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MELDUNG/2225: Mittelgewicht - Wiedergeburt stimmt euphorisch ... (SB)



Billy Joe Saunders will es mit Gennadi Golowkin aufnehmen

Gennadi Golowkin hat sich schon vor Jahren zum Ziel gesetzt, sämtliche Titel im Mittelgewicht zu vereinen. Der Kasache ist Weltmeister der Verbände WBA, WBC, IBF und IBO, so daß ihm nur noch der Gürtel der WBO zur Komplettierung seiner Sammlung fehlt. Den hat der Brite Billy Joe Saunders in seinem Besitz, der Golowkin bislang unter fadenscheinigen Vorwänden aus dem Weg gegangen ist. Um große Worte nie verlegen, behauptete er des öfteren, er habe keine Angst vor dem Kasachen und sei jederzeit bereit, sich mit ihm zu messen. Sobald es jedoch ernst wurde, machte er eine Kehrtwende. Saunders ließ sogar weit gediehene Verhandlungen über ein Kampf platzen, indem er plötzlich mit einer maßlos überhöhten Börsenforderung nachlegte. Dieser durchsichtige Schlingerkurs hatte einen handfesten Grund: Der Brite galt als ausgesprochen schwacher Champion und wäre chancenlos gegen Golowkin gewesen.

Unter Gewichtsproblemen und einer notorischen Konditionsschwäche leidend, machte der Brite bei seinen spärlichen Titelverteidigungen eine schlechte Figur. Er suchte sich mit Willie Monroe und Artur Akavow schwache Herausforderer aus, die er dennoch nur mühsam nach Punkten bezwang. Im Falle des wenig bekannten Akavow fehlte es überdies nicht an kritischen Stimmen, die Punktrichter hätten Saunders einen schmeichelhaften Sieg geschenkt. Unter diesen Voraussetzungen trat er als Außenseiter zur Titelverteidigung gegen den Kanadier David Lemieux an, die am 16. Dezember in Laval, Quebec, über die Bühne ging. Der Lokalmatador schien die Vorteile auf seiner Seite zu haben, würde er doch nach verbreiteter Einschätzung den Briten früher oder später stellen, mit einem Volltreffer auf die Bretter schicken und dessen unrühmliche Regentschaft beenden.

Daß sich Saunders zur allgemeinen Überraschung souverän durchsetzte und Runde für Runde zu seinen Gunsten verbuchen konnte, war darauf zurückzuführen, daß er bestmöglichen Gebrauch von seinen begrenzten Möglichkeiten machte, was man von dem Herausforderer nicht sagen kann. Der Brite war sich im klaren darüber, daß er sich von dem wuchtig zuschlagenden Gegner nicht treffen lassen durfte, und verhinderte dies erfolgreich. Der Kanadier wußte, daß er den entweichenden Kontrahenten stellen mußte, um ihm Wirkungstreffer zu verpassen, schaffte das aber ganz und gar nicht. Saunders stieß vor, traf Lemieux und zog sich sofort wieder zurück, während der Herausforderer Löcher in die Luft schlug, weil er schlichtweg zu langsam war. Dem Kanadier mangelte es nicht nur an Schnelligkeit in den Fäusten, sondern auch an Beweglichkeit auf den Füßen, so daß ihn Saunders fast nach Belieben ausmanövrieren konnte und sehr rasch Oberwasser bekam.

Unter den Experten gingen die Meinungen in der Bewertung dieses Kampf weit auseinander. Die einen attestierten Billy Joe Saunders eine technisch und taktisch hochklassige Vorstellung, da er den Herausforderer zwölf Runden lang ausgeboxt und regelrecht vorgeführt habe. Sie feierten eine Wiederauferstehung des Briten, der endlich sein volles Potential entfaltet habe und in dieser Verfassung selbst Gennadi Golowkin und Saul "Canelo" Alvarez gewachsen, wenn nicht gar überlegen sei. Letzteres verkündete auch der WBO-Weltmeister selbst, der laut in den Wald rief, die beiden hätten jetzt Angst vor ihm und würden vermutlich das Weite suchen.

Die andere Fraktion der Kommentatoren sprach von einer traurigen Darbietung, die mit Boxen recht wenig zu tun habe. Saunders sei unablässig weggelaufen und habe sich nie zum Kampf gestellt. Solche langweiligen Auftritte sorgten dafür, daß sich das Publikum enttäuscht und verständnislos abwende. Ähnlich urteilte auch Lemieux, der sich darüber beklagte, daß nur er zum Boxen in den Ring gestiegen sei. Bei diesen extrem divergierenden Einschätzungen stießen einmal mehr zwei unterschiedliche Philosophien aufeinander, die diesen Sport sei jeher in miteinander streitende Lager spalten. Die einen bevorzugen den Schlagabtausch und Drang beider Akteure, den Gegner niederzuschlagen. Die anderen würdigen die Fähigkeit, einen Kontrahenten auszumanövrieren, sich nicht treffen zu lassen und blitzschnell zu kontern.

Im Falle der Titelverteidigung von Laval korrespondierten die beiderseitigen Stärken und Schwächen auf eine Weise, die Saunders in die Hände spielten. Er trat in erstklassiger körperlicher Verfassung an, die es ihm erlaubte, sich durchweg schnell zu bewegen, ohne konditionell einzubrechen. Zudem setzte er das Konzept, keinen einzigen Volltreffer einzustecken, nahezu perfekt um. Als er im Überschwang seiner Dominanz auf den Kanadier losgehen wollte, um ihn niederzumachen, rief ihn sein Trainer mit aller Entschiedenheit zurück. Dominic Ingle befürchtete zu Recht, daß sein eher schwach schlagender Schützling dabei ins offene Messer laufen würde, da er Lemieux im direkten Schlagabtausch nicht gewachsen wäre. Dem Herausforderer fehlten Konzept und Mittel, sich in einer solchen Manöverlage durchzusetzen. Je wütender er ausholte, um so deutlicher signalisierte er seine Schläge, denen der Brite in der Mehrzahl der Fälle fast mühelos auszuweichen schien. Zudem war Lemieux nicht in der Lage, dem umhertanzenden Gegner den Weg abzuschneiden und ihn in die Enge zu treiben. Wenngleich er ihn ständig verfolgte, konnte er ihn nicht stellen und reagierte zunehmend frustriert. Auch wenn ihm das überhaupt nicht gefiel, bewegte sich Saunders doch im Rahmen geltenden Regelwerks und wurde vom Kampfgericht keineswegs bevorteilt.

Saunders, der mit Worten noch nie ein Kind von Traurigkeit war, sieht sich nach diesem spektakulären Erfolg auf dem Dach der Welt und fordert Golowkin - diesmal wohl ernsthaft - zum Kampf heraus. Sollte die Revanche zwischen dem Kasachen und "Canelo" nicht zustande kommen, stehe er bereit, statt dessen mit GGG um all ihre Titel zu kämpfen. Diese Offerte macht Sinn, sofern der Brite seinen frischen Ruhm nicht mit einer belanglosen Titelverteidigung gegen einen weit schwächeren Herausforderer vergeuden will. [1]

Derzeit hält sich der 28jährige WBO-Champion mit Tyson Fury in Spanien auf, wo beide fleißig zu trainieren scheinen. Saunders, um nicht wie früher zwischen den Auftritten aus dem Leim zu gehen, der ehemalige Weltmeister im Schwergewicht, um sich nach zweieinhalb Jahren Pause langsam wieder in Form für sein angekündigtes Comeback zu bringen. Während Fury auf geposteten Filmsequenzen noch recht träge wirkt und schon nach wenigen simulierten Schlägen aus der Puste zu kommen scheint, geht Saunders voll zur Sache. Das ist eine gute Nachricht für seine Fangemeinde, aber auch für Golowkin, da sich eine handfeste und attraktive Alternative zur nach wie vor ungewissen Revanche mit Saul Alvarez auftut. Das ganz große Geld ist zwar nur im Rückkampf gegen "Canelo" zu verdienen, doch wäre der gegenwärtig populäre Saunders samt dem WBO-Titel die zweitbeste Option.

Gennadi Golowkin hat den Mexikaner bei ihrem ersten Aufeinandertreffen am 16. September in Las Vegas dominiert, was die Punktrichterinnen und Punktrichter jedoch mehrheitlich anders sahen und "Canelo" ein Unentschieden schenkten. Den mexikanischen Star in Las Vegas untergehen zu lassen, hieße eine Goldgrube zu schließen, wenn auch nicht auf Dauer, so doch für eine gewisse Frist. Ob bei diesem Fehlurteil Betrug, Parteinahme, Unvermögen, Beeinflussung durch die Stimmung des Publikums oder eine Mischung aus diesen mutmaßlichen Faktoren im Spiel war, wird man nie erfahren. Obgleich inzwischen die Mehrzahl der Experten der Auffassung ist, Golowkin sei um den verdienten Sieg gebracht worden, gibt es nach wie vor Stimmen, die "Canelo" eine überlegene Leistung attestieren. Der Boxsport bietet nun einmal einen breiten Interpretationsspielraum, zumal die Aussage, man habe etwas mit eigenen Augen gesehen, im Zweifelsfall wenig besagt. Wenn das Publikum tobt und jeden Schlagansatz seines Favoriten wie einen Volltreffer bejubelt, sehen die Augen eines Punktrichters nicht selten, was die Ohren hören. Daß die Punktrichterin Adelaide Byrd, die absurderweise 118:110 für "Canelo" gewertet hat, offenbar schon in der Vergangenheit für Fehlurteile berüchtigt war, aber dennoch an so prominenter Stelle eingesetzt wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Der Kampfvertrag vom September enthielt die Option einer Revanche, von der offenbar aber nur "Canelo" Gebrauch machen kann. Als alle Welt nach dem Unentschieden einen Rückkampf forderte, in dem klare Verhältnisse geschaffen würden, sagten der Mexikaner und sein Promoter Oscar de la Hoya ein zweites Aufeinandertreffen Anfang Mai 2018 zu. Daß sie auf jeden Fall zu ihrem Wort stehen, heißt das aber nicht. Als Golowkins Promoter Tom Loeffler frühzeitig Nägel mit Köpfen machen wollte, war die Gegenseite nicht mit im Boot. Bei Golden Boy wollte man erst einmal den Kampf zwischen Saunders und Lemieux abwarten, was eigentlich nur bedeuten konnte, daß der Kanadier nach dem erhofften Titelgewinn als Gegner "Canelos" vorgesehen oder zumindest als dickes Faustpfand in den Verhandlungen mit Loeffler eingeplant war.

Seitdem sich diese mutmaßlichen Pläne durch den unverhofften Sieg des Briten zerschlagen haben, herrscht Funkstille bei Golden Boy, was den Kampf Anfang Mai betrifft. Tom Loeffler hatte sich eine Zusage im Dezember oder spätestens Januar ausbedungen, um andernfalls eine Alternative für einen Auftritt Golowkins im April vorbereiten zu können. Er muß sich sowohl mit dem Sender HBO als auch möglichen Veranstaltungsorten abstimmen, will er nicht aus Termingründen leer ausgehen. "Canelo" hingegen ist für den 5. Mai in Las Vegas und bei HBO fest gebucht, so daß er sich Verzögerungen ohne weiteres leisten kann. Inzwischen ist der Januar ins Land gezogen, ohne daß Loeffler Nachricht von den Golden Boy Promotions hätte.

Möglicherweise geht Oscar de la Hoya davon aus, daß "Canelo" derzeit nicht gegen Golowkin gewinnen kann, und legt es deshalb darauf an, den Kasachen noch einige Zeit hinzuhalten. Dieser hat früher regelmäßig drei bis vier Kämpfe im Jahr ausgetragen und ist fast durchgängig im Training geblieben. Er hatte nie Gewichtsprobleme und zeichnete sich stets durch eine ausgezeichnete körperliche Verfassung aus. Seit er mit dem Mexikaner verhandelt, treten längere Unterbrechungen ein und die Planungssicherheit schwindet. Möglicherweise ist es genau das, worauf die Gegenseite in der Hoffnung setzt, ihn auf die Dauer so weit zu zermürben, daß er "Canelo" ohne Mithilfe der Punktrichter unterliegt.

Eine sofortige Revanche mit Saul Alvarez ist für Gennadi Golowkin die bevorzugte Option, weil er dabei das meiste Geld verdienen und vor allem die Vorherrschaft im Mittelgewicht klären kann. Ein Sieg über den Mexikaner würde ihn in den Augen des US-amerikanischen Boxpublikums enorm aufwerten und seine Quoten im Pay-TV beflügeln. Sollte es aber vorerst nicht dazu kommen, weil ihn "Canelo" und "De la Hoya" auf die lange Bank schieben wollen, stünden ihm diverse andere Möglichkeiten offen. Er könnte Billy Joe Saunders den WBO-Titel abnehmen, einen Rückkampf gegen Daniel Jacobs austragen oder sich mit einem seiner beiden Pflichtherausforderer, Jermall Charlo oder Sergej Derewjanschenko, messen. An anspruchsvollen Gegnern und spannenden Kämpfen herrscht also kein Mangel, sobald "Canelo" und sein Promoter den Fuß von der Bremse nehmen.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2018/01/saunders-offers-fight-ggg-canelo-doesnt-want-rematch/#more-252245

7. Januar 2018


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