Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → ABFALL


ATOM/1096: CASTOR als Neutronenquelle (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 672-673 / 29. Jahrgang, 8. Januar 2015

CASTOR als Neutronenquelle
Sekundäreffekte durch die Lagerung von Castorbehältern im Zwischenlager Gorleben

Von Rolf Bertram*


"Verlorene Mädchen"

Nicht nur nach den oberirdischen Atomversuchen und nach Tschernobyl, auch in der Umgebung atomarer Zwischenlager hatten Untersuchungen von Hagen Scherb, Epidemiologe am Helmholtz-Zentrum München, eine relative Abnahme von Mädchengeburten ergeben. Als Indikator für genetische Veränderungen in der Bevölkerung hatte dies beunruhigt. Auch in Gorleben werden seit Beginn der Castor-Transporte ins dortige Atom-Zwischenlager zunehmend zu wenige Mädchen geboren.[1] Eine Studie des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes bestätigte diese Veränderungen des Geschlechterverhältnisses bei Gorleben.[2]

Der Berliner Humangenetiker Karl Sperling diskutiert epigenetische Effekte als biologische Ursache dieser Effekte.[3]

Obwohl davon auszugehen ist, daß die Castor-Behälter in den Zwischenlagern dicht verschlossen sind, sind sie doch Quelle von Radioaktivität in Form von Aktivierungsprodukten, weil wesentliche Mengen von Neutronenstrahlung in die Luft gelangen. Das bestreiten zwar das Bundesamt für Strahlenschutz und der Zwischenlager-Betreiber GNS, darauf machte jedoch Ralf Kusmierz[4] und Rolf Bertram[5] im September 2012 und Mai 2014 im Strahlentelex aufmerksam. Kusmierz wies darauf hin, daß 95,5 Prozent der Neutronen vom Luftstickstoff eingefangen werden, wobei sich radioaktiver Kohlenstoff 14C bildet. Aber auch Spuren der Edelgase Argon und Xenon hätten wegen deren kürzerer Halbwertzeiten einen Aktivitätsanteil in der Größenordnung des 14C.

Der Gorleben-Landkreis Lüchow-Dannenberg beauftragte die mit diesen Untersuchungen befaßten Wissenschaftler mit weiteren Untersuchungen, deren Ergebnisse am 10. Dezember 2014 dem Atomausschuß des Kreistages vorgetragen wurden. Strahlentelex dokumentiert hier die Ausführungen von Rolf Bertram, emeritierter Professor am Institut für Physikalische und Theoretische Chemie der Technischen Universität Braunschweig, der in seiner Studie den Schwerpunkt auf den Radiokohlenstoff 14C legt.

[1] vergl. Strahlentelex 590-591 vom 4.8.2011, S. 17,
www.strahlentelex.de/Stx_11_590_S17.pdf
[2] vergl. Strahlentelex 592-593 vom 1.9.2011, S. 14,
www.strahlentelex.de/Stx_11_592_S14.pdf
[3] zuletzt Strahlentelex 656-657 vom 1. Mai 2014, S. 5-6,
www.strahlentelex.de/Stx_14_656-657_S05-10.pdf
[4] Strahlentelex 616-617 vom 6.9.2012, S. 1-4,
www.strahlentelex.de/Stx_12_616_S01-04.pdf
[5] Strahlentelex 656-657 vom 1. Mai 2014, S. 10,
www.strahlentelex.de/Stx_14_656-657_S10.pdf

Raute


Kurzfassung

Die vom Inventar eines Castors ausgehende Strahlung wird nur unzureichend abgeschirmt. Dadurch existiert in der Umgebung eingelagerter Castoren ein durch Neutronen und Gammastrahlen verursachtes Mischstrahlungsfeld.

Ungelöste Probleme bei der Abschirmung radioaktiver Strahlung treten bei der CASTOR-Lagerung besonders deutlich zu Tage. Vorliegende überwiegend auf Modellvorstellungen beruhende Abschirmberechnungen sind mit großen Unsicherheiten behaftet. Direkt an der Außenwandung von CASTORen ist ein Neutronenfluss mit einem hohen Anteil thermischer Neutronen festgestellt worden. Die Intensität dieser thermischen Neutronen reicht aus, um mittels kernchemischer Reaktionen diverse radioaktive Aktivierungsprodukte in der Umgebungsluft zu erzeugen. Von besonderer Bedeutung ist dabei der durch eine sogenannte n,p-Reaktion aus dem Stickstoff der Luft entstehende Radiokohlenstoff (14C), da dieser aufgrund der relativ langen Halbwertszeit (5736 Jahre) und wegen seiner Affinität zu biologischen Systemen und seiner Bindungsfreudigkeit insbesondere zu Sauerstoff in alle Lebensbereiche eindringen kann.

Eine weitere Ursache der Luftkontamination ist die Aktivierung von in der Luft befindlichen Schwebstoffteilchen. Die für die Region wichtigsten Aerosole dürften die 14C-tragenden Partikel sein. Wobei insbesondere jene Größenklassen von Bedeutung sind, die einem längeren Transport mit der Luftströmung unterliegen. Große Partikel werden schon früh - vermutlich in der Nähe der Transportbehälterlager (TBL) - zu Boden sinken.

Die Wirkungen dieser durch Neutronenstrahlung aktivierten Teilchen auf Mensch und Umwelt (Zunahme der Luftionisation) werden in den amtlichen Verlautbarungen bis heute stark unterschätzt. Nicht beachtet werden auch die strahlenchemischen Reaktionen zwischen kontaminierten Partikeln untereinander und den ionisierten gasförmigen Atomen und Molekülen in der Abluft.

In normaler Umgebungsluft kann die Partikelzahl pro Kubikmeter Luft mehr als 1 Million betragen.

Neben der radioaktiven Verseuchung der Atemluft ist die Boden- und Wasserverseuchung zu beachten, die durch kontaminierte Niederschläge aus bodennahen Luftschichten hervorgerufen wird. Die bei der Aktivierung gebildeten Radionuklide (Aktivierungsprodukte) sind noch lange Zeit nach der Neutronenbestrahlung nachweisbar.

Um das Ausmaß und damit die Schadwirkung dieser zweifelsfrei ablaufenden Prozesse abschätzen zu können, sind umfassende Untersuchungen dringend erforderlich. Belastbare Modelle oder plausible Theorien über derartige Prozesse in der Umgebung der Castor-Lagerhalle, die zur Entstehung radioaktiver Aerosole und radioaktiver Atome/Moleküle führen, sind nicht bekannt.

Fest steht, dass ein länger dauernder oder gar ständiger Aufenthalt in der näheren und weiteren Umgebung einer Castor-Lagerhalle nicht folgenlos ist. Bei einer Abschätzung der radiologischen Konsequenzen sind die besonderen örtlichen Verhältnisse und die dort vorliegenden Ausbreitungsbedingungen zu berücksichtigen.

Der Nachweis, dass die biologische Wirksamkeit von Neutronen im amtlichen Strahlenschutz stark unterschätzt wird, ist lange erbracht. Wissenschaftlich begründete Bedenken wurden bis zur Stunde weder vom Betreiber noch von den Aufsichtsbehörden erkennbar ausgeräumt. Damit ergeben sich bisher unzureichend bearbeitete Probleme für alle Arten der Zwischenlagerung von hochaktivem Atommüll.

In dieser Studie sind die derzeitigen Erkenntnisse zusammengestellt und insbesondere mit Blick auf die Risiken für Mensch und Umwelt bewertet.

Einleitung

Atommüll ist weltweit in grossen Mengen vorhanden und wird bis zur Abschaltung aller Atomkraftwerke weiter produziert, transportiert und mangels Endlager an verschiedenen Orten in der Regel oberirdisch gelagert. Zum Transport und zur Lagerung von hochaktivem Atommüll werden dickwandige Behälter, sogenannte CASTORen verwendet.

Nach einer Jahrzehnte dauernden Genehmigungsphase wurde 1995 der erste aus dem Kernkraftwerk Philippsburg stammende und mit 9 DWR-Brennelementen beladene CASTOR mit der Bezeichnung IIa im Transportbehälterlager (TBL) in Gorleben eingelagert.

Das Lager befindet sich auf dem Gebiet der Gemeinde Gorleben (Landkreis Lüchow-Dannenberg), etwa zwei Kilometer südlich von Gorleben. Betrieben wird das Lager von der GNS Gesellschaft für Nuklear-Service mbH.

Die Lagerhalle mit den Abmessungen 182 Meter lang, 38 Meter breit und 20 Meter hoch ist zur Einlagerung der circa 110 Tonnen schweren Castoren nach einem bestimmten Aufstellungsplan für 420 Stellplätze eingerichtet. Aus der großen Zahl der eingerichteten Stellplätze ist ersichtlich, dass schon in der Planungsphase der TBL mit längeren Einlagerungszeiten gerechnet wurde.

Inzwischen befinden sich 113 Castoren unterschiedlicher Bauart und unterschiedlichen Inhalts im Transportbehälterlager. Fünf davon enthalten abgebrannte Brennstäbe, die übrigen 108 vom Typ CASTOR HAW 20/28 CG enthalten jeweils 28 Kokillen, die in Glas eingebettete Spaltprodukte enthalten (überwiegend in Form von Metalloxiden).

Die Behälterwandungen aus kohlenstoffhaltigem Gusseisen (GGG40 - bis zu 4 Prozent Kohlenstoff) sind aus Transportgründen vor allem aber wegen der Abschirmung der aus der Füllung stammenden hochradioaktiven Strahlung circa 45 Zentimeter dick. Im beladenen Zustand wiegt ein Behälter circa 110 Tonnen.

Die Behälter dürfen laut Genehmigung ein Aktivitätsinventar bis zu 1,2•1018 Becquerel enthalten. Maximal darf hochradioaktiver Atommüll bis zu einer Gesamtaktivität von 2•1020 Becquerel eingelagert werden, das entspricht etwa 3.800 Tonnen Kernbrennstoff.

Gemessen an Art und Menge des hochgefährlichen Inventars sowie an der großen Zahl der Stellplätze ist das Lagergebäude in fahrlässiger Weise geplant und erstellt worden. Ein ausreichender Schutz der eingelagerten Behälter gegen mögliche äußere Einwirkungen wie Flugzeugabstürze, Explosionen und Brände im Außenbereich ist nicht vorhanden. Lagerzustand und Funktion der Halle entsprechen nicht dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik.

Das vorhandene Behälterüberwachungssystem ist für die Überwachung der äußeren Funktionen der Behälter (Druck, Temperatur ...) und der Stellplätze ausgelegt, aber nicht für die Kontrolle der Radioaktivität in der Abluft. Aufgrund der mangelhaften Auslegung ist eine verantwortungsvolle Schadensvorsorge nicht gewährleistet.

Vor allem die bestrahlten 8E- und HAW-Glaskokillen geben beträchtliche Nachzerfallswärme ab. Eine Modellierung der Wärmeabfuhr wird durch die unterschiedliche Wärmeentwicklung der einzelnen Kokillen sehr erschwert. Nach Angaben der GNS beträgt zum Beispiel die Gesamtwärmeleistung des CASTOR® HAW28M 56 Kilowatt. Dieser Behälter ist für die Aufnahme von 28 Kokillen mit verglastem hochradoaktivem Abfall ausgelegt. Zur Abführung der von einem Castor ausgehenden Wärme (an der äußeren Oberfläche circa 60 Grad Celsius heiß) wird über Lüftungsöffnungen in den Wandungen der Lagerhalle mit der ungefilterten Abluft die gebildete Radioaktivität ständig in die Umgebung abgeführt.

Realitätsnahe Modellierungen zur Abschätzung gesundheitlicher Risiken liegen nicht vor. Von Menge und Art der freigesetzten Radionuklide (Quellterm) hängt ab, mit welchen Folgen in der Umwelt zu rechnen ist. Die unterschiedliche Aktivität der Behälter wurde nicht berücksichtigt.

Die gegenwärtige Einlagerungstechnik beruht auf längst überholten Vorstellungen über die Gefährlichkeit von Neutronenstrahlung. Nach einer Einlagerungszeit von circa 50 Jahren ist die Intensität der Neutronenstrahlung immer noch halb so groß wie zu Beginn der Einlagerung.

In dem jüngsten Bericht "Ergebnisse der Umgebungsüberwachung des GNS-Werkes Gorleben 2012" werden die im Folgenden genauer beschriebenen Aktivierungsvorgänge durch thermische Neutronen nicht einmal erwähnt.

CASTOR als Neutronenquelle

Die vom CASTOR ausgehende Neutronenstrahlung kommt durch verschiedene kernchemische Reaktionen innerhalb der Castorfüllungen zustande. In der Abschirmung entstehen langsame Neutronen durch Moderation der ursprünglich schnellen Neutronen.

In der Atmosphäre werden alle Neutronen in circa 0,1 Sekunden thermalisiert. Die mittlere Lebensdauer der thermischen Neutronen liegt bei circa 0,2 Sekunden, deren Reichweite bei einigen 100 Metern.

In die CASTOR-Wandungen sind zur Neutronenabschirmung Polyethylenstäbe (PE) eingelassen. Das metallische Wandmaterial wie auch die Moderatorsubstanz (PE) eines gefüllten CASTORs sind ständig der radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Durch starke Neutronenstrahlung im Inneren des Castors werden unvermeidbar und vorrangig durch schnelle Neutronen auch kernchemische Reaktionen in den Strukturmaterialien Eisen und PE ausgelöst.

Die vom hochaktiven Inventar ausgehende radioaktive Strahlung zersetzt PE radiolytisch zu Wasserstoff und Kohlenstoff. Atomarer Wasserstoff hat die Eigenschaft, in die gusseiserne Ummantelung zu wandern (Diffusion) und sogar mit einer gewissen Leckrate nach außen durchzudringen. Zusammen mit einer durch Wasserstoff verursachten Versprödung kommt es im Laufe der Zeit zur Minderung der Stabilität des Eisengefüges und zu erhöhter Korrosion.

Im Gußeisen kommt es zur Bildung von Radionukliden, wobei vorrangig starke Gamma- und Betastrahler wie Eisen-59 (Fe-59), Cobalt-60 (Co-60) und langlebiger Radiokohlenstoff (14C) zu beachten sind. Auch im Polyethylen (Grundbestandteile Kohlenstoff (C) und Wasserstoff (H)) entsteht durch Aktivierung Radiokohlenstoff. Diese lange bekannten Prozesse führen unter anderem zum Verlust des Wasserstoffs und damit zur Schwächung der Neutronenabschirmung.

Auch ohne erkennbare Lecks etwa durch Risse im Grauguss oder defekte Dichtungen durchdringen Neutronen und Gammastrahlung die Behälterwandungen. Allein durch austretende Neutronen wird circa 70 Prozent der außen wahrnehmbaren Gesamtstrahlung verursacht. Die radiale Flussdichteverteilung der thermischen Neutronen in der unmittelbaren Castorumgebung ist erst ab einem Abstand von 30 Zentimetern von der Castoroberfläche gemessen worden (s. HEIMLICH u.a.).

Freigesetzte Neutronen können in der Umgebungsluft befindliche Moleküle und Partikel aktivieren. Diese durch neutroneninduzierte Kernreaktionen gebildeten Radionuklide (vorrangig 14C) können zu einer hohen Strahlenbelastungen führen.

Einige Einfangreaktionen(1) sind von besonderer Bedeutung, da sie in die natürlichen Luft- und Wasser-Kreisläufe sowie in die organischen Stoffwechselvorgänge eingreifen. Bei diesen Einfangreaktionen werden neben der Bildung von zum Teil langlebigen Radionukliden in der Regel Protonen-, Alpha- und Gammastrahlung emittiert. Diese Reaktionen werden durch den andauernden Neutronenfluss aufrechterhalten, so dass permanent Neutronenaktivierung stattfindet.

Unter Berücksichtigung der trapezförmigen axial angeordneten Kühlrippen beträgt die Oberfläche eines Castors circa 100 Quadratmeter. Bei mehr als 100 eingelagerten Behältern ergibt sich damit eine Abstrahlungsfläche von circa 10.000 Quadratmetern (größer als ein Fußballfeld). Trotz der relativ geringen Flussdichte, kann die QUELLSTÄRKE wegen der großen Abstrahlungsfläche erheblich sein.

Die TBL ist somit eine NEUTRONEN-FLÄCHENQUELLE, die ständig von einer Wolke von thermischen Neutronen umgeben ist. Die Neutronenverteilung innerhalb dieser Wolke ist für den Strahlenschutz von erheblicher Bedeutung.

Wie in einer gewöhnlichen Wolke werden die Bestandteile mit Wind und Wetter bis in entfernte Bereiche transportiert. Auch hier kommt es zum "Abregnen". Im Fall der Neutronenwolke wird ein Teil der radioaktiven Partikel ausgefällt (Sedimentation).

Da die Neutronenquelle ständig wirkt, ist die Neutronenwolke quasi stationär. Für TBL als Flächenquelle ist die Neutronenflussdichteverteilung für thermische Neutronen im umgebenden Luftraum weder gemessen noch verlässlich abgeschätzt worden. Da die Fluenz ein Maß für die Teilchendichte ist, können in einfachen Fällen (zum Beispiel bei Punktquellen) sowohl Reaktionsraten wie auch Zählraten abgeschätzt werden. Im Fall von Flächenquellen sind derartige Abschätzungen sehr unsicher.

Neutronenstrahlungsfeld

Bei der Lagerung von hochaktivem Atommüll werden unter anderem Neutronen unterschiedlicher Energie emittiert. Beim Durchgang durch Materie (zum Beispiel Castorwandung) werden schnelle Neutronen auf die Geschwindigkeit thermischer Neutronen abgebremst. Die von abgebremsten Neutronen (sogenannte Thermische Neutronen) getroffenen Atome eines beliebigen Materials werden durch Neutroneneinfang überwiegend radioaktiv. Im neutronenbestrahlten Material werden Kernreaktionen ausgelöst und Radionuklide unterschiedlicher Aktivität und Halbwertszeit, sogenannte Aktivierungsprodukte erzeugt.

Die bedeutendste hier wirkende Reaktion ist die Wechselwirkung zwischen den thermischen Neutronen und den von diesen getroffenen Luftatomen und den in der Luft befindlichen Schwebstoff-Partikeln. Die für die Region wichtigsten Aerosole dürften die 14C tragenden Partikel sein. Wobei insbesondere jene Größenklassen von Bedeutung sind, die einem längeren Transport mit der Luftströmung unterliegen. Große Partikel werden schon früh - vermutlich in der Nähe der TBL - zu Boden sinken.

Es ist zu unterscheiden zwischen der aus dem CASTOR-Inventar durch Kernreaktion emittierten Strahlung und der Strahlung, die von den gebildeten Aktivierungsprodukten ausgeht. So setzt sich beispielsweise die Gammastrahlung vor Ort zusammen aus direkt aus dem Castor austretender Gamma-Strahlung und der bei dem Aktivierungsvorgang auftretenden Gammastrahlung (n,γ).

Die Ausbreitung des Strahlenfeldes und die ortsbezogene Energie der Neutronenstrahlung innerhalb eines Strahlungsfeldes hängen von der Intensität und Anordnung der Einzelquellen (Quellstärke und räumliche Anordnung der einzelnen Castoren) sowie von der materiellen Art der Umgebung (Gebäudeform, Umgebungsluft, Feuchtigkeit) ab.

Mit wachsendem Abstand von der Neutronenquelle nimmt die Flussdichte der Neutronen und damit auch die Aktivierung ab. In der unmittelbaren Nähe der CASTOR-Oberfläche treten Flussdichten bis zu 106 cm-2 s-1 auf, so dass der überwiegende Teil der durch Aktivierung gebildeten Radionuklide im Nahbereich entsteht. Thermische Neutronen erreichen in der Atmosphäre je nach Luftfeuchtigkeit Geschwindigkeiten bis circa 2000 Meter pro Sekunde.

Da sich mit jedem neu eingelagerten Castor die Quellstärke und der Neutronenfluss insgesamt verändert, muss bei einer kritischen Beurteilung auch die Abhängigkeit von der Einlagerungszeit berücksichtigt werden.

Aktivierung der Umgebungsluft durch thermische Neutronen

Die uns umgebende Atmosphäre besteht aus einem Gemisch von Gasen (im Wesentlichen Sauerstoff (O) und Stickstoff (N)) und sogenannte Luftinhaltsstoffen in Form von festen und flüssigen Schwebstoffpartikeln. Insbesondere zwischen den Luftinhaltsstoffen gibt es vielfältige stoffverändernde Wechselwirkungen. Die chemische Zusammensetzung der Partikel ist wichtig für ihre Hygroskopizität, das heißt für das Vermögen, Wasser aufzunehmen oder abzugeben.

Tabelle 1 zeigt, dass das wichtigste Lebensmittel Luft weit mehr ist als ein Gemisch der Hauptkomponenten Stickstoff und Sauerstoff. Daneben Spuren von CH4, N2O, O3, SO2, sowie flüchtige organische Verbindungen (VOC), die zum Teil hochtoxisch sind. Diese meist schädlichen Luftinhaltsstoffe interagieren miteinander in Form komplizierter und noch nicht endgültig aufgeklärter Reaktionsketten und Reaktionsverzweigungen. Die Dynamik dieser Vorgänge wird unter radioaktiver Strahlung verändert und intensiviert.


Tabelle 1: Gasbestandteile trockener Luft


Obwohl aufgrund zahlreicher Beobachtungen bereits 1975 auf das Zusammenwirken von radioaktiver Strahlung mit Luftschadstoffen und auf erhebliche Forschungsdefizite hingewiesen wurde (Deutscher Bundestag 10. Wahlperiode, Drucksache 10/5139), existieren bisher nur vereinzelt Darstellungen, die die verschiedenen Fein- und Feinst-Staubpartikel unter Berücksichtigung der morphologischen und chemischen Veränderungen durch Radioaktivität erfassen.

Eine systematische Forschung etwa im Rahmen von Technikfolgenabschätzungen ist bisher nicht erfolgt. Dabei ist dringend erforderlich, die vielfältigen Wechselwirkungen aufzuklären, durch die sogar aus ursprünglich nichttoxischen Substanzen toxische werden.

Die in der Luft gebildeten radioaktiven Aktivierungsprodukte lagern sich schnell an staubförmige Partikel an und stellen beim Absinken in bodennahe Bereiche eine erhebliche Gefahrenquelle dar. Dabei können besonders kleine Teilchen über Wochen und Monate in der Atemluft verbleiben. In und an solchen Teilchen kann es zu sehr großen Konzentrationen von Radionukliden kommen ("hot particles"). Infolge der auf kleinstem Raum wirkenden Aktivität geht von der Oberfläche solcher Teilchen eine sehr intensive Strahlung aus, die den Rahmen von "schwacher" Bestrahlung weit überschreitet.

Luftchemische Prozesse in Multiphasensystemen

Durch chemische Reaktionen der in der Atmosphäre vorhandenen Gase untereinander und mit den anderen Luftinhaltsstoffen kommt es sekundär zur Neubildung von Aerosolen/Partikeln. Diese unterliegen ständigen Änderungen durch Kondensation, Verdampfen flüssiger Bestandteile der Partikel, Koagulation, Fragmentierung oder Anlagerung von Partikeln an umgebende Oberflächen. Physikalisch-chemisch sind damit alle Merkmale eines MULTIPHASENSYSTEMS erfüllt.

Die wesentlichen Prozesse spielen sich in der Grenzschicht zwischen den in der Luft enthaltenen Partikeln und den aus anthropogenen Quellen stammenden Luftschadstoffen ab. Die Wechselwirkung (Sorption, Löslichkeit) mit und in Flüssigkeiten und Gasen wird vorrangig durch die Oberflächenstruktur der Teilchen bestimmt. In diesen Grenzschichten laufen in der Regel alle Prozesse sehr schnell ab. Eine Voraussage der gaskinetischen Abläufe ist bei der enormen Vielfalt von ineinandergreifenden Folge- und Kettenreaktionen kaum möglich. Zusätzliche unter dem Einfluss radioaktiver Strahlung auftretende strahlenchemische Reaktionen kommen dazu.

Auf diese Weise wird durch Umwandlungsprozesse (Aufund Abbaureaktionen) eine Fülle von chemotoxischen und radiotoxischen Reaktionsprodukten in der Luft erzeugt.

Solange Radioaktivität in Form thermischer Neutronen in der Luft ist, halten diese Prozesse an. Neben der Bildung von Aktivitätsprodukten treten bei jedem Produktionsakt sekundär biologisch wirksame Gamma-, Alpha- und Protonen-Strahlung auf.

Fest steht, dass so entstandene Luftschadstoffe mit der Atemluft aufgenommen werden und im Körper eine direkte oder verzögerte Schadwirkung entfalten.

Die meisten Schadstoffe sind an in der Luft vorhandenen Schwebteilchen gebunden. Am gefährlichsten sind Aerosole mit Durchmessern zwischen 0,1 und 0,001 Pikometer (pm, 10-12 Meter), da sie sich kaum absetzen und in der Atemluft verbleiben.

Über die gesundheitlichen Auswirkungen ultrafeiner Partikel bestehen erhebliche Wissenslücken. Fest steht, dass so entstandene Luftschadstoffe mit der Atemluft aufgenommen werden und im Körper eine direkte oder verzögerte Schadwirkung entfalten.

Aus Untersuchungen an Zellkulturen weiß man, dass in Verbindung mit Radioaktivität Störungen des Zellenstoffwechsels induziert und verstärkt werden. Obwohl derartige Untersuchungen bisher nicht durchgeführt wurden, ist zu vermuten, dass an ultrafeinen Partikeln haftende Radioaktivität besonders stark wirkt.

Über die großräumige Verteilung von radioaktiven Gasen und radioaktiven Partikeln liegen belastbare Modelle vor (zum Beispiel das Atmosphärenchemie-Modell, in dem meteorologische Daten und chemische Reaktionen berücksichtigt werden).

Über die radioaktive Verseuchung im Nahbereich durch lokale Freisetzungen liegen verwendbare Modelle nicht vor. Eine solche allgemein gültige Modellierung ist aussichtslos, da Morphologie, Bebauung, Bewuchs, Vorzugswindrichtung und austauscharme Wetterlagen von Ort zu Ort verschieden sind und erheblichen Einfluss auf Verteilung und radioaktiven Niederschlag (Deposition) haben.

Entstehung und Wirkung von radioaktiven Partikeln

Wechselwirkungen zwischen ionisierender Strahlung und der Umgebung von Strahlungsquellen sind seit langem Streitpunkt zwischen Experten, die sich mit kernchemischen und strahlenchemischen Prozessen befassen.

Beim Einfang thermischer Neutronen wird im Luftraum neben den schon erwähnten Aktivierungsprodukten durch andauernde kernchemische Prozesse eine große Anzahl von Ionen angeregt beziehungsweise ausgelöst. Da die auftretende Rückstoßenergie wesentlich größer ist als die Bindungsenergie, führt das in der Regel zu einem Bruch der chemischen Bindung. Insofern aktiviert die bei Bestrahlung auftretende Rückstoßenergie alle möglichen Reaktionen. Dabei können sogar chemische Verbindungen und freie Radikale entstehen, die ohne Bestrahlung gar nicht gebildet würden. Auch solche Neubildungen können umweltschädigende Wirkungen hinterlassen.

Für die hier diskutierte Situation haben vor allem die durch Neutroneneinfang im Luftraum erzeugten radioaktiven Partikel unterschiedlicher Art große Bedeutung.

Kenntnisse über Bildung, Transport, Ablagerung und Wiederfreisetzung liegen vereinzelt vor. Bis zur Stunde ist es jedoch nicht gelungen, ein realistisches Modell für das Ineinandergreifen der genannten Einzelschritte zu erstellen. Eine Abschätzung der Schadwirkung auf Menschen durch den Neutronenfluss in der Luft ist nur grob möglich, da die Neutronenflussdichten am Ort der Schädigung sehr unterschiedlich sein können. Der derzeitige Kenntnisstand über die Wirkung kontaminierter Partikel auf zelluläre Stoffwechselvorgänge ist nach wie vor unzureichend und für eine Bewertung nur grob geeignet.

Obwohl die gesundheitliche Belastung durch feine und ultrafeine Partikel in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen ist, wird bisher das radiologische Gefährdungspotential durch an Feinstäuben anhaftende radioaktive Aktivierungsprodukte kaum beachtet.

Die bisherige Schadwirkung von kontaminierten Partikeln wird in den bisherigen amtlichen Berechnungen von Strahlendosen stark unterschätzt. Abschätzungen der Dosis für das kritische Zielorgan Lunge und für andere Organsysteme sind mit großen Unsicherheiten behaftet.

Bekannt ist aber, dass bei Bestrahlung mit Neutronen zahlreiche Effekte chemischer, physiologischer und biologischer Art auftreten, die die zerstörende Strahlungswirkung im lebenden Gewebe erklären.

Die Partikelgröße bestimmt nicht nur die Verweildauer in der Atmosphäre und mögliche Transportwege sondern auch die Eindringtiefe in die Lunge und in andere lebenswichtige Organe. Ultrafeine Partikel haben zwar nur geringe Massenanteile (wenige Prozent), weisen jedoch wegen ihrer großen Zahl (bis zu 90 Prozent) eine erhebliche Teilchenoberfläche auf.

Bevorzugt lagern sich Luftschadstoffe an feine und feinste Wassertropfen an. Diese Aerosole sind wesentlich für Wolken- und Nebelbildung sowie für Niederschläge. Dieser als Luftfeuchtigkeit bekannte Sachverhalt bedeutet, dass ein Kubikmeter Luft je nach Luftdruck und Temperatur im Mittel 10 Gramm Wasser enthält. Das ist von Bedeutung, weil Partikel mit anhaftenden Wassermolekülen - sogenannte "feuchte Partikel" - eine besondere Rolle spielen.

Verbleib und Wirkung radioaktiver Aerosole

Von radioaktiven Aerosolen spricht man, wenn Radionuklide an der Oberfläche von Aerosolen haften oder wenn sich mit der ursprünglichen Substanz der Aerosole eine feste chemische oder eine lockere chemiesorptive Verbindung gebildet hat.

Aerosole (Kolloide) sind in ihrer Struktur äußerst heterogen. Das gilt insbesondere für Partikel im Ultrafeinstaub-Bereich. Grundlegende Studien über die Wirkung von radioaktivem Ultrafeinstaub auf die Umwelt sind nicht bekannt.

Diese in der Luft schwebenden Partikel unterliegen der Ausbreitung durch Wind und Wetter und damit auch der Auswaschung mittels Niederschlag. Auf diese Weise können Radionuklide auch ins Grundwasser eindringen.

Da Radionuklide sich besonders an Oberflächen von luftgetragenen Partikeln anlagern, haben Staubentwicklungen, wie sie zum Beispiel beim Straßenbau oder bei landwirtschaftlicher Bodenbearbeitung auftreten, einen messbaren Einfluss. Durch Aufwirbelung können dann kontaminierte Staubteilchen wieder in die Luft gelangen und die Aktivitätskonzentration lokal erhöhen. Eine Überschreitung der höchstzulässigen Konzentration insbesondere von 14C ist nicht auszuschließen.

Gebildete gas- und aerosolförmige Radionuklide gelangen über bestimmte Transportprozesse in nennenswerten Mengen in die Biosphäre.

Ein Teil wird bleibend die Luft verseuchen, ein anderer Teil wird mit dem Niederschlag in Gewässer gespült. Ein weiterer Teil kontaminiert die Böden und kann dort (zum Beispiel 14C) mikrobiell wieder in die Gasphase übergehen (Methanbildung).

14C-haltige Verbindungen wie Methan und Kohlendioxid können durch Assimilation, andere über das Wurzelwerk in Weidepflanzen und in Gemüse/Obst gelangen. Die Aufnahme von 14C durch Pflanzen/Feldfrüchte ist nur der Beginn der Verlagerung von 14C in Biokreisläufe. Wegen der Langlebigkeit (Halbwertszeit 5730 Jahre) kann 14C verschiedene Kompartimente wiederholt durchwandern und sich so in der Biosphäre anreichern.

Durch Zersetzung von organischem Material, durch Tierhaltung (Verdauung bei Rindern) gelangt 14C mit dem aufgenommenen Kohlendioxid über Methanbildung (Methanogenese) wieder in die Luft. Eine Kohlendioxid-Reduktion zu Methan (14CH4) erfolgt in der Regel biochemisch (mit Hilfe von Koenzymen) in mehreren Schritten. Für die vorliegende Betrachtungen ist von Bedeutung, dass der am Methan gezeigte Ersatz von Wasserstoff und Kohlenstoff durch "heiße Atome" (3H und 14C) auch in Biomolekülen stattfindet. Da Biomoleküle hohe Anteile von Wasserstoff und Kohlenstoff enthalten, können sowohl 3H und 14C ausgetauscht werden. Es kann so zu radioaktiven Substanzen mit hoher spezifischer Aktivität im Körpergewebe kommen.

Bei der ständigen Nachlieferung von 14C wird damit die Luftkontamination durch radioaktives Methan unvermindert anhalten. Eine weitere Kontamination landwirtschaftlicher Nutzflächen kann durch Bewässerung mittels verseuchten Wasser erfolgen. Mit den Niederschlägen abgeschwemmte radioaktive Bodenpartikel können ins Abwasser gelangen und sich in Kläranlagen sammeln. Das Gleiche gilt für radioaktive Partikel durch Abwaschungen von Dach- und Wandflächen. Im Klärschlamm kann es auf diese Weise zu einer hohen Konzentration von partikelgebundener Radioaktivität kommen.

Aus Untersuchungen an Organismen in aquatischen Systemen weiß man, dass bereits nichtradioaktive Partikel tief in die Organe eindringen, sogar die Blut-Hirn-Schranke überwinden und damit die Gehirnsteuerung stören.

Dabei zeigte sich, dass die toxische Wirkung vorrangig von der Größe der Partikel und der Art ihrer Oberfläche abhängt.

Über das ökotoxische Wirkprinzip gibt es unterschiedliche Modellvorstellungen. Das Wirkpotenzial ultrafeiner Partikel nimmt mit Verkleinerung der Teilchen zu: Je kleiner desto wirkungsvoller!

Diese Aussagen gelten zweifellos auch für radioaktive Teilchen. Über Verbleib, Verteilung sowie über die Anreicherung von radioaktiven Teilchen in der Umwelt gibt es nur grobe Abschätzungen.

Inkorporiert wirken viele Partikel chemotoxisch und die aktivitätstragenden zusätzlich radiotoxisch. Da mit jedem Atemzug circa 100 Partikel in den Atemtrakt gelangen, ist die Aufnahme auch von radioaktiven Partikeln und radioaktiven Aerosolen unvermeidbar. Die mittlere Atemrate beträgt 1,25 Kubikmeter pro Stunde (m³/h). Mit der Atemluft aufgenommene radioaktive Aerosole ("heiße Partikel") können am Ort der Ablagerung Dosisleistungen von einigen Hundert bis Tausend rad pro Stunde (rad/h) verursachen.(2) Die bisherige Schadwirkung von kontaminierten Partikeln wird in den bisherigen amtlichen Berechnungen von Strahlendosen hoch unterschätzt. Abschätzungen der Dosis für das kritische Zielorgan Lunge und für andere Organsysteme sind mit großen Unsicherheiten behaftet.

Eine Abschätzung der Schadwirkung auf den gesamtem Körper durch den Neutronenfluss in der Luft ist nur grob möglich, da die Neutronenflussdichten am Ort der Schädigung und damit auch die Aktivierungsvorgänge sehr unterschiedlich sein können.

Radiologisch bedeutsame Reaktionen und Prozesse

Eine belastbare Bewertung der Risiken setzt zunächst die Kenntnis und die Bewertung der Emissionsquellen voraus. Bisher existieren nur vereinzelt Zusammenstellungen, in denen verschiedene Stoffe und Stoffklassen unter Berücksichtigung der morphologischen und chemischen Eigenschaften erfasst sind.

Im strahlenchemischen Bereich gibt es dazu nur Ansätze. Bekannt ist, dass strahlenkatalytische Vorgänge einen großen Einfluss auf physikochemische Parameter und damit auf Reaktionsabläufe haben.

Ein intaktes lebendes System stellt eine sehr komplizierte und dynamische Struktur dar. So sind zum Beispiel die Nukleinsäuren (RNS, DNS) und andere hochmolekulare Eiweißverbindungen (Molekulargewicht bis 100 Millionen) nur im Zusammenhang mit ihren biologischen Funktionen zu definieren. Subzelluläre Strukturen sind energetisch und stofflich so aufeinander abgestimmt, dass zusätzliche Energiezufuhr - etwa durch radioaktive Strahlung - sowie stoffliche Veränderungen die lebensnotwendigen Abläufe (insbesondere den Stoffwechsel in einer Körperzelle) empfindlich stören.

Im neutronenbestrahlten Gewebe werden diverse Radionuklide unterschiedlicher Aktivität und Halbwertszeit erzeugt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der während einer Kernumwandlung emittierten Strahlung (meist Gamma) und der Strahlung durch Produktkerne als Folge des radioaktiven Zerfalls.

In jedem Fall tritt Ionisation und Radikalbildung auf. Bei den durch Neutronen ausgelösten Kernreaktionen werden in submikroskopischen Bereichen (zum Beispiel in Körperzellen) Energiebeträge zwischen 100 und 1000 Elektronenvolt (eV) übertragen, die bei weitem die Bindungsenergien in einem Biomolekül übersteigen. Dieser Transfer hoher Energiebeträge auf engstem Raum löst eine kaskadenartige Ionisation und in der Regel ein Zerstörung oder Funktionsstörung des Biomoleküls aus. Zusätzlich treten durch Rückstoßeffekte hochionisierte Radikale mit ungewöhnlicher Reaktivität und Schadensdichte auf (Hot Atom Chemistry, abgekürzt HAC). Neutronen wirken sowohl ionisierend wie auch molekülzerstörend.

Die Kenntnisse über die dabei ablaufenden radiochemischen, kernchemischen und thermochemischen Reaktionen sind selbst für einfache Molekül-Systeme noch sehr lückenhaft. Die meisten Prozesse der HAC in kondensierten Phasen werden zur Zeit noch nicht verstanden. Über die Schadmechanismen der Primär- und Folgevorgänge an Biomolekülen (in vivo) unter dem Einfluß von Neutronenstrahlung weiß man praktisch nichts.

In einer von Neutronen getroffenen Körperzelle kommt während und nach der Neutronenbestrahlung ein unüberschaubares Gemisch ionisierender Strahlen zur Wirkung. Die Folgen für biochemische Reaktionen und biomolekulare Strukturveränderungen sind gegenwärtig völlig unklar. Die physiologischen, histologischen und zytologischen Folgewirkungen sind im Einzelnen wenig, ihr Zusammenwirken überhaupt nicht erforscht.

Bei der gesetzlichen Festlegung von höchstzulässigen Konzentrationen werden mögliche Kombinationswirkungen nicht betrachtet. In der Regel treten in Radionuklidmischungen nachweislich Schädigungen auch unterhalb der Grenzwerte der einzelnen Radionuklide auf. Dieser als COCKTAILEFFEKT bezeichnete Sachverhalt bedeutet, dass die Wirkung in Gegenwart eines oder mehrerer anderer Radionuklide wesentlich verstärkt wird. Die Gesamtwirkung ist also nicht durch Addition der einzelnen Grenzwerte zu erfassen.

Da die Aktivitätszufuhr und die Wirkungsketten durch inhalierte Radionuklide nicht komplett bekannt sind, kann die radiologische Gefährdungslage nicht verlässlich abgeschätzt werden.

Die besondere Gefährlichkeit von Radiokohlenstoff

14C gehört zur Gruppe der "heißen Atome", deren Besonderheit darin besteht, dass sie nicht nur radioaktiv wirken, sondern auch chemisch sehr aktiv sind. Heiße Atome reagieren chemisch in Form von Ionen oder hochangeregten Atomen zu Produkten, die unter Normalbedingungen nicht auftreten.

In der Atmosphäre liegt Kohlenstoff im Wesentlichen als Kohlendioxid CO2 vor. Nach der Bildung von Radiokohlenstoff verbindet sich dieser überwiegend mit dem Sauerstoff der Luft zu radioaktivem Kohlendioxid (14CO2) und kann mit der Atemluft aufgenommen werden. Auch durch Photosynthese gelangt 14C über die Nahrungskette in den Körper. Im Körper wird 14C wie stabiler Kohlenstoff umgesetzt, weil er nicht als Fremdsubstanz erkannt wird.

