SCHACH-SPHINX/05975: Partie mit einem Toten (SB)

Wenn eine Religion, zu welchem Zweck auch immer, sich etwas Sphärisches wie die Seele erfindet, die dann, von teuflischen Intrigen umdroht, in den Widerstreit zweier Mächte gerät, so kann es selbstredend nicht verwundern, daß in der Logik der Dinge irgendwann sogenannte Medien auftauchen und als Mittler einen Kontakt zwischen den Toten und den Lebenden herstellen. Die Idee einer Zwischeninstanz ist schließlich so alt wie die Kultur selbst, nur nannte man sie früher Priester. Daß aber, will man den Gerüchten Glauben schenken, ein prominentes Mitglied der großen Schachgemeinschaft mit einem verstorbenen Zunftbruder zum Zwecke einer Partie einen dieser Geisterseher um Hilfe anging, mag in der Tat wunderlich wirken. Allein, wir haben im Schach schon Schlimmeres erlebt. So hat eine Partie mit einem Toten nichtsdestominder etwas rührend Menschliches an sich, während das Spiel mit einem Computer nicht anders als mit einem Rückfall in animistische Kleinhirn-Vernebelungen in Verbindung gebracht werden muß. Bedenkt man jedoch, daß in jedem guten Haushalt heutzutage solch ein Götze seinen Altarraum besitzt und eifrig angebetet wird, so muß man sich einmal mehr fragen, wessen sich der menschliche Verstand eigentlich so rühmt. Schon die Propheten im Alten Testament warnten vor den Götzen aus Holz, wer aber warnt die neue Zeit vor den Gebilden mit Ersatzmensch-Funktion? Im heutigen Rätsel der Sphinx geht es daher ganz menschlich zu, oder anders gesagt, Meister Tarrasch, mit Schwarz am Zuge, hatte einen recht lebendigen Einfall. Also, Wanderer, wider die Götzenbilder!

Hahn - Tarrasch
Halle 1883

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Unsterblich war Anderssen Opferidee 1...Sf5-g3+? 2.h2xg3 Tf8-f6 nun in der Tat nicht, denn sein Kontrahent Paulsen gewann mit der schlagfertigen Erwiderung 3.Tf1-f2! eine Figur und später die Partie. Wegen der Deckungsbedürftigkeit des schwarzen Damenturms durfte sich die Dame nicht am Turm auf f2 vergreifen und so fand der weiße König auf g1 ein rettendes Schlupfloch.

Erstveröffentlichung am 11. Oktober 2003

01. Oktober 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang