Schattenblick → INFOPOOL → SCHACH UND SPIELE → SCHACH


REZENSION/006: Dr. Karsten Müller - Endspiele der Weltmeister (DVD) (SB)


Dr. Karsten Müller


Endspiele der Weltmeister

Von Fischer bis Carlsen



Was kann man von den Weltmeistern im besonderen lernen? Fragt man den Hamburger Großmeister Karsten Müller, so lautet die Antwort: vor allem die hohe Endspielkunst. Obgleich ihre Stile und Auffassungen vom Schachspiel unterschiedlich gewesen sind, war dennoch allen gemeinsam, daß sie das Schach ihrer Zeit maßgeblich beeinflußt und dank ihres epochales Wirkens weit in die Zukunft hineingewirkt haben. Neben kombinatorischen Perlen auf allen Feldern der Taktik schufen sie unterdessen auch Werke von bleibendem Wert für die Handhabung komplexer Endspielpositionen, die bis heute Leuchtturmcharakter besitzen.

Nun ist es nicht so, daß der Wurf einer genialen Eingebung sie geschaffen hat oder daß sie ausschließlich als Folge einer streng durch Logik untermauerten Rechenkunst entstanden sind. Geformt hat sie in erster Linie das enge Nadelöhr der Herausforderung unmittelbar am Brett. Ein Meister von Rang ist insbesondere im Hochleistungsbereich prestigeträchtiger Turniere wie Kandidaten- und Weltmeisterschaftskämpfe, die eine lange Vorbreitungszeit erfordern, derart in die strategischen Kämpfe und Konvulsionen auf dem Brett eingebunden, daß ihm im zunehmenden Fortgang der Partie gewissermaßen ein intuitives Erfassen der letzten Reserven, die unentdeckt in einer Stellung schlummern, zuwächst. So ließe sich auch erklären, daß Weltmeister in ihrem Schaffensdrang mitunter in Randgebiete des Denkens vorstoßen bzw. Muster und Manöver für die Nachwelt prägen, die sich exorbitant von den Erzeugnissen des allgemeinen Turnierbetriebs abheben. Daher ist es sicherlich nicht falsch, in diesem Sinne von kognitiven Kunstwerken zu sprechen. Dabei ist es völlig unerheblich, ob der Ausgang der Partie ein Sieg oder ein Remis war. Auch Remisen können, wenn auf Messers Spitze gekämpft wird, Produkte eines gewaltigen Ringens sein.

Dies für den Nutzer sichtbar und auch hörbar zu machen, hat Karsten Müller die DVD "Endspiele der Weltmeister - von Fischer bis Carlsen" veröffentlicht und sich dabei aus der Reihe der gekrönten Häupter auf Bobby Fischer, Anatoli Karpov, Garry Kasparov, Viswanathan Anand, Vladimir Kramnik und den amtierenden Champion Magnus Carlsen fokussiert. Jeder von ihnen hat auf seine Art das Feld der Endspiele mit vielen exzellenten Einfällen und Geistesblitzen bereichert. So war Fischer wegweisend für die Behandlung von Endspielen mit Turm und Läufer gegen Turm und Springer. Der 11. Weltmeister in der Schachgeschichte stellte die strategische Überlegenheit der Langschrittler in diesem speziellen Endspieltyp insbesondere in seinen Begegnungen gegen Tigran Petrosian und Mark Taimanov schlagend unter Beweis. Von Karpov wiederum heißt es, seine Endspielsiege seien so mysteriös wie genial, weil er in seinen Partien oft aus mikroskopischen Vorteilen, kaum gehaltvoller als eine Randnotiz, nach und nach mit kaum nachvollziehbaren Kleinstmanövern einen staunenswerten Erfolg hervorzauberte.

Diese Begabung, in Endspielen mit Turm und Läufer gegen Turm und Läufer auf ungleichen Farben die letzten Potentiale hervorzukitzeln, teilt er übrigens mit dem Norweger Carlsen, auch wenn dieser die Endspielformate mit einem oder zwei Türmen bei gleichfarbigen Läufern wie kaum ein anderer beherrscht und darin zu reüssieren weiß. Kasparov und Anand gelten als pragmatische Spieler, die im Mittelspiel mit genialen taktischen Ideen aufwarten und den Zeitpunkt für den Übergang ins Endspiel mit tiefem Gespür fürs Realisierbare treffsicher wählen, weil es ihnen gelingt, den eigenen Figuren eine maximale Dynamik einzuhauchen. Kramnik hingegen versteht sich auf strategische Initiative, mit der er die Aktivität der gegnerischen Figuren auf ein Minimum herabsetzt und so die Vorzüge seiner eigenen Stellung nachhaltig zur Geltung bringt. In diesem Sinne folgt er Karpovs Spuren. Mit dieser Restriktionsmethode hatte er 2000 in London Kasparov schier zur Verzweiflung getrieben, der seinerzeit ohne eine einzige Siegpartie seine WM-Krone an Kramnik verlor.

Jeder der ausgewählten Weltmeister schrieb auf seine Weise Endspielgeschichte. Dieses lehrreiche Material für den Nutzer zugänglich zu machen, ist Müllers großes Verdienst. Zu seinem Renommee haben zweifelsohne seine Kolumnen auf der Webseite ChessCafe sowie im ChessBase Magazin ebenso beigetragen wie die Veröffentlichung zahlreicher Fachbücher zu den Grundlagen der Schachendspiele. Der promovierte Mathematiker ist ein scharfer Analytiker und Kenner des deutschen und internationalen Schachbetriebs. Gewinnfolgen schlüssig darzustellen, durch die kein Mäuschen hindurchschlüpfen könnte, ist sein Metier und Faustpfand, er versteht sich aber auch darauf, Fehlzüge beweiskräftig als solche zu demaskieren.

Die DVD besticht durch Pragmatismus und Übersichtlichkeit. Die einzelnen Funktionen sind leicht abrufbar und aufeinander abgestimmt. Die klassische Analyse ist Pflicht und wird in keinster Weise vernachlässigt. Was ihren eigentlichen Wert jedoch ausmacht, sind die interaktiven Videoaufnahmen zu den Endspielen. Hier hat der Nutzer die Chance, die Lösungen und Varianten am Brett direkt auszuprobieren und bekommt, wenn er unter den Optionen seine Wahl getroffen hat, das Videofeedback des Autors präsentiert. Dies verbürgt eine Belehrung auf hohem Niveau, weil dem Nutzer die Fehler bzw. Brüche seiner eigenen Analyse auf konstruktivem und kommunikativem Wege vermittelt werden, und er so lernt, tiefer in die Wesensmerkmale einer Stellung hineinzuschauen.

Überhaupt hat das audiovisuelle Format, weil Hören und Sehen das Fundament jedes Lernfortschritts darstellt, einen unschätzbaren Wert. Mehr noch als das bloße Sehen und Imaginieren, wie man es von Büchern kennt, wenn man Analyseketten flüchtig überfliegt und nicht selten aus Gründen der Überforderung in eine Anpassungsleistung abgleitet, wird hier der Urform menschlichen Austausches quasi eine Bühne gebaut. Lernen und Hören sind nicht zu trennen, beides ist entwicklungsgeschichtlich zusammengewachsen und beinhaltet weit mehr als den Transfer von Informationen. Mag die digitale Welt auch etwas anderes behaupten, wenn sie eine Flut von Daten durch die Gehirne und Bewußtseinsbahnen der Menschen jagt - als Echo in einem luftleeren Raum bleibt diese Art des Wissens immer fremd und kalt und lebensfern und wiegt nicht die Silbe einer Erzählung auf, der man inbrünstig folgt.

Um keinem Vertun aufzusitzen: Die Interaktion zwischen Nutzer und DVD beschränkt sich nicht auf die Vermittlung von Lösungswegen, der Lerneffekt geht über das Aneignen von Kombinationsschritten, und seien sie noch so raffiniert und pointensicher, hinaus. Wenn Karsten Müller die Vergangenheit der Partien und ihre Entstehungsgeschichte nochmal aufleben läßt, die Weltmeister kurz, aber bündig skizziert und wie im Vorbeiflug Aufmerksamkeiten einfängt, die in unserer schnellebigen Zeit und der Wechselhaftigkeit der Ereignisse, wo Reiz auf Reiz und ein Bild dem anderen folgt, oft wie ein Tropfen im Wüstensand versiegen, wenn er das Prinzip der zwei Schwächen erläutert, davon spricht, den gegnerischen König in der Verlustzone einzusperren oder einen Blick in den Springerschachschatten wirft, dann erfährt man, was es heißt, einer Schachpartie zu lauschen.

26. September 2018


DVD
Dr. Karsten Müller
Endspiele der Weltmeister
Von Fischer bis Carlsen
ChessBase, Hamburg 2018
Sprachen: Deutsch, Englisch
9 Std. 37 Min. (Deutsch)
29,90 EUR
ISBN: 978-3-86681-682-4


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang