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ATOM/1172: Transportbehälterlager Gorleben setzt in erheblichem Umfang Radioaktivität frei (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 686-687 / 29. Jahrgang, 6. August 2015 - ISSN 0931-4288

Atommüll

Das Transportbehälterlager Gorleben setzt in erheblichem Umfang Radioaktivität frei

von Ralf Kusmierz (*)


Der Landkreis Lüchow-Dannenberg hatte zur Frage der Sekundären Radioaktivität als mögliche Ursache für den Anstieg des Geburtengeschlechterverhältnisses im Umkreis um das Transportbehälterlager Gorleben (TBL-G) für hochaktive wärmeerzeugende radioaktive Abfälle in derzeit 113 Castor-Behältern zwei Gutachten bei unabhängigen Wissenschaftlern von Nicht-Regierungsorganisationen in Auftrag gegeben. [1, 2] Ende 2014 sind sie in Lüchow öffentlich vorgestellt worden. Zum 7. Juli 2015 hatte die Samtgemeinde Gartow, in deren Gebiet sich das Lager mit den Castorbehältern befindet, außerdem zu einer öffentlichen Samtgemeinderatssitzung eingeladen, in der Vertreter des Bundesumweltministeriums, des Lager-Betreibers Gesellschaft für Nuklear-Service mbH (GNS) und der unabhängige Epidemiologe Dr. med. Christoph Zink aus Berlin ihre Sicht auf das Problem darstellten.

Für die GNS trug der Physiker Hartmut Schulze die Position des Betreibers vor. [3] Die GNS hatte die These der sekundären Aktivitätsentstehung durch Neutronenaktivierung offenbar sehr ernst genommen, denn Schulze legte dar, daß mit dem Monte-Carlo-Simulationsprogramm MCNP die Mengen der in der Hallenluft in einem Jahr gebildeten Radioaktivitätsmengen berechnet wurden. Die dargestellten Ergebnisse bestätigten qualitativ die im Wendland-Gutachten gemachten Ausführungen, wonach der alles andere weit überragende Hauptanteil der Aktivierungsprodukte aus dem betastrahlenden Argon 41 besteht. Die von der GNS angegebenen Aktivitätsmengen sind dabei erschreckend hoch. Angegeben wurden folgende Ergebnisse, hier sortiert in absteigender Menge der Nuklide, die im Jahr 2012 durch Neutroneneinfangreaktionen der TBL-G-Hallenluft gebildet wurden [3; S.12]:


Tabelle der Nuklide 41AR, 37AR, 14C, 3H, 39AR, 36Cl, 10Be und ihrer Jahresaktivitätsmenge -Quelle: Ralf Kusmierz, Zahlen: GNS

Quelle: Ralf Kusmierz, Zahlen: GNS

Die drei dominierenden Radionuklide sind demnach Argon-41 (41Ar), Argon-37 (37Ar) und Kohlenstoff-14 (14C). Die Jahresmenge von 2 Terabecquerel für Argon-41, entsprechend einer Erzeugung von mehr als 60.000 Becquerel pro Sekunde (Bq/s), erscheint sehr hoch; an anderer Stelle [3; S.14] gibt Schulze einen um drei Größenordnungen niedrigeren Wert von 1,8·109 Becquerel pro Jahr an. Meßtechnisch blieb die erzeugte Menge laut Schulze aber gleichwohl unter der Nachweisgrenze. Schulze zog aus den präsentierten Daten den Schluß, daß die sekundär erzeugte Aktivität nicht zu relevanten oder gar unzulässigen zusätzlichen Strahlenbelastungen führe und selbstverständlich alle Vorschriften eingehalten würden. Festzuhalten bleibt allerdings, daß hier die GNS erstmals öffentlich einräumt, daß vom Transportbehälterlager erhebliche Radioaktivitätsmengen freigesetzt werden. Zuvor hatte sie stets die Position vertreten, das Transportbehälterlager gebe überhaupt keine Radioaktivität ab, was durch die Meßergebnisse bestätigt würde.

Die dargestellten Simulationsergebnisse beziehen sich auf die Aktivitätserzeugung in der Hallenluft. Unbestritten tritt Neutronenstrahlung aber auch aus der Lagerhalle aus und führt auch noch in einigem Abstand zu meßbaren Flüssen, wenn auch mit geringerer Intensität als innerhalb des Gebäudes. Damit ist das von den Neutronen durchstrahlte Luftvolumen erheblich größer als das innerhalb der Halle und entsprechend ist auch im Außenbereich mit einer zusätzlichen Aktivitätserzeugung zu rechnen, die die GNS verschwieg und über deren Höhe sie keine Angaben machte.

In diesem Zusammenhang ist auch nach der Rolle der "Unabhängigen Meßstelle" des Landes Niedersachsen und damit nach der politischen Verantwortung des Landes zu fragen. Schulze gab an, daß seit 2008 MCNP-Rechnungen zur sekundären Gammastrahlung durchgeführt wurden. Sekundäre Gammastrahlung, die bei Reaktionen freier Neutronen mit den Atomkernen der Luft entsteht, ist aber ein eindeutiges Indiz für das Vorhandensein eben dieser freien Neutronen sowie für das Auftreten von Anlagerungsreaktionen. Sowohl die GNS als auch die Aufsichtsbehörde mußten wissen, daß solche Einfangprodukte teilweise radioaktiv sind. Gleichwohl erklärte der Vertreter der unabhängigen Meßstelle noch beim Expertengespräch zu den "Verlorenen Mädchen" bei der NLGA im März 2012 in Hannover auf die Frage nach den Aktivierungsprodukten der Luft, dabei käme man "kaum auf Raten", was mit anderen Worten bedeutet, daß er die erzeugte Radioaktivitätsmenge als vernachlässigbar klein ansah.

Sinnvoll wäre sicherlich, die Angaben der GNS unabhängig überprüfen zu lassen. Beispielsweise weist der Verlauf des Wirkungsquerschnitts der Neutronenanlagerung an Argon-40 starke Resonanzen für schnelle Neutronen im Energiebereich um 1 MeV herum auf. Das kann zu einer erheblichen zusätzlichen Aktivitätserzeugung führen, falls dieser Verlauf im Programm MCNP nicht berücksichtigt wurde und die Rechnungen nur für thermische und epithermische Neutronen durchgeführt worden sein sollten. Dabei ist auch zu beachten, daß schnelle Neutronen eine deutlich höhere Reichweite gegenüber moderierten haben und deswegen auch noch in Volumenbereichen wirksam werden könnten, die in der Simulation eventuell nicht berücksichtigt wurden.

1. Ralf Kusmierz, Hagen Scherb, Kristina Voigt: Gutachten zum Phänomen der "Verlorenen Mädchen" und zur Freisetzung sekundärer Radioaktivität durch Neutronenstrahlung an Castorbehältern, Wendland-Gutachten im Auftrag des Landkreises Lüchow-Dannenberg, Oktober 2014.
https://www.helmholtz-muenchen.de/fileadmin/ICB/biostatistics_pdfs/scherb/20141031_Endfassung_Gorleben_Gutachten.pdf

2. Rolf Bertram: CASTOR als Neutronenquelle, Sekundäreffekte durch die Lagerung von Castorbehältern im Zwischenlager Gorleben, Studie im Auftrag des Landkreises Lüchow-Dannenberg, Strahlentelex 672-673 v. 8.1.2015, S. 1-8,
www.strahlentelex.de/Stx_15_672-673_S01-08.pdf

3. Hartmut Schulze, Gesellschaft für Nuklear-Service mbH (GNS): Präsentation auf der öffentlichen Ratssitzung der Samtgemeinde Gartow, 07.07.2015.


(*) Ralf Kusmierz, Dipl.-Ing., Helmholtz Zentrum München,
ralf.kusmierz[at]helmholtz-muenchen.de


Ergänzung 08.08.15

Nach Drucklegung der Strahlentelex-Ausgabe vom 6. August 2015 mit dem Beitrag von Ralf Kusmierz zu den Freisetzungen von sekundärer Radioaktivität aus dem Transportbehälterlager Gorleben (S. 1-2) teilte der darin zitierte Hartmut Schulze mit, daß seine Folie 12 einen Schreibfehler aufweist: Die MCNP-Simulationsrechnung habe tatsächlich 1,8·109 Becquerel Argon-41 pro Jahr (Bq/a Ar-41) ergeben, nicht 2·1012. Und die (konservative) Annahme sei, daß dies alles auch abgeleitet wird. Der Physiker Schulze ist Fachbereichsleiter Strahlenschutz im Werk Gorleben der Gesellschaft für Nuklear-Service mbH (GNS) und führt weiter aus: "Wie ich in Gartow erläutert hatte, haben wir stichprobenhaft, d. h. einmalig, Probenahmen und Messungen durchgeführt, um lediglich die Größenordnung der Aktivierung zu bestimmen, was eine relativ hohe Unsicherheit mit sich bringt. Die Fragestellung für uns war, ob die heute mit modernen Verfahren gewonnenen Ergebnisse im Vergleich zu früheren Betrachtungen ggf. Anlass geben würden, solche Messungen dauerhaft zu etablieren. Dies konnten wir klar verneinen, was ich auch in Gartow ausgesagt hatte. Anstelle der Erzeugung von statistisch besser gesicherten Messdaten sind wir den konservativen Weg gegangen und haben den jeweils höheren Wert, d. h. beim Ar-41 den Wert, der aus der MCNP-Rechnung folgt, verwendet, obwohl dieser höhere Wert messtechnisch nicht nachgewiesen werden konnte. Die bei der Messung erreichte Nachweisgrenze liegt bei 1,6·108 Bq/a, ist also geringer als das MCNP-Rechenergebnis von 1,8·109 Bq/a. Dass das MCNP-Rechenergebnis von der Nachweisgrenze des Messverfahrens abweicht, ist aufgrund der Unsicherheiten bei einmaliger Messung somit nicht verwunderlich." (Anm. d. Red.)


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_15_686-687_S01-02.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, August 2015, Seite 1-2
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2015

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