Andor Lilienthal in die Wiege gelegt, als er 1911 in Moskau geboren wurde. Seine Mutter war Opernsängerin und trat seit 1909 auf einer Moskauer Bühne auf, sein Vater arbeitete in der russischen Metropole als Elektro-Ingenieur. Seine Eltern waren aus Ungarn eingereist, mit dabei ihr erster Sohn, der noch in Budapest zur Welt kam, eine Tochter wurde kurz nach der Ankunft in Moskau entbunden. Andor war die jüngste Leibesfrucht ihrer Liebe. Das Familienleben kannte noch nicht den Kummer steiniger Pfade. Das sollte sich freilich ändern, als die Schatten eines drohenden Krieges alle Zukunftspläne, hoffnungsvoll ins Licht gutbürgerlicher Verhältnisse gegossen, mit einem Schlag verdüsterten. Die Lage im Zarenreich verschlechterte sich nicht zuletzt wegen der militärischen Zurüstungen rapide. So kehrte seine Mutter 1913 mit den drei Kindern nach Budapest zurück, der Vater blieb in Russland und geriet während des Ersten Weltkrieges in Kriegsgefangenschaft. Die Heimkehr nach Budapest brachte jedoch keinen Segen, die kleine Familie kam sprichwörtlich vom Regen in die Traufe, als die Mutter krankheitsbedingt ihre Stimme verlor und so ihren Beruf nicht weiter ausüben konnte.

Die Geißel der Zeit verschonte sie nicht, in bittere Armut stürzend musste sie ihre Kinder schließlich in staatliche Obhut geben. Für die Kinder begann eine martervolle Zeit, so jäh der vertrauten Familienbande entrissen und in ein Dasein ohne Halt und Gewähr geworfen, nicht zu wissen, ob der morgige Tag die alten Wunden schließt oder neue aufreißt.

Im Kinderheim lernte Andor den Schneiderberuf, doch die krisengeschüttelten 1920er Jahre boten kaum Perspektive auf Brot und ein warmes Zuhause. Andor fand aller Bemühungen zum Trotz keine Einstellung, und sich als Tagelöhner zu verdingen war angesichts der Millionen unter dem Joch der Nachkriegsjahre verarmten Menschen keinen Ausblick wert. So wurden Not und Existenzängste seine ständigen Begleiter. 15jährig hatte er von seinem Bruder das Schachspiel gelernt. Andor zeigte wohl Talent, aber seinem Spiel fehlte die Erfahrung und notwendige Gewitztheit. Um sich einem Schachklub anzuschließen, waren seine Taschen zu leer, so tingelte er trostlos und verloren durch die hektischen Straßen der ungarischen Metropole.

Ein Überlebenswille, tief und unerschütterlich in ihm verwurzelt, ließ ihn nach einem Ausweg fahnden. Leicht konnte er sich an den Fingern abzählen, dass weder Fleiß noch Zufall ihm ein gesichertes bürgerliches Dasein bescheiden würden. Ungarn ächzte unter politischen Machtkämpfen. Um halbwegs durch die Not zu kommen, musste er an den Rändern der Gesellschaft ums Überleben kämpfen. Aufs Schachspiel warf er all sein Glück und Gelingen, ein messerscharfer Verstand und eine Prise Verschlagenheit sollten ihm dabei helfen.

So kehrte er regelmäßig in den Budapester Cafés ein, wo er um Wettgeld Schachpartien mit den honorablen Gästen austrug und sich ein kleines Einkommen sicherte. In den Kaffeestuben entwickelte er jedenfalls seine Kombinationsgabe, er lernte schnell vom Spiel der anderen, fand gewitzt die Lücken in deren Partieaufbau und preschte mit wilder Angriffswut vor, wann immer sich ihm eine Möglichkeit dazu bot. Kurzum, er spielte Gambits, um das Brettgeschehen rasch ins Taktische und Undurchsichtige zu wenden. Zeit war kostbar, auf lange Strategiegefechte, wie es die edle Kunst des Positionsspiels gebot, durfte er sich nicht einlassen. Schnell mussten die Figuren für eine neue Partie aufgestellt werden. Je mehr Gegner er am Brett niederwarf, desto größer war die Zahl der Groschen in seinen Taschen. Es galt, an einem Abend soviele Partien zu gewinnen, um anderntags für sein leibliches Wohl sorgen zu können, vielleicht auch etwas Kleingeld zurückzulegen für härtere Zeiten und langgehegte Träume.

So wuchs mit der Zeit sein Instinkt bei der Jagd auf die Gimpel aus der schachlichen Provinz, deren Börsen gut genug gefüttert waren, und die er gleichsam als Komödiant der Schachkunst mit dem Versprechen auf Kurzweil und lehrreiche Partien zu einem Wetteinsatz überreden konnte. Die Stammgäste schätzten vor allem seine Angriffsattacken. Nie wurde das Spiel mit ihm langweilig oder abgedroschen, und so zahlten sie gern den kleinen Obolus, den für packende Brettduelle zu entrichten ihnen keine Träne abforderte. Es war dieser Ruch aus Herausforderung und Betrug, der dem Kaffeehausschach immer schon angehangen hatte.

Nun muss man wissen, dass die Kaffeestuben seinerzeit oft auch die Spiellokale angesehener Schachvereine waren, deren Mitgliederzahl jedoch nicht groß genug war, um sich eigene Räumlichkeiten zu mieten. Für die Besitzer der Kaffeestuben war es ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Für dauerhafte Kundschaft war stets gesorgt. Von der Gebühr, um im Café Schach spielen zu können sowie für den Verleih der Bretter und Figuren, fiel der größere Teil an die Wirte, der Rest ging an die Vereine. In den Kaffeehäusern verkehrten also nicht nur Gelegenheitsschacher, sondern auch gestandene Meister. Dort wurden neben freien Partien auch Vereinsturniere und internationale Wettkämpfe ausgerichtet.

In diesen harten Jahren entwickelte sich Andor zu einem leidlich tüchtigen Angriffsspieler, jedenfalls reichte er für das Kaffeehausschach. Gelegentlich in Schachmagazinen zu stöbern, die die Schachliebhaber mitbrachten, vertiefte auch seine Kenntnisse der Schachtheorie, wenngleich er seinem Gambitstil weiterhin die Treue hielt - es war einträglicher.

1929 machte er sich auf den Weg nach Wien, um seinen Vater zu besuchen, der dort seit einigen Jahren lebte. Natürlich versäumte es Andor nicht, auch die Wiener Cafés heimzusuchen, wo um diese Zeit, wenngleich die goldenen, glorreichen Tage des Königlichen Spiels schon ein wenig angerostet waren, noch immer ein üppiges Schachleben aufblühte und die großen Vertreter der Wiener Schachschule, namentlich Rudolf Spielmann, Ernst Grünfeld, Hans Kmoch, Erich Eliskases und Savielly Tartakower, wie Götter aus dem Olymp angebetet wurden. Mitte der 1920er Jahre gab es in Wien etwa 40 Kaffeehäuser, die einen täglichen Schachbetrieb gewährleisteten. In dieser Kaffeehauskultur fühlte sich Andor sichtlich wohl.

Wien war ohne Zweifel eines der Zentren des europäischen Schachs, eine Stätte, die viele wegweisende Gedanken und Konzepte hervorgebracht hatte, und doch fühlte Andor tief in seiner Seele, dass der wahre Schachgedanke hier längst verraucht und verwaschen und hinter die Fassade eines gutbürgerlichen Dünkels getreten war. So trieben ihn seine sehnsuchtsvollen Träume noch im selben Jahr nach Berlin mit seinen vielen historischen Stätten, wo das Schachspiel bereits im 19. Jahrhundert in einem Schmelztiegel der Inspiration die verschiedensten Strategieentwürfe aus den europäischen Kernlanden mit dem kreativen Ideenreichtum der Metropolen Russlands verband.

Über dem windigen Gehsteig fegte buntes Novemberlaub. Auf dem Boulevard Unter den Linden flanierte trotz des unangenehmen kühlen Wetters und der vorgerückten Abendstunde viel Volk: Zeitungsjungen in ärmlich verschlissener Kleidung, die in der Armbeuge die neuesten Ausgaben feilboten, Bierkutscher, die hölzerne Fässer in den Lieferanteneingang rollten, Arbeiter mit schwarzen Schiebermützen, die sich vor den hellen Fenstern der Geschäfte zu kleineren Gruppen zusammenrotteten, um die jüngsten politischen Parolen auszutauschen, dann weiter vorn ein Trupp Offiziere im Armeerock mit blitzenden Knöpfen im zackigen Schritt auf der Suche nach Amüsement in den Seitengassen; den Haupttross der Spaziergänger bildeten jedoch Herren mit Zylinderhüten und warmen Wintermänteln, unterm Arm eingehakt in Halbstiefeln trippelnde Damen in nobler Pelzgarnitur.

Traf am Bekannte, Amtsleute von Ruf oder hochgestellte Persönlichkeiten der Gesellschaft, grüßte man artig, wie es Anstand und preußische Sitte geboten, indem man kurz stehenblieb, die Hacken zusammenstieß und den Körper vom Kopf bis zu den Zehen herunter straffte, um dann in einer wohlerzogenen Aufwärtsbewegung des Arms den Hut zu lüften, während die Damen ein schüchternes Kopfnicken andeuteten.

Andor jedoch hatte nur Augen für das Café König, das inzwischen zum führenden Schachlokal der Stadt avanciert war. Die besten Köpfe Berlins trafen sich dort, um ihre Wettkämpfe auszutragen, aber auch Laien und freie Schachzirkel kamen unter der Woche zusammen zum geselligen Spiel am Brett. Andor kannte den Weg. Er war bereits im Oktober in Berlin angekommen.

Der junge Mann betrat den weiträumigen Saal, der auf beiden Seiten mit Reihen von Tischen bis zur rückwärtigen Wand bestückt war. Der Raum war dicht mit Zigarettenrauch verhangen, der um die Lampen an den Wänden und auf den Tischflächen herumwaberte. Geschäftiges Treiben zwischen den Gängen, Keller servierten auf hölzernen Tabletts Getränke, es roch nach aromatischem Kaffee und schalem Bier. Viele der Tische waren von Kiebitzen umringt, die Blicke starr auf die Schachbretter geheftet. Gedankenschwer saßen Schachspieler auf schmucklosen Stühlen.

Andor wagte sich zunächst kaum tiefer in den Raum hinein. Unter den Gästen und Spielern war er einer der Jüngsten. Praktisch an jedem Tag wurde in diesen Räumlichkeiten der edlen Kunst des Schachspiels nachgegangen. Noch vor einigen Wochen waren hier sechs Partien aus dem WM-Kampf zwischen Alexander Aljechin und Efim Bogoljubow ausgetragen worden. Andor war dabeigewesen, wenngleich mehr als Zaungast und allgemeiner Schachfreund.

Bei dieser Gelegenheit hatte er einige Worte mit Emanuel Lasker gewechselt, der 1921 in Havanna seinen WM-Titel an José Raúl Capablanca verloren hatte. Lasker verhielt sich ihm gegenüber jedoch reserviert, fast unterkühlt, nun ja, Andor hatte noch keinen Namen in der Schachwelt, während Lasker, eine weltweite Berühmtheit, über Jahrzehnte die Schachhallen dominiert und unter anderem Wilhelm Steinitz, Siegbert Tarrasch und David Janowsky in die Schranken verwiesen hatte. An dem Kubaner Capablanca war er dann leider gescheitert, aber das schwüle Klima in Havanna hatte ihm merklich zu schaffen gemacht. Beim Match Aljechin gegen Bogoljubow fungierte er als Schiedsrichter und war daher ziemlich eingespannt gewesen.

Immerhin hatte Andor die Bekanntschaft mit Carl Ahues, Kurt Richter und dem Schachverleger Bernhard Kagan gemacht. Ihre treue Runde verfolgte die Partien der beiden Kontrahenten mit viel Genuss und Hingabe. Aus den Gesprächen und Analysen lernte Andor jede Menge Wissenswertes über planvolle Strategie, Variantenberechnung und die psychologischen Kniffs der Meister, was seinem eigenen Spiel mehr Richtung gab. Ahues war schon etwas in die Jahre gekommen, aber der "Scharfrichter", wie Kurt Richter wegen seiner scharfen Spielweise und seinen taktischen Pointen in der Berliner Szene respektvoll genannt wurde, galt als einer der gewitztesten Denker der Schachkunst, um keine Attacke verlegen und an jedem Brett ein gefürchteter Gegner.

Schach war seinerzeit in den Berliner Kreisen sehr populär. Die Gäste im Café König kamen aus gutbürgerlichen Häusern, Juristen, Beamte, Künstler und Kaufleute, eben akademisches Volk. Für die einfachen Leute in Berlin gab es Arbeiterschachvereine. Die Weimarer Republik trennte die Menschen wie schon in der Kaiserzeit nach Vermögensstand und gesellschaftlicher Reputation.

Andors Blicke zogen an den Gesichtern vorbei. Hier wurde bestenfalls getuschelt, nicht laut gesprochen, um die Gedanken der Spieler nicht zu stören. Einige der Anwesenden erkannte Andor aus Fotographien in Schachmagazinen. Der dort hinten in der Ecke neben der Tür zu den Toiletten mit dem kantigen Gesicht und dem zurückweichenden Haaransatz über der breiten Stirn war zweifelsohne Aaron Nimzowitsch. Im Jahr zuvor hatte er das Jubiläumsturnier der Berliner Schachgesellschaft gewonnen und war auch unter den Gästen gewesen, als Aljechin und Bogoljubow hier um den Titel spielten. Allerdings hatte es Andor nicht gewagt, den Letten anzusprechen, der zwar gerne und oft zu Späßen aufgelegt war, manchmal jedoch mit hartem Blick in die Welt schaute und dann eine angriffslustige Aura verströmte. Berühmt-berüchtigt war denn auch sein Eigensinn, sich bei seinen Meisterkollegen ob seiner vielen ungezählten Schrullen unbeliebt zu machen. Auch heute würde ihm Andor lieber aus dem Weg gehen. Zum Krieg genügte, wie es hieß, ein einziger Trommelschlag.

Als er sich durch das Gedrängel schlängelte, fiel ihm ein älterer Herr auf, der am letzten Fenster in einem Stuhl saß und in eine Zeitung vertieft war. Niemand schien ihn weiter zu beachten. Er machte auf Andor in lebhaftem Gegensatz zur aufgeregten Geselligkeit um ihn herum den Eindruck eines einsamen Pols, wie jemand, der gekommen war, um mit der unermüdlichen Geduld eines Chronisten zu beobachten oder auf ein bestimmtes Ereignis zu warten. Ja, auf Andor wirkte er wie ein Reisender, und jetzt, wo er den Kopf über den Zeitungsrand hob und seine ruhigen eulenhaften Augen in die Runde warf, kreuzte er für einen kurzen Moment die Blicke mit Andor. Dann senkte er die Augen wieder und las weiter.

Andor hingegen strebte zielsicher auf einen Tisch zu, an dem zwei Schachspieler Seite an Seite ein Gespräch führten. Seine Kasse war knapp geworden, er brauchte Geld für seine Pension, Berlin war ein teures Pflaster, auch wenn man seine eigenen Ansprüche für Kost und Logis herunterschraubte. Er musste unbedingt eine Wettpartie gewinnen, und sein Opfer hatte er sich bereits ausgespäht. Vor besagtem Tisch beugte er sich zu dem hohlwangigen Mann mit Brille herunter und fragte: "Haben Sie Lust auf eine Partie um Wettgeld? Ich komme aus Budapest und habe in Wien kurz Station gemacht, aber es heißt, nur in Berlin könnte ich etwas über das Schachspiel lernen."

Der Angesprochene tauschte kurz einen Blick mit seinem rundlichen Freund mit Backenbart aus, der die Lippen belustigt hochzog, als wollte er ausdrücken, was für ein frecher kleiner Vogel, der furchtlos in ein Adlernest klettert.

"Nun, mein junger Freund", erwiderte der Schmalgesichtige, "ich spiele heute abend noch ein Turnier, aber bis dahin wäre ich gern bereit, um des Vergnügens willen mit dir eine Partie zu spielen. Sind 30 Pfennige genug?"

Andor nickte zustimmend und setzte sich nieder. Das Los wies ihm die weißen Steine zu. Als ein Kellner herantrat, bat er um eine Fekete, ein kleiner schwarzer, stark gekochter Kaffee, wie er in Ungarn gerne getrunken wurde. Der Kellner blickte ihn verständnislos an und auch die beide Schachfreunde ihm gegenüber konnten nicht an sich halten und mussten schelmenhaft lächeln. Der mit dem Backenbart grölte: "Mag sein, dass du im Café Moka Efti, das nunmehr im Gebäude des Equitable-Palastes residiert, eine Fekete bekommst, was immer das sein mag, aber im Café König ganz sicher nicht."

Andor bestellte darauf einen Kaffee nach Berliner Art und der Keller schob mit der Bemerkung: "Wenn's sonst nichts weiter ist!" auf und davon.

Andor machte seinen ersten Zug und die Partie entwickelte sich schnell zu einem wilden Gambitreigen. Zwei Bauern hatte er bereits geopfert, um die Angriffsstraßen zum schwarzen König aufzubrechen. Sein Brettrivale zog die Stirn kraus, er hatte mit einem blutjungen Anfänger gerechnet, der die Eröffnungen gerade so hinbekam, aber was ihm nun entgegenschlug an taktischem Draufgängertum, ließ ihn die Luft scharf einziehen. Sein Nachbar stieß ihn gegen die Schulter und sagte: "Oho, der ahmt ja tatsächlich Paul Morphy nach. So spielte er vor einem halben Jahrhundert, als er Europas Elite auf die Klippen warf!" Und zu seinem Freund gewandt, fügte er hinzu: "Sei auf der Hut, Adlerschwinge!"

Ein Geräusch zu seiner Rechten ließ Andor den Kopf dorthin wenden, und überrascht stellte er fest, dass der Alte mit dem Eulenblick und den buschigen Augenbrauen sich von seinem Fensterplatz entfernt hatte und nun mit einer Mischung aus Neugierde und Verwunderung sein Spiel studierte. Andor nickte kurz und konzentrierte sich wieder auf das Brettgeschehen. Sein Springer schlug ins gegnerische Zentrum ein, gleich darauf opferte er einen Läufer, um die Mittellinien ganz zu öffnen. Derart entblößt geriet der schwarze König in die Schusslinie der weißen Türme, und nach einer Hetzjagd über das halbe Brett hauchte er im Würgegriff der weißen Dame sein Leben aus. Im Gesicht seines Kontrahenten regte sich Ratlosigkeit darüber, dass er so rasch übertölpelt worden war.

"Noch eine Partie?" fragte Andor.

Der andere schüttelte müde den Kopf und sagte: "Junger Freund, ich habe heute noch eine Turnierpartie zu spielen. 30 Pfennige zahle ich gern, wenn du jetzt verschwindest!"

Andor erhob sich und trat an die Theke. Hinter sich hörte er das Klirren von Kaffeetassen. Von einem der Nachbartische drang der Ausruf wilder Wut an sein Ohr. "Zum Teufel mit dem Haderlump! Er nimmt einen Zug zurück!" Ein Tumult drohte sich zu entladen, als eine kräftige Baritonstimme wieder für Ruhe sorgte: "Sachte! Sachte! Kein Kriegsgeschrei, ich hatte die Figur noch nicht losgelassen."

Als Andor den Kopf zur Seite drehte, bemerkte er neben sich den Alten mit den geheimnisvollen Eulenaugen, der ihm ein vieldeutiges Lächeln zuwarf. "Heute bist du den Adlerhieben entkommen, mein junger Prometheus, soviel Glück wirst du nicht immer haben."

"Kenne ich Sie?" fragte Andor, verwundert über die seltsamen Worte des Unbekannten.

"Vielleicht bin ich dir in deinen Träumen begegnet? Aber nein, mein Name spielt keine Rolle, doch ich liebe das Schachspiel, und was ich heute von dir gesehen habe, hat mich entzückt, nur schade, dass du dein Talent so unter Wert verkaufst."

"Es ist wahr, ich spiele Kaffeehausschach, um über die Runden zu kommen. Zu Größerem bin ich nicht berufen", entgegnete Andor mit verlegenem Unterton.

"Daran ist nichts auszusetzen. Viele namhafte Meister der Vergangenheit fingen so an, das Kaffeehaus war ihr Labor, aber sie waren klug genug zu wissen, dass ihr Gefieder, um den Abgrund zu überspannen, zum Himmel aufstreben muss. Die Börse von Narren ist zu eng für ihre Schwingen."

Andor fühlte sich plötzlich in seinem Stolz herausgefordert und schnippisch warf er daher ein: "Habe ich den schwarzen König denn nicht elegant zum Matt gehetzt?"

Der Alte nickte und doch lag Trauer in seinen Augen. "Das schon, mein mutiges Vögelchen, aber dein Angriffsmanöver war dennoch nicht korrekt, aus dem Stegreif heraus gespielt, der Laune verpflichtet, nicht wirklich tief durchdacht, eher glich es dem Flug in einem Käfig denn einem Himmelsritt auf Winden. Es reichte für den einfältigen Caliban, der sich von deinem wilden Flügelflattern betören ließ. Der Lärm der Bühne und die Prahlsucht in seinem Kopf, mehr scheinen zu wollen, als er jemals sein wird, verwirrten die Gradheit seiner Gedanken, dass er die Widerlegung nicht fand, doch in der Klosterstille eines Turniers, wo man den Staub zu Boden rieselnd noch hört, hätte man dir deine Federn zerrauft und deine Flügel gebrochen. Und in deinem Herzen weißt du es auch. Aus gutem Grund suchst du dir deine Wettgegner mit kalkuliertem Bedacht aus."

In Andor brannte eine Wunde, in der ein Stachel saß. So offen und freimütig hatte noch niemand mit ihm gesprochen und darüber sein Verborgenstes aufgedeckt. Doch Wut beschlich ihn nicht, er empfand eher Scham.

"Was mir an Eröffnungstheorie fehlt, kompensiert das Gambit. Im Durcheinander wilder Stellungen fühle ich mich zu Hause. Ich spiele taktisch, weil es mir an Turnierpraxis mangelt", räumte Andor unumwunden ein.

"Du sprichst von deinen Kinderjahren und hast gut in sie investiert und dabei eine Fülle taktischer Wendungen in kürzester Zeit gelernt, wofür sich andere ein Leben lang abmühen. Deine Sporen hast du dir redlich verdient, werde nun ein Mann und Meister der Kunst. Du ahnst nicht einmal im geringsten, wie viel Potential in dir steckt. Lerne, über das Ziel hinaus zu schauen, mein gefesselter Prometheus, noch hast du nicht Feuer vom Himmel regnen lassen, doch wenn du auf meine Worte hörst und deine Wege überdenkst, wird der Tag kommen, an dem du einen Olympier niederstreckst. Besinne dich."

"Wie werde ich die Ankunft jenes Tages erkennen?"

"Wenn du es bis dahin nicht weißt, wird der Ruf einer Eule dich daran erinnern."

Dann verabschiedete sich der Alte und ging zur Tür hinaus. Andor blieb noch bis zum Jahresende in Berlin, aber den Alten sah er nie wieder, was er von Herzen bedauerte, aber er wusste zugleich, dass es nicht mehr zwischen ihnen zu besprechen gab. Die Fesseln des Gemarterten abzustreifen lag nun in seinen Händen.

Von Berlin aus reiste er nach Paris, wo er die Schachcafés aufmischte und einen Salonlöwen nach dem anderen bezwang, doch im Heimlichsten seiner Gedanken wusste er, dass er nur Tote plünderte, nicht mehr war als ein leichenfleddernder Ghoul in der Gruft verlorener Träume. Aber dennoch wurde man auf seine Siege aufmerksam und lud ihn im selben Jahr erstmals zu einem internationalen Turnier in Paris ein, wo er einen respektablen vierten Platz belegte. 1933 erhielt er eine Einladung zum renommierten Weihnachtskongreß in Hastings, ein epochaler Schritt auf seiner Karriere, denn dort verkehrten die Besten der Zunft, und Andor bestand die Prüfung und wurde gemeinsam mit Aljechin Zweiter hinter dem Turniersieger Salo Flohr. Auch im Jahr darauf löste er ein Ticket in den südenglischen Badeort. Nun besaß sein Name eine gewisse Strahlkraft, aber der Eulenruf hatte ihn noch nicht ereilt. Am Neujahrstag des Jahres 1935 traf Andor auf keinen Geringeren als den Ex-Weltmeister José Raúl Capablanca, die 'Schachmaschine', der in seiner langen Karriere nicht mehr als 36 Partien verloren hatte und von 1914 bis 1927 nur fünfmal eine Niederlage quittieren musste.

Dem Kubaner auch nur einen unspektakulären, zähen Arbeitssieg abzunehmen, galt bereits als klassische Heroentat. Als Andor der Legende Capablanca vor dem Partiebeginn die Hand schüttelte, spürte er die Last von Jahrhunderten auf seinen Schultern. Ein Remis vielleicht, an mehr war nicht zu denken, aber auch nur, wenn der Kubaner nach der Sylvesternacht friedfertig gestimmt war. Andor spielte mit den weißen Steinen und bot im 9. Zug ein Bauernopfer an, das Aljechin im Jahr zuvor in Hastings gegen Erich Eliskases in die Turnierpraxis eingeführt hatte. Die Partie endete nach wilden Turbulenzen mit einem Remis. Andor hatte die Begegnung seinerzeit mit großem Interesse verfolgt. Anders als Eliskases ging Capablanca getreu seinem Stil den Verwicklungen aus dem Wege, bis er in der kritischen Stellung der Versuchung, Material zu gewinnen, nicht widerstehen konnte. Seine Dame hatte auf e4 einen Bauern geschlagen und bedrohte von dort die ungedeckte weiße Königin.

Andor lehnte sich im Stuhl zurück, ein leichter Sog erfasste seine Gedanken und in seinen Ohren vernahm er ganz schwach den nächtlichen Ruf einer Eule. War der Tag, den ihm der Alte in Berlin geweissagt hatte, nun endlich gekommen? Andor vertiefte sich in die Stellung und vor seinem taktisch versierten Auge bot sich ihm plötzlich eine schwindelerregende Kombination dar. Er ließ seine unbewachte Dame einfach stehen und schlug mit seinem Bauern auf e5 den schwarzen Springer auf f6. Capablanca musste das Damenopfer annehmen und wurde nach 26 Zügen regelrecht zerlegt. An diesem Tag schrieb Andor Schachgeschichte, die Perle von Damenopfer, gegen einen Riesen der Schachkunst erfolgreich und untadelig erstritten, machte seinen Ruf unsterblich. Kein Kombinationsbuch darf, will es etwas auf sich halten, an dieser Partie vorbeigehen, die unzweifelhaft zu den schönsten Damenopfern der Historie zählt.

Lilienthal selbst hat den Schachthron nie bestiegen. Sein Ehrgeiz wählte einen anderen Weg. Mit Wassily Symslow war er eng befreundet und unterstützte ihn in seinem WM-Kampf gegen Michail Botwinnik. Lange Jahre war er auch Trainer und Sekundant der Weltmeisterlegende Tigran Petrosjan. Als Lilienthal am 8. Mai 2010 mit 99 Jahren seinen letzten Atemzug aushauchte, hatte der Knabe, der einst die Cafés in Budapest, Wien, Berlin und Paris unsicher machte, sich seinen Lebenstraum erfüllt.



1. Dezember 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 170 vom 4. Dezember 2021


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