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SCHACH-SPHINX/05980: Wenn Unfreiheit meutert, ... (SB)


Große Geister hat die Schachkunst nur wenige hervorgebracht, auch wenn die Literatur das Gegenteil behauptet und auf vielerlei Partien von Meistern verweist, die in sich zwar wundervoll durchdacht und von scharfen Pointen begleitet sind. Allein beim näheren Betrachten dieser Partien fällt unangenehm ins Auge, daß sie einander fürchterlich ähnlich sind. Wüßte man es nicht besser, so müßte man annehmen, sie hätten voneinander abgeguckt. Sie spielten die Partien jeder für sich, ganz unstrittig, aber ihre Gedanken entstammten derselben Scholle. Wie ein Sämann streuten sie ihre Saat auf die Fruchtbarkeit des Bodens aus und ernteten die reifen Früchte ihrer Mühen, und doch war ihre Hand bloß Werkzeug eines ganz anderen Willens. Nicht religiös darf man diese Worte verstehen. Einen edlen Geist und Übervater hatte vielleicht Schiller nötig, als er seine Feder ins Tintenfaß stieß, und auch Kant war davon überzeugt, daß ein Prinzip, Vernunft genannt, die Handlungen der Menschen durchziehen müßte. Wenn Unfreiheit meutert, hinterläßt sie jedoch keine Spuren, der Bruch ist ohne Vergleich, keiner Nachahmung zugänglich. Was große Meister groß sein läßt, ist nicht das Allgemeinverständliche der Theorie, die sich als Nachlaßverwalter jeden Gedanken einverleibt und paßförmig macht. Es ist auch nicht die Partie selbst, die ja durch den Willen des Kontrahenten stets eine Trübung erfährt. Der Augenblick der Meuterei, wo die Fessel ihre Gewalt verliert und zur Wirkung wird, ist etwas anderes, das nur mit einem Wort berührt werden kann: Unumkehrbarkeit. Die Wiederholung ist vergewaltigte Freiheit. Doch bis zum unumkehrbaren Schritt soll uns einstweilen das heutige Rätsel der Sphinx erfreuen, Wanderer, wo Meister Capablanca, mit Schwarz am Zuge, den Knoten des Endspiels auf echt alexandrische Weise zerschlug!



SCHACH-SPHINX/05980: Wenn Unfreiheit meutert, ... (SB)

N.N. - Capablanca

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Nach 1.Sc3-d5! c6xd5 2.Dd3xd5+ Sd6-f7 3.Dd5xa8 Le8-c6 glaubte Meister Wisozki, Tals Dame gefangen zu haben, allein 4.Lc5-b6!! a7xb6 5.Td1-c1 belehrte ihn eines Besseren und nach 5...Lc6xa8 6.Tc1xc7 Tf6-c6 7.Th1- c1 Tc6xc7 8.Tc1xc7 Sc8-d6 9.Sb3-d2! Lg7-f8 10.Le2-c4 war der weiße Stellungsvorteil so unanfechtbar, daß Tal nach einer unersprießlichen Gegenwehr schließlich gewann.


Erstveröffentlichung am 16. Oktober 2003

06. Oktober 2016


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