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INSEKTEN/204: Der Hirschkäfer - Symbol für naturnahe Umwelt (Unser Wald)


Unser Wald - 2. Ausgabe, März/April 2012
Zeitschrift der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald

Der Hirschkäfer - Symbol für naturnahe Umwelt

von Bernhard Klausnitzer



War schon die Große Kerbameise (Formica exsecta) als Insekt des Jahres 2011 eine Wahl, die es ermöglichte, den Wald als vielfältigen und naturnahen Lebensraum in das öffentliche Interesse zu rücken, so gilt das für den Hirschkäfer (Lucanus cervus) als Insekt des Jahres 2012‍ ‍gleichermaßen. Man sieht in ihm gern ein Glied der Waldfauna - das stimmt auch, aber nicht ganz.

Als wärmeliebende Tierart besiedelt er auch baumbestandenes Offenland, z. B. alte Obstgärten. Zuerst denkt man beim Hirschkäfer an alte Eichen als unmittelbaren Lebensbereich, auch das ist richtig, aber der Hirschkäfer ist plastischer - auch andere Laubbaumarten eignen sich als Brutsubstrat. Schauen wir deshalb zuerst auf den Lebenslauf.

Etwa im Mai schlüpfen zunächst die Männchen aus dem Boden. Ihr erster Weg führt sie zu Saftstellen, die sich meist an alten Eichen finden. Mehrere Kilometer können in einer Flughöhe bis zu 10 m zurückgelegt werden. Der Flug der großen Käfer ist beeindruckend: laut brummend, mit einer Geschwindigkeit von 4 bis 7 km/h wird eine Saftstelle aufgesucht. Die meisten Individuen bleiben in der Umgebung ihres Entwicklungsortes. Je weiter die Tiere fliegen müssen, desto größer werden die Verluste. Es ist also wichtig, Lebensräume zu erhalten, wo Brutsubstrat und Saftstellen nahe beieinander liegen. Die Saftmale sind unerlässlich, sie sind Treffpunkt der Geschlechter und dienen als Nahrungsquelle. Unterkiefer und Unterlippe formen ein großes, gefiedertes, gegabeltes, gelbliches "Pinselchen", mit dem der Saft aufgenommen wird. Der Baumsaft ist nicht nur Nahrung, er enthält auch Schlauchpilze, die für die Reifung der Keimzellen erforderlich sind.

Die Weibchen kommen etwas später aus der Erde, sie fliegen selten, sondern laufen meist zu den Saftmalen. Sobald ein Weibchen eingetroffen ist, werden weitere Männchen angelockt, denn es gibt Sexuallockstoffe (Pheromone) ab. Nun kommt es zu Rivalenkämