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ES GESCHAH.../028: Der Anekdotenkammer achtundzwanzigste Tür, Schachgeister, Teil 1 (SB)


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Was ein Genie sein soll, ein Mensch mit kolossaler Denkkraft, darüber lässt sich weitschweifig streiten. Jedenfalls hat sich der Genius in den Zeitenläufen inzwischen rar gemacht. Fände man heute einen unter Tausend, der diesen Namen zu tragen verdient, wäre es gut getanes Tageswerk, doch dienen müsste er nur seiner Leidenschaft. Ansonsten rollt mit dem Golde bloß sein Ansehen ins Tal hinab. Die Adlerschwinge will hoch hinauf. Als begründet genommen werden darf, dass ein Mensch, der sich mit einem solchen Titel schmückt, nicht allein auf einem Spezialgebiet brillieren müsste, sondern mit scharfem Verstand und einzigartiger Intuition die gesamte Breite geistiger und intellektueller Herausforderungen, wie sie Wissenschaft, Kultur und Kunst aufbieten, im Sturme aufwirbelt und kraft kühner Ideen und Entwürfe die Grenzen seiner Zeit um Jahrhunderte überspringt.

Im Schach hat man es sich angewöhnt, von einem Genie zu sprechen, wenn ein Meister dieser Kunst, so sie denn mehr ist als ein Spiel und gleichrangig mit der gelehrten Wissenschaft, seiner Epoche einen fortwirkenden Stempel aufdrückt. Wer war das erste Genie in der Geschichte der stummen Schachzüge? Philidor vielleicht? Immerhin konnte er Noten und zugleich die Notation im Schach lesen, Musikstücke komponieren und Schlachten auf dem Brett zu seinen Gunsten lenken. Aber so sehr man ihm auch eine Besessenheit auf dem Gebiet der Schachkunst unterstellt, viel mehr, als dass er den Bauern zur Seele des Spiels erklärte, hat er alles in allem nicht zustandegebracht, eben aufgerüttelt und in eine lose Theorie verpackt, was der Zeitgeschmack gewohnheitsmäßig ohnehin spielte, nicht aber als Priorität begriff. Der Nachwelt war es dann zu verdanken, dass Philidor in den himmlischen Pantheon erhoben wurde. So geht es vielen, deren Taten, kaum göttergleich zu nennen, erst durch den Ruhm der Zeiten an Strahlkraft gewinnen. Manches von dem, was Philidor als oberste Maxime verstand, gilt heute als revidiert.

Und Paul Morphy? Zumindest sorgte er mit seinem Sieg beim ersten amerikanischen Schachkongress für Aufsehen in einem Land, das nicht zu den führenden Schachnationen zählte und beileibe nicht auf eine blühende Schachtradition zurückblicken konnte. Mit seiner Ankunft in Europa sprach plötzlich die ganze Welt von ihm. Was zuvor niemandem gelungen war, vollbrachte Morphy elegant aus dem Handgelenk, als er die Galerie der besten Schachdenker des alten Kontinents mit der Urgewalt eines Wirbelwinds leerfegte.

Morphy verstand es wie kaum ein anderer, das Prinzip der schnellen Figurenentwicklung in Verbindung mit seinem stoßsicheren Kombinationsgeschick zu einem Degen von tödlicher Präzision zu formen. So gesehen war er sicherlich ein hervorragender Taktiker. Die Rede ging, er müsse von einem anderen Stern kommen. Doch selbst im Moment vor dem schwindelerregenden Siegeszug schien um seine Mundwinkel der Hauch einer tiefen Melancholie zu liegen, wie Spinnenweben, die nie zerrissen. Kündigten sich hier schon die ersten Anzeichen einer schweren Gemütskrankheit an? In die Staaten zurückgekehrt, verfiel Morphy, als er den von ihm angestrebten Anwaltsberuf zunächst wegen des Sezessionskrieges und später aus Mangel an Klienten nicht ausüben konnte, in Depressionen und verstarb schließlich in geistiger Umnachtung. Was von seinem Namen in Erinnerung blieb, war eine knapp zweijährige schillernde Erfolgsgeschichte. Aber war er deswegen ein Genie?

Wie immer man es dreht und wendet: Ein Genie in der Schachgeschichte scheint jemand zu sein, dem etwas Geheimnisvolles anhaftet, dessen Wirken in die Turnierhallen mit der hellen Wucht eines Blitzes einschlägt. Seine Erscheinung hinterlässt im Gedächtnis aller, die das Glück hatten, ihn kennenzulernen und gegen ihn zu spielen, ein rätselschweres Stirnrunzeln.

All diese Elemente der Unbegreiflichkeit vereinigte in seiner Person Sultan Khan. Ähnlich wie bei Morphy beschränkte sich seine Schaffenszeit auf wenige Jahre, und gleich ihm erhellte er mit dem Licht einer aufgehenden Sonne die Turnierstätten Europas. Als er von der Bühne abtrat, genauso plötzlich, wie er aus einem fernen asiatischen Land gekommen war, wusste die Welt von ihm kaum mehr als den Namen. Wer war dieser Mensch Sultan Khan, der wie ein Meteor am europäischen Schachhimmel auftauchte, um dann gegen eine dunkle Nacht zu verglühen? Mit dieser Frage öffnet sich die Tür zur achtundzwangzisten Anekdotenkammer.

Wenn man den Dokumenten Glauben schenken darf, wurde Sultan Khan 1905 in einer kleinen Stadt im Sargodha-Distrikt geboren. Ein Landstrich, der seinerzeit noch indisches Hoheitsgebiet und damit Teil von Britisch-Indien war, nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch als Provinz Punjab zu Pakistan gehört. Wirklich reich war seine Familie wohl nicht, gehörte aber auch nicht zur armen Landbevölkerung. Dass Sultan Khan heutzutage in Indien wenig bis gar nicht bekannt ist und schon gar nicht die Rolle eines Volkshelden spielt, erklärt sich aus seiner religiösen Zugehörigkeit und dem Umstand, dass er einer niederen Kaste entstammte, die in der kulturellen Seele Indiens keine Bedeutung besaß und deren Vertreter niemals in der Geschichte des Landes im Licht der Öffentlichkeit standen.

Sultan Khan war neun Jahre alt, als er das Schachspiel von seinem Vater erlernte. Nun muss man wissen, dass es sich dabei um eine indische Linie des Schachspiels handelte, die in diesem Kulturkreis seit dem 17. Jahrhundert eine eigene Entwicklung und Ausprägung erfahren hat und Elemente des arabischen als auch europäischen Schachs enthielt. Sie weist bei alledem einige markante Unterschiede zum europäischen Schach auf. So darf ein Bauer im indischen Schach von seiner Anfangsposition aus keinen Doppelschritt ausführen. Aus selbigem Grund ist das En-passant-Schlagen dort unbekannt. Auch die Rochade kannten die Inder nicht, was nicht weiter verwunderlich ist, zumal die Araber diesen gemeinsamen Zug mit König und Turm ebenfalls nie praktiziert haben. Tatsächlich ist die Rochade eine genuine Erfindung der Europäer.

Erst spät mit zwanzig Jahren lernte Sultan Khan das europäische Schach kennen, und nach nur zwei Jahren Praxis mit diesem für ihn zwar nicht gänzlich fremden, so aber doch ungewohnten Regelwerk gelang ihm der große Wurf, als er 1928 in Neu-Delhi die sogenannte "All India Championship" gewann. In dem neunrundigen Wettkampf gab Sultan Khan nur ein einziges Remis ab und sicherte sich die Meisterschaft mit 8,5 Punkten.

Zu dieser Zeit stand er bereits in den Diensten des Militärs und Politikers Umar Hayat Khan, eines in Sargodha einflussreichen Großgrundbesitzers, der das Talent von Sultan Khan früh erkannt und dafür gesorgt hatte, dass sein Schützling das Schach der Europäer erlernte. Ende 1928 reiste Umar Hayat Khan zu diplomatischen Gesprächen nach Großbritannien. Er galt als überzeugter Anhänger der britischen Krone. Gleichwohl waren die Zeiten unruhig und turbulent, in der Kronkolonie gärte der Unmut der Inder gegen die Steuer- und Verwaltungspolitik der Briten. So war London auch in hohem Maße beunruhigt vom politischen Bestreben Indiens nach Unabhängigkeit. Ein wichtiger Absatzmarkt mit Abermillionen Konsumenten drohte für die britischen Waren verlorenzugehen.

Sultan Khan begleitete seinen Herrn als Teil des Personals bei dieser Amtsreise. Dies geschah mit Bedacht, spekulierte Umar Hayat Khan doch darauf, ihn im Sinne einer weichen Diplomatie den britischen Eliten als veritablen Schachspieler präsentieren zu können. Denn die Briten liebten das Schach, vergötterten es gar als den tiefgründigsten Ausdruck des von ihnen geschätzten gesunden Menschenverstandes. Und doch litten sie unter der Kränkung, dass sie, die einer Welt den Marschbefehl gaben und sich als moralische Speerspitze der Zivilisation dünkten, auf einem engumgrenzten Brett mit 64 Feldern, kaum größer als ein afrikanischer Kochkessel, der emporkriechenden Konkurrenz aus Frankreich, Deutschland, Russland oder Staaten, deren Namen kein Schulkind kannte, in der Vergangenheit immer wieder den kürzeren gezogen hatten. Umar Hayat Khan wusste um diese Wunde der Briten, und er wusste auch, dass ihr Hochmut grenzenlos war und die Inder verachtete, weil sie, wie die Affen es tun, mit den Fingern aßen, im Rindvieh eine Gottheit verehrten bzw., wenn sie Muslime waren, den Verzehr von Schweinefleisch ablehnten.

Als im Frühjahr 1929 auf Anregung von Umar Hayat Khan in London ein Trainingsturnier organisiert wurde, traf Sultan Khan auf drei namhafte Vertreter des britischen Schachs: H.G. Conde, William Winter und Frederick Yates. Der Kontrast hätte nicht größer sein können, als der kleingewachsene Inder mit dem engumwickelten Turban auf dem Kopf an der Seite seines Herrn in den Spielsaal trat, begafft aus staunenden Augen, die mehr Verwunderung als Missfallen ausdrückten, denn selbst in einer Kulturmetropole wie London waren Begegnungen mit Angehörigen der Kolonialvölker nichts Alltägliches.

Als der junge Mann mit dem olivgrünen Teint seine Gastgeber mit einem devoten Lächeln begrüßte, das sich seltsam verkrampft um seine Lippen spannte, weckte er eine gewisse Neugierde in den Blicken seiner Herausforderer. Sultan Khan war in einen engen Frack gekleidet, ganz wie es sein Herr von ihm gewünscht hatte. Britisch, mondän, elegant sollte seine Erscheinung wirken, aber er selbst kam sich dennoch vor wie ein verschnürter Baumwollballen, wie eine nach fremdem Belieben ausstaffierte Modepuppe, den leicht eingeschüchterten Blick starr auf den Holzfußboden gerichtet.

In London verkehrten die besten Schachmeister Europas. Wie sollte er es mit ihnen aufnehmen können? Gegen seine Landsleute zu spielen, hatte ihm nie Kummer bereitet. Er fühlte sich ihnen gleichgestellt, nun aber, hineingeworfen in einen weiträumigen Saal, der so gänzlich anders roch als die Hütten seiner Heimat, mit kostbaren Möbeln, die an ein Fürstenpalais erinnerten, wurde ihm seine geringe Herkunft erst richtig bewusst. Selbst der Schemel in der Ecke, dachte er, wiegt zehnmal den Wert meines Hausrats auf.

Trotz des brennenden Kamins war ihm kalt zumute. Oh, wie vermisste er die schwüle, würzige Luft indischer Nächte. Die Züge huschten wie wandernde Schatten über das Schachbrett. Wie nicht anders zu erwarten, spielte Sultan Khan seine Partien schwach, obwohl er sich Mühe gab, die strategische Bedeutung der Züge seiner Gegner nachzuempfinden. In London spielte man anders als in Neu-Delhi, sein Eröffnungswissen wirkte stolpernd und unbeholfen. Am Ende des Wettkampfs teilte sich Sultan Khan mit Conde den letzten Platz hinter den Co-Siegern Winter und Yates.

(Fortsetzung folgt)

17. Mai 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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