Das weitere Verhalten von inkorporierten Radiokohlenstoff, sein Transport in verschiedene Körperregionen, sein Einbau und Verbleib in bestimmten Körperorganen oder -geweben wird in erster Linie durch Stoffwechselprozesse bestimmt.

Da Lebewesen bei ihrem Stoffwechsel ständig Kohlenstoff austauschen, besteht die Gefahr, dass sich Radioaktivität in Form von 14C im Körpergewebe anreichert. Wegen der hohen spezifischen Aktivität geht von der Inkorporierung des 14C eine besondere Gefahr aus. Kohlenstoff ist als wesentlicher Teil der Biomoleküle an allen Stoffwechselprozessen in allen Körperregionen und Organen beteiligt. 14C kann sogar in die DNS eingebaut werden und damit die genetischen Informationen verändern.

Maßgebend für die Aktivitätszufuhr durch Inhalation sind die Aktivitätskonzentration in der Luft sowie die Atemrate, die bei einer erwachsenen Person circa 22 Kubikmeter pro Tag beträgt.

Lungengängige Partikel sind feinverteilt in großer Zahl in der Luft enthalten (mehr als 1 Million pro Kubikmeter Luft). Obwohl bekannt ist, dass kleinste Partikel besonders gefährlich sind, gibt es amtlicherseits keine Aufschlüsselung der Feinstäube unter 5 Pikometer (pm). Ultrafeinstaubpartikel können durch luftchemische Prozesse wachsen.

Dieser als Nukleation bezeichnete Vorgang wird wahrscheinlich unter dem Einfluss von Radioaktivität verstärkt.

Eingeatmete ultrafeine Staubteilchen mit weniger als 0,1 Mikrometer (µm, 10-6 Meter) Durchmesser (Nanopartikel) können über die Lungenbläschen die Blutbahn erreichen, sich somit schnell im Körper verteilen und folgenschwere Wirkungsketten auslösen.

Bei der Inkorporation kann die Zahl der Zerfälle, die auf biologisches Gewebe zerstörend wirken, beachtlich sein. Nachweislich wird die Funktion betroffener Organe verändert.

Abschätzungen der biokinetischen Abläufe nach Inkorporation von 14C liegen meines Wissens nicht vor. Verlässliche Modelle über die physiologischen und molekularbiologischen Vorgänge in einzelnen Körperzellen durch 14C sind bisher nicht entwickelt worden.

Schlussfolgerungen und Forderungen

Die Unterschätzung radioaktiver Aktivierungsprodukte ist ein typisches Beispiel für Bewertungen von Situationen, bei denen die Ursachen und die messbaren Auswirkungen zeitlich weit auseinanderliegen.

Durch die jahrzehntelange Einlagerung und wegen der Langlebigkeit von 14C kann durch Anreicherung während der Einlagerungszeit die Aktivitätskonzentration von 14C in bodennahen Luftschichten beträchtlich sein.

Die Nichtbeachtung dieses Sachverhalts hat zu einer Kontrollplanung geführt, in der eine Überwachung der durch Neutronen ständig erzeugten Aktivierungsprodukte nicht vorgesehen ist.

Die Tatsache, dass die Problemlage vielschichtig und komplex ist, hat offensichtlich dazu geführt, dass bei der Prüfung auf Radioaktivität einige aufschlussreiche Untersuchungen nicht erfolgt sind. Dieses Versäumnis beruht vermutlich auf der Auffassung, dass die von Neutronenstrahlung ausgehende Gefahr durch Abschirmung hinreichend vermindert würde. Das steht im Widerspruch zu den gegenwärtig vorliegenden und wissenschaftlich anerkannten kernchemischen, strahlenchemischen und strahlenbiologischen Erkenntnissen.

Aufgrund der Bedeutung dieser Aspekte besteht erheblicher Forschungs- und Kontrollbedarf:

1. Erarbeitung eines Gesamtkonzepts zu einer Überwachungsstrategie mit wiederkehrenden Prüfungen.

2. Die vorhandene Neutronenstrahlung ist durch zusätzliche Abschirmmaßnahmen umgehend zu reduzieren. Gegebenenfalls sind Maßnahmen zur Begrenzung der kurz- und langfristigen Schadwirkungen umgehend einzuleiten.

3. Durch längere Einhausung (s. Skizze im Anhang) eines repräsentativen Castors über Wochen und Monate ist experimentell die Anreicherung von 14C im unmittelbaren Strahlungsfeld des Castors zu ermitteln.

4. Unverzüglich sind Untersuchungen über den Verlauf der 14C-Aktivität in der Atemluft sowie über Anreicherung und über die Verteilung der 14C-Aktivität erforderlich.

5. Für die Berechnung ist von der höchsten in den Behältern sowie im gesamten Zwischenlager auftretenden Neutronenquellstärke und von der ungünstigsten räumlichen Verteilung der Strahlenquellen auszugehen. Die übliche, anhand von Nuklidvektoren (QUELLTERM) errechnete Gesamtaktivität berücksichtigt weder die unterschiedliche Aktivität der Behälter noch mögliche Dosiskalkulationen zur Abschätzung gesundheitlicher Risiken.

6. Das Ausmaß der beschriebenen radioaktiven Kontamination ist dringend zu untersuchen. Aus radiologischer Sicht muss in einer umweltbezogenen Überwachung der Einfluss der radioaktiven Emissionen auf die Umgebung nachvollziehbar dargestellt werden.

7. Art und Intensität der Emissionen sowie der Immissionen in betroffenen Umweltbereichen (bodennahe Luftschichten, Trink- und Grundwasser, Niederschlag, Boden, Pflanzen) sind unter Kennzeichnung der Aufpunkte zu messen und offenzulegen. Der Ermittlung der Langzeit- und der Kurzzeitausbreitung insbesondere für die Hauptausbreitungsrichtung kommt dabei besondere Bedeutung zu.

8. Bei der Erfassung radioaktiver Aerosole sind die Abhängigkeit vom Durchmesser der Aerosolpartikel sowie die größenabhängigen Verweilzeiten in der Atemluft zu berücksichtigen.

9. Durch Analysieren und Vergleichen von gewachsenen Ringen aus Bäumen und gealtertem Holz (Dendrochronologie) sollten zurückliegende Ereignisse und Veränderungen in der Umgebung ermittelt werden.

10. Bei einer Ermittlung der flächenbezogenen Aktivität sind eine Verlagerung von 14C in tiefere Bodenschichten sowie eine Bestimmung von Transferfaktoren Boden/Bewuchs für verschiedene Standorte zu berücksichtigen.

11. Bei einer Kontrolle der möglichen Ausbreitung sedimentierter Radionuklide über das Grundwasser sind die Fließgeschwindigkeiten und die Beschaffenheit des Grundwasserleiters zu beachten.

12. Eine mögliche Ableitung radioaktiver Stoffe mit dem Abwasser ist anhand von Mischproben zu ermitteln und zu bilanzieren.

13. Eine mögliche steigende Tendenz der Bodenbelastung sollte durch Ermittlung des "Washout-Effekts" erkennbar sein.

14. Die aus toxikologischen Untersuchungen abgeleiteten biokinetischen Modelle, die die Aufnahme einer Verbindung in den Körper, ihren Metabolismus, die resultierende Verteilung der Aktivität im Körper und schließlich ihre Ausscheidung beschreiben, sind insbesondere auf 14C anzuwenden.



* Prof. Dr. Rolf Bertram
Göttingen, 25. September 2014
bertramrolf[at]aol.com

Diese Studie wurde erstellt im Auftrag des Landkreises Lüchow-Dannenberg


ANHANG 1

Definitionen und Erklärungen

Quellstärke: Die Anzahl der von der Quelle pro Zeiteinheit abgegebenen Neutronen heißt Quellstärke. Die Quellstärke einer radioaktiven Neutronenquelle ist im allgemeinen zeitlich nicht konstant.

Aktivitätskonzentration: Die Aktivitätskonzentration in Luft ist der Quotient aus Aktivität und Volumen: Bq/m³.

Thermische Neutronen: Neutronen im Energiebereich von etwa 0,02 eV bis etwa 0,5 eV nennt man thermische oder langsame Neutronen.

Neutronenfluenz: Die Neutronenfluenz (auch Flussdichte genannt) ist eine physikalische Größe zur Beschreibung von Teilchenstrahlung. Sie bezeichnet die Anzahl von Teilchen (n), die durch eine gedachte Fläche (F) hindurchtreten: (CD) = n/F. Von der Flussdichte hängt ab, wie viel Luftmoleküle/Luftbestandteile getroffen und mittels Einfangreaktionen zu Aktivierungsprodukten umgewandelt werden.

Neutronenaktivität: Die physikalische Größe Aktivität A ist an einzelnen Punkten des Neutronenstrahlungsfeldes durch entsprechende Messgeräte einfach zu messen. Für die vorliegende Betrachtung sind die gemessenen Dosiswerte (angegeben in Sievert (Sv)) nur von Belang, wenn sich jemand direkt im Strahlungsfeld aufhält (s. Castortransporte). Über die biologische Wirkung wird damit nur wenig ausgesagt.

Neutroneneinfang führt zu Kernreaktion der Art (n,n,p), (n,er (n,f), das heißt zur Emission von Alphateilchen, Protonen, Gammastrahlung oder Spaltprodukten (f = fission).

Beispiel für Einfangreaktionen:

(b bedeutet Wirkungsquerschnitt, ist ein Maß für die Bildungsrate)

1. Bildung von Radiokohlenstoff (14C) aus Stickstoff 14N (n, p) 14C→1,8 b, Protonen (14N) 14N (n, p) 14C->1,8 b, Protonen

(Diese in der Kernchemie übliche Schreibweise für kernchemische Prozesse bedeutet: Unter Neutronenbestrahlung (n) wird nichtradioaktiver Stickstoff (14N) unter Emission von Protonen (p) zu radioaktiven Kohlenstoff (14C)).

Das gebildete 14C wird sich - weil chemisch sehr reaktiv - augenblicklich mit dem Sauerstoff der Luft zu Kohlendioxid in der Form 14CO2 verbinden.


Schema der Stickstoffaktivierung


ANHANG 2


Skizze der Einhausung mittels gasdichter Folie

Folie schließt die Anordnung Castor + Kühlaggregat gasdicht ab. Das Kühlaggregat dient der Kühlung ohne Luftwechsel. Gebildeter Radiokohlenstoff bleibt innerhalb der Folienumhüllung und reichert sich innerhalb von Wochen/Monaten so an, dass kontrollierende Messungen auf Aktivierungsprodukte erfolgen können.


Anmerkungen

(1) s. Anhang 1, S. 8

(2) rad (radiation absorbed dose) = Energiedosis; 1 Gray = 100 rad; Anm. d. Red.


Literatur:

1. D. MÖLLER, "Luft", Bd.1 u.2, de Gruyter, Berlin, 2003

2. H. KRIEGER, Strahlenphysik, Dosimetrie und Strahlenschutz, Band 1 Grundlagen, B.G. Teubner, Stuttgart 1998

3. P.H.M. HOET, I. BRÜSKEHOHLFELD, O.V. SALATA, Review Open Access "Nanoparticles - known and unknown health risks", Review, Journal of Nanobiotechnology 2004,2,12

4. B.F. GUDZENT, M. LEVY, "Vergleichende biologische Untersuchungen über die Wirkung von α-, β- und γ-Strahlen", Strahlentherapie, Bd.8, S. 53, 1918

5. G. FUCHS, "Die Strahlengefährdung des Menschen in der gegenwärtigen Zivilisation", Akademie-Verlag, Berlin 1971

6. M.L. SCHALNOW, "NEUTRONEN-GEWEBEDOSIMETRIE", VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1963

7. K.H. LIESER, "EINFÜHRUNG IN DIE KERNCHEMIE", VCH, Weinheim 1980

8. V. MAJER, "GRUNDLAGEN DER KERNCHEMIE", Carl Hauser Verlag, München-Wien, 1982

9. W.D. LOVELAND u.a., "Modern Nuclear Chemistry", Wiley Interscience, 2006

10. W.J. COOPER u.a., "ENVIRONMENTAL APPLICATION OF IONIZING RADIATION", J. Wiley, 1998

11. G. ERDTMANN, "Neutron Activation Tables - Kernchemie in Einzeldarstellungen - Volume 6", Verlag Chemie, (1976)

12. A.C. CHAMBERLAIN, "Radioactive Aerosols", Cambridge Environmental Chemistry, Series 3, Cambridge University Press, 2004

13. D.H. OUGHTON, V. KASHPAROV, "Radioactive Particles in the Environment", NATO Science for Peace Series and Security Series-C: Environmental Security, Springer, 2009

14. LUBW, "LUFTCHEMISCHE MODELLE" aus "Einflussgrößen auf die zeitliche und räumliche Struktur der Feinstaubkonzentrationen", LUBW, 2007

15. B. SALBU, "Speciation of Radionuclides in the Environment", Encyclopedia of Analytical Chemistry, John Wiley & Sons, 2006

16. A. KRINS, P. SAHRE, TH. SCHÖNMUTH, "Biokinetik und Dosimetrie radioaktiv markierter organischer C-14-Verbindungen", VKTA-75, Dezember 2003

17. I. COLBECK, M. LAZARIDIS, "Aerosol Science: Technology and Applications" Pages: 441-468, 2014, Published Online: 10 JAN 2014, DOI: 10.1002/9781118682555.ch18

18. F.H. HEIMLICH, "Messungen im Neutronen- und Gamma-Strahlungsfeld eines beladenen CASTOR IIa-Behälters im Transportbehälterlager Gorleben und Vergleich der Meßergebnisse für Neutronen mit Monte-Carlo-Rechnungen", BfS - 24/97.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_15_672-673_S01-08.pdf

*

Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Januar 2015, Seite 1-8
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang