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SCHACH-SPHINX/05457: Renaissance oder Fraktur? (SB)


R.G. Collingwood ist mit Sicherheit kein Kulturpessimist im engeren Sinne, geschweige denn blind für die Fakten, und partout will er nicht glauben, was sich Schönredner und Historiker mit Scheuklappen gern alles zusammenreimen über den Unwert des Mittelalters. Ein Wasserklosett macht schließlich noch keinen Evolutionssprung aus. Aber hören wir ihn selbst: "Im ersten Licht jenes Tagesanbruchs, als Kunst, Religion und Philosophie, gekräftigt durch ihre lange mittelalterliche Tradition intimer gegenseitiger Beziehungen, sich verselbständigten und plötzlich Wunder zu wirken begannen, möchte man es den Menschen nachsehen, daß sie glaubten, das Geheimnis ihres Erfolges läge in ihrer Verselbständigung. Aber das Gegenteil wurde bald offenbar. Jeder einzelne Wissenszweig neigte mehr und mehr dazu, seine Anhänger in eine Art Wüste zu führen, wo die Welt menschlichen Lebens aufhörte und jedes Motiv zum Vorwärtsschreiten verlorenging. Jeder einzelne Zweig tendierte dahin, zu einer spezialisierten Beschäftigung zu werden, der Spezialisten um des Beifalls anderer Spezialisten willen nachgingen, die aber für die übrige Menschheit nutzlos und sogar für den Spezialisten unbefriedigend war, wenn er sich selbst fragte, warum er ihr nachginge. Dies ist der Punkt, an dem wir heute angelangt sind." Im Schachspiel wird das Spezialistentum nicht minder hochgehalten als Schild gegen die Dümmlichkeit der sogenannten Schachraubritter von früher. Wieviel ist dran an diesem Vergleich und Waffengang? Die Verstorbenen können sich natürlich nicht mehr mit Wort und Tat wehren, und die Demontage selbst großer Schachlichter wie Paul Morphy kommt immer mehr in Mode. Schachtalent besaß er wohl, sagen die Historiennörgler, aber seine Umwelt spielte auch schwach und war kaum geübt in moderner Schachstrategie! Wie bewertet Collingwood diesen Streitpunkt, gemessen an allgemeineren Maßstäben: "Im Mittelalter war der Künstler vielleicht kein großer Künstler, der Philosoph war nach unseren Maßstäben nur mäßig philosophisch und der Fromme war nicht übertrieben fromm, aber sie alle waren Menschen, mit ungeteiltem Herzen und sicherer Lebensauffassung. Heutzutage können wir uns so künstlerisch, so philosophisch, so religiös gebärden, wie wir wollen, aber wir verstehen einfach nicht mehr, Mensch zu sein. Wir sind menschliche Bruchstücke und Wracks und wissen nicht, wie wir das Leben in den Griff bekommen und wie wir es anfangen sollen, das Glück zu finden, das wir nach eigenem Wissen nicht besitzen." Glücklich, wer mit den schwarzen Steinen eine solche Angriffsstellung im heutigen Rätsel der Sphinx aufbauen konnte. Der englische Großmeister Miles fühlte sich daher in der Tat wie ein Renaissancemensch, und er hatte Grund dazu. Ob sein rumänischer Kontrahent Lupu die Schottische Partie nun mittelalterlich behandelt hatte oder nicht, nach dem zu erwartenden schwarzen Zug 1...Sb4xd5 hoffte er, sich mit der Rochade aus dem Schlimmsten retten zu können. Ob ihm dies gelang, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05457: Renaissance oder Fraktur? (SB)

Lupu - Miles
Amsterdam 1994

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Auch ohne Computerbeistand fand Meister Polajzer den siegreichen Zug 1...Tb5xb2! Wegen akuter Grundreihenschwäche gab Meister Mihalcisin umgehend auf, denn 2.Td2xb2 scheiterte an der Mattverstopfung 2...Td4- d1+ und 2.Kh1-g1 verlor prompt wegen 2...Tb2xd2.


Erstveröffentlichung am 18. Mai 2002

27. April 2015


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