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BERICHT/051: Von Weltentdeckern und Menschenfressern (forsch - Uni Bonn)


forsch 2/2009 - April 2009
Bonner Universitäts-Nachrichten

Von Weltentdeckern und Menschenfressern

Sabine te Heesen untersucht das Tabuthema Kannibalismus

Von Christian Esser


Sabine te Heesen ist eine Grenzgängerin. Die Vegetarierin hat sich wissenschaftlich mit dem Verzehr von Menschenfleisch beschäftigt. Ihr gerade erschienenes Buch gibt Einblicke in die Welt des Kannibalismus, wie sie sich den Entdeckern des 18. Jahrhunderts offenbarte. Noch heute zeigt die angewiderte Faszination des Themas Tabugrenzen auf. Die ehemalige Studentin der Uni Bonn legt Wert darauf, keinerlei praktische Erfahrungen zu haben.


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Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein vertrockneter Seestern. Ungläubig betrachtet der britische Matrose im Dienste von James Cook dieses Etwas. Er ruft die Kameraden herbei und hebt die Hand in die Höhe - die Hand, die er gerade am Strand gefunden hat. Ein Stück weit über dem abgeknabberten Handgelenk sind die eintätowierten Initialen "T.H." deutlich zu erkennen. Es muss sich also um das Überbleibsel von Thomas Hill handeln, der mit einigen anderen von Cooks Seeleuten an Land gegangen war. Auf der Suche nach Proviant sind sie selbst verspeist worden.

Die Grafik, die die Strandszene festhält, illustriert den Umschlag von Sabine te Heesens Buch "Der Blick in die kannibalische Welt" (Rombach Verlag). In der frisch veröffentlichten Dissertationsschrift hat die Autorin das Phänomen des Kannibalismus seziert, indem sie fiktive und authentische Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts untersucht hat: Was verrät die Sprache im Robinson Crusoe und in den Erzählungen des Marquis de Sade über den Tabubruch Kannibalismus? Ist die grundsätzlich freundlich-offene Haltung eines James Cook gegenüber Menschenfressern möglicherweise schon ein Hinweis auf die prinzipielle Akzeptanz des Phänomens?

Sabine te Heesen lebt in einer hellen, weiträumigen Wohnung, deren Wohnzimmer von einer langen Bücherwand dominiert wird. Nur einige Statuen und Masken liefern einen Hinweis auf das Thema, mit dem sie sich in den letzten Jahren so intensiv beschäftigt hat. "Diese Maske dort oben links an der Wand ist aus Papua-Neuguinea, wo es angeblich mal Kannibalen gegeben hat", erklärt te Heesen. "Mein Mann hat sie mir von einer seiner Reisen mitgebracht. Mit anderen Worten: Er ist unverzehrt nach Deutschland zurückgekehrt." Sie lacht etwas gequält und entschuldigt sich "des unvermeidlichen Kannibalen-Kalauers" wegen.

Sabine te Heesen will den Kannibalismus keineswegs belächeln oder verharmlosen - im Gegenteil. Sie nimmt die Erforschung der Anthropophagie sehr ernst. Während ihrer Recherchen überkam sie oft ein ungutes Gefühl. Der Fall des Kannibalen von Rotenburg ließ sie spüren, wo auch ihre eigenen Ängste und Tabugrenzen liegen. Doch gerade diese Grenzgänge faszinieren die 40jährige Wahlbonnerin. "Kannibalismus hat ja im wahrsten Sinne immer einen merkwürdigen Beigeschmack", sagt te Heesen. "Wir hören angewidert Berichten zu, wie Kannibalen den Geschmack von Menschenfleisch mit dem von Schweinefleisch vergleichen, sind aber gleichzeitig auch fasziniert".

Es mag verwundern, dass es in Deutschland kein Gesetz gibt, das Kannibalismus ausdrücklich verbietet. "Der Kannibale von Rotenburg konnte eben nicht wegen Kannibalismus verurteilt werden, sondern 'nur' wegen Mord und Störung der Totenruhe." Doch wie das Phänomen definieren? Fängt Kannibalismus nicht schon bei der Organtransplantation an, wenn einem Menschen das Körperteil eines Fremden quasi einverleibt wird? Und warum ist allein die Vorstellung von verzehrtem Menschenfleisch für uns so schrecklich? Sabine te Heesen kommt in ihrem Buch zu dem Schluss: Kannibalismus drückt sich in sämtlichen Beschreibungen als Zeichen für eine friedlose, gottferne Gesellschaft aus.

Für die Autorin steht der Wert eines Menschen im Mittelpunkt, der immer dann zur Sprache kommt, wenn seine Grenzen verletzt werden. Aktuelle ethische Diskussionen wie etwa zur Klon- und Gentechnik fragten ja auch immer nach den Grenzen der menschlichen Individualität und der körperlichen Unversehrtheit.

Als sich Sabine te Heesen während ihres Komparatistik-Studiums an der Universität Bonn Anfang der 1990er Jahre erstmals mit den Reisebeschreibungen des britischen Seefahrers und Entdeckers James Cook beschäftigte, merkte sie, dass schon die Reisenden des 18. Jahrhunderts angesichts der Kannibalen an ihre Tabugrenzen stießen. "Das Interessante bei den Cookreisen ist, dass die Reisenden nicht nur Zeugen eines kannibalischen Mahles werden, sondern der Kannibalismus auch aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben wird." Diese kulturhistorische Fundgrube und das Thema Kannibalismus habe sie fortan nicht mehr losgelassen. Sabine te Heesen reist selbst auch gerne. Das spiegelt sich schon in ihrer universitären Karriere: Sie studierte ein Jahr im britischen Norwich, wo sie auch als Deutschlehrerin tätig war. Kurz nach der Wende absolvierte sie zwei Fachsemester an der Freien Universität Berlin. "Das war eine spannende Zeit, die quasi noch geteilte Stadt erleben zu dürfen", erinnert sich te Heesen. Hauptstudium und Magisterexamen legte sie in Bonn ab. Dann wieder der Ruf aus der Hauptstadt. An der Berliner Humboldt-Uni erhielt sie die Zulassung als Doktorandin unter dem bekannten Kulturhistoriker Thomas Macho. Ihre Wohnung in Bonn behielt sie aber, auch als sie ein Graduiertenkolleg an der Universität Paderborn besuchte. Insgesamt hat Sabine te Heesen also fünf verschiedene Universitäten kennengelernt, "aber Bonn war mit Abstand die beste", versichert sie, gerade für Geisteswissenschaftler seien die Bedingungen hier optimal. Sie freue sich natürlich, dass mit Professor Dr. Jürgen Fohrmann nun ein Germanist als Rektor der Uni vorstehe. Kritik äußert sie allerdings an der zunehmenden Verschulung des Studiums. "Mein Studium bot mir die Möglichkeit, ein individuelles Forschungsprofil zu entwickeln, und das hat mir beruflich viel gebracht" sagt die Vorstandsreferentin eines großen Fachverlages.

Sabine te Heesen öffnet eine Vitrine, in der einige Original-Reiseberichte aus dem 18. Jahrhundert ("ein Hochzeitsgeschenk von meinem Mann") liegen. Die Liebe zu alten Büchern geht so weit, dass sie gemeinsam mit Freunden alte Bücher sammelt und restauriert. Zwischen den Bänden steht auch eine hölzerne Gabel mit vier Spitzen. "Solche Gabeln wurden auf Fiji angeblich für Menschenfleisch verwendet", sagt sie. Dann lacht sie wieder ihr ansteckendes Lachen: "Keine Angst, ich nutze sie nicht, das ist nur ein Mitbringsel von unseren Reisen." Nach der Beschäftigung mit dem Thema Kannibalismus kann sie nun auch ihre eigenen Grenzen und Toleranzschwellen besser verstehen. "Im Grunde habe ich mit dem Buch auch meine eigenen Ängste und Tabus untersucht."


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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Nr. 2, April 2009, Seite 42-43
Herausgeber:
Rektorat und Senat der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Abt. 8.2 - Presse und Kommunikation
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2009