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REZENSION/007: Ariel Magnus - Die Schachspieler von Buenos Aires (SB)


Ariel Magnus


Die Schachspieler von Buenos Aires



Ein beliebtes literarisches Motiv: Der Protagonist eines Romans entdeckt die Tagebuchaufzeichnungen eines nahen oder fernen Verwandten und entschließt sich, in die Tiefen und Abgründe eines Einzelschicksals einzutauchen. Was zunächst wie eine Reise anmutet zu den Erfreulichkeiten bzw. Schrecknissen im Lebenslauf eines anderen, nimmt eine unverhoffte Wendung, als sich das Vergangene der Gegenwart bemächtigt und die Zeitströme sich überkreuzen. Die Frage, wer man ist, und der Anspruch an das Individuum, das man zu sein scheint, beginnen an den Rändern Risse zu bekommen, bis sich die Verstricktheit des eigenen Lebens mit dem Tun und Wirken des Vorfahren nicht mehr leugnen läßt und man erkennt, daß frühere Handlungen mit ihren dunklen, kaum auslotbaren Geheimnissen weit über die Grenzen von Geburt und Tod hinausreichen. Es gibt Geschehnisse, die selbst die Gräber überdauern. Meisterwerke für dieses Genre des Phantasieromans sind "Der Engel vom westlichen Fenster" von Gustav Meyrink und "Malpertuis" von Jean Ray.

Nun muß nicht jeder Autor dieser Spur und Hinterlassenschaft folgen, nicht jeder Feder entspringt eine brillant verschlungene Erzählung, die den Leser das Buch nicht aus der Hand legen läßt, weil Gemüt und Verstand gleichermaßen gefesselt sind. Ariel Magnus' neuer Roman "Die Schachspieler von Buenos Aires" bot eine große Chance, die allerdings, um das Ende an den Anfang zu stellen, vertan wurde, was wirklich bedauerlich ist, denn der Stoff bot über den historischen Kern der Handlung hinaus durchaus die Möglichkeit, das Moment der Fiktion aus dem objektiven Griff der Geschichtsbücher herauszulösen und ihm eine Subjektivität zu geben, die den menschlichen Beweggründen und Ambitionen gut zu Gesicht gestanden hätte.

Hauptfigur des Romans ist Heinz Magnus, der Großvater des Autors, der Ende der 1930er Jahre vor den Nazis ins argentinische Exil floh. Als dessen Tagebuch viele Jahre nach seinem Tod in die Hände des Neffen fällt, sieht sich dieser veranlaßt, aus den biografischen Erinnerungen seines Großvaters einen Roman zu schmieden, dessen Schwungräder rund um die Schacholympiade in Buenos Aires aus dem Jahre 1939 kreisen. Ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, denn während die Spieler an den Brettern ihre Züge kombinieren, bricht fernab in Europa der Zweite Weltkrieg aus mit fataler Konsequenz für viele der Teilnehmer und alle, die unter dem Terror des NS-Regimes unvorstellbares Leid zu tragen haben.

Daß Ariel Magnus die Bühne des Brettes, auf der Figuren aus Holz verschoben werden, mit der Wirklichkeit des Waffenlärms konfrontiert, wo Figuren aus Fleisch und Blut in Mitleidenschaft gezogen werden und am Ende ein ganzer Kontinent in Ruinen steht, daß er mithin die Ich-Bezogenheit der Akteure, das Gemälde ihrer kleinen Sorgen und Alltagsquerelen mit den weltumspannenden Kriegsplänen des nationalsozialistischen Regimes in eine Waagschale wirft, zeugt auf den ersten Blick von einer gewissen Frivolität, der nicht zufällig etwas von der Verspieltheit intellektueller Ironie anhaftet. Dies nicht im Sinne einer Akrobatik, die Worte zu staunenswerten Kapriolen arrangiert, eher mit dem Beigeschmack naiver Einschübe, einer Art Clowenerie, etwa wenn der Autor in eigener Regie und in Klammern gesetzt in die Handlung hineinfragt, warum es denn Fahrstuhl heißt, obwohl man in einem Aufzug gar nicht sitzt. Oft wirkt gerade dieses Monologisieren von randläufigen oder nur oberflächlich reflektierten Themen, unvermittelt eingefügt, wie wenn man einem plötzlichen Gedanken einen sonnigen Fensterplatz einräumt, auf das Lesen ermüdend, weil es vom Hauptgang der Handlung ablenkt.

Tatsächlich ist der Roman einem Ausspruch des argentinischen Literaturheroen Jorge Luis Borges gewidmet: "Gott rückt den Spieler, dieser die Figur. Welcher Gott jenseits Gottes eröffnet das Spiel aus Staub, Zeit, Traum und Tortur?" Wird hier auch semantisch auf das Schachspiel Bezug genommen, so weist der holperige Mystizismus, der aus diesen Worten spricht, auf atavistische Denkkonzepte, die im Kern einem Fatalismus huldigen, der in der europäischen Geistesgeschichte spätestens seit Kant, auf jeden Fall jedoch mit den Vordenkern des Existentialismus Makulatur geworden ist.

Nun muß man dem Roman zubilligen, daß er mehr oder weniger gewitzt zwischen den Polen von Fakt und Phantasie zirkuliert, so daß bald schon hinter Nebeln verschwindet, was Wahrheit und was künstlerische Freiheit ist oder - mit Blick aufs Schachspiel - wo und wann ein Spielzug beginnt. Offenbar war der Autor fasziniert davon, auf dem Brette der Fiktion eine Schachpartie spielen zu lassen, die neben den Spielern selbst auch Zeitzeugen und Zaungäste einbindet, womit offenbar unterstrichen werden soll, daß Schach nicht nur auf 64 Feldern ausgetragen wird, daß jede Partie auch eine Vor- und Nachgeschichte hat, die auf vielerlei Weisen erzählt werden kann.

Daß eine Schachpartie mit dem ersten Zug des Gegners ihren Lauf nimmt, ist unterdessen eine Binsenweisheit, für die man keinen Roman schreiben müßte. Auch steckt kein verhülltes Rätsel dahinter, wenn sich der Autor darüber ausläßt, daß eine Partie lange vor der Grundstellung der Steine beginnt. Was schicksalsdunkel klingt und mit Geheimnissen jongliert, als müßte erst ein universaler Code gelüftet werden, ist schnell erklärt: Vor dem Beginn der Partie steht die Entstehungsgeschichte der Regeln, denen sich die Spieler am Brett stets von neuem unterwerfen, um als soziale Wesen in einen über das Regelwerk vermittelten Vergleich treten zu können. So ist ein Matt, wie fälschlicherweise oft verstanden, nicht der Abschluß einer Partie, sondern strenggenommen nur die letztgültige Erfüllung einer Regel. Dies gilt im übrigen auch bei einem Remis mit nur mehr zwei Königen auf dem Brett. Jeder Schachspieler ist und bleibt so der Gefangene einer Konvention. Es gibt keinen Sieg im Schachspiel, wohl aber eine Hierachie der turnierlichen Bewertungen. Um diesen kognitionswunden Punkt zu erläutern, braucht es keinen Gott, den der Unverstand gerne heraufbeschwört zur Ummäntelung der Unzulänglichkeiten eines Menschen, der glaubt, auf dem Brett ein Universum zu bewegen. Wenn schon Philosophieren, dann bitte mit dem nötigen Ernst.

Gleichwohl ist dem Roman ein zeithistorischer Reiz nicht abzusprechen, wenn Zeitungsartikel zur Olympiade und Anekdoten aus dem reichhaltigen Schatz der Schachwelt in die Handlung miteingeflochten werden. So bestückt Ariel Magnus das Ensemble historischer Personen mit fiktiven Figuren wie beispielsweise Mirko Czentovic, der als Leihgabe aus Stefan Zweigs "Schachnovelle" unter anderem einen kuriosen schachspezifischen Dialog mit Sonja Graf führt, der seinerzeit besten deutschen Schachspielerin, die nach Buenos Aires gekommen war, um an der parallel zum Turnier der Nationen ausgetragenen Damenweltmeisterschaft teilzunehmen.

Daß Sonja Graf in Buenos Aires als Staatenlose auftrat und damit explizit ihren Willen bekundete, sich nicht vom totalitären NS-Regime zu Propagandazwecken mißbrauchen zu lassen, verdient Respekt, zumal nicht viele Meisterspieler mit deutscher Abstammung diesen Schritt mit solcher Konsequenz gegangen sind. Bedauerlich auch, daß Sonja Graf gerade in ihrem Heimatland nahezu in Vergessenheit geraten ist, während sie in ihrer Wahlheimat USA wieder gefeiert wird. Ihre Biografie ist ein Bruch mit Konventionen, teils schillernd, teils zerrissen von den Härten ihrer Kindheit und Jugend. Im Vergleich zur eher bürgerlichen Weltmeisterin Vera Menchik pflegte sie einen mondänen Lebensstil. Ihr Elternhaus war zerrüttet, um einem Leben unter extremer Armut zu entfliehen, trieb sie sich bereits als Minderjährige im Münchner Künstler- und Vergnügungsviertel Schwabing herum. Ihr unangepaßter Sinn und Lebenswandel hatte gleichwohl Folgen. Mit fast 18 Jahren wurde sie zunächst ins katholische Fürsorgeheim München-Thalkirchen und später ins Erziehungsheim der "Zeller Schwestern" bei Kitzingen eingewiesen.

Das Schach war für sie sicherlich ein Mittel, um der bigotten Enge ihrer Umwelt den Rücken zu kehren. Fachpresse und Medien rieben sich an dem "Fräuleinwunder", der Unbeständigkeit ihrer Flirts und Liebschaften und warfen einen kritischen Blick auf ihren kurzen Haarschnitt und daß sie in Männerkleidung ging, was offensichtlich dem Anstand der Zeit zuwiderlief. Dieser oberflächlichen Schau auf ihren Charakter bedient sich auch Ariel Magnus, indem er Sonja Graf in eine Dreiecksbeziehung zwischen der Hauptfigur Heinz Magnus, der sie ob ihrer Intelligenz als Gattin gewinnen will, und dem Sportjournalisten J. Yanofsky placiert, der in ihr eine Liebesbeute sieht. Ansonsten wirkt Sonja Graf in den Rededuellen, wenn über das Wesen des Schachspiels debattiert wird, überraschend blaß und im Roman insgesamt eher wie eine Statistin ohne Charaktertiefe, gleichsam reduziert auf ihre weiblichen Reize, was der Historizität ihres Wirkens als Vorkämpferin des Frauenschachs geradezu Hohn spricht. So gewinnt sie denn Yanofsky leicht, indem er ihr vorschlägt, "ein paar Tango-Platten zu hören und ihr dabei gleich beizubringen, wie man ihn tanzte. Während sie sich im Zweivierteltakt bewegten, zuerst im Stehen und dann auf dem Sofa, konnte Sonja nicht umhin zu denken, dass auch auf dem Brett die Figur fast immer selber wählt, wer von den Gegenspielern sie schließlich vernascht". (S. 252)

Überhaupt versuchen die 20 Kapitel, die den Roman notdürftig in ein Korsett halten, verzweifelt den Eindruck einer Chronologie zu erwecken, was nicht gelingt. Zu verstreut und zerstückelt sind die einzelnen Episoden, zu weit hergeholt erscheinen die Einzelstränge, daß kein Ganzes daraus entstehen mag. Vor allem der Vorsatz des Großvaters, aus einer Art Rache am Hitlerregime unbedingt verhindern zu wollen, daß die großdeutsche Mannschaft in Buenos Aires den Sieg davonträgt, setzt dem Reigen um Stringenz ringender Absurditäten schließlich den Hut auf. Hierzu soll Mirko Czentovic in der Finalrunde dank eines ausgeklügelten Systems wie weiland beim Schachtürken von Wolfgang von Kempelen unter den Tischen versteckt die Kontrahenten der Nazi-Mannschaft zum Sieg führen. Der Plan scheitert aus welchen Gründen auch immer, die im Roman nebulös bleiben.

Hitler gewinnt auf dem Schachbrett, verliert indes den realen Krieg, womit sich ein Kreis schließt, der lückenhafter nicht sein könnte. Viele Fragen aus der Geschichte der Olympiade und ihrer Akteure bleiben unberührt. Daß die komplette großdeutsche Mannschaft aus Deutschen und ins Reich geführten Österreichern nach Ende der Spiele in Buenos Aires Asyl beantragte, verkümmert als Randnotiz, wiewohl gerade hier die Imaginationskraft eines Autors gefragt gewesen wäre. Wie kam es, daß ausgerechnet Nazi-Deutschland mit Erich Eliskases, Paul Michel, Ludwig Engels, Albert Becker und Heinrich Reinhardt ein Olympiateam aus lauter Juden bzw. Meisterspielern mit jüdischem Blut in den Adern nach Argentinien schickte?

Der Roman bot die Chance, vieles historisch aufzuarbeiten, was bislang auf keinem Blatt geschrieben steht, ohne dabei auf die Kunst der Fiktion verzichten zu müssen, er hätte die persönliche Perspektive der Handlungsträger ungleich stärker mit den internationalen Konflikten und diplomatischen Verwicklungen rund um Buenos Aires überkreuzen und eine Hintergrundkulisse fiktionalisieren können, die ein ungezügeltes Lesevergnügen beschert hätte. Wozu die Scheu vor der Geschichte, wenn die fiktiven Romanfiguren, wie Ariel Magnus eingangs erwähnt, "exklusiv im Dienst der Vorstellungskraft des Autors" (S. 8) stehen?

9. Dezember 2018


Ariel Magnus
Die Schachspieler von Buenos Aires
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018
336 Seiten
22,00 EUR
ISBN: 978-3-462-05005-9


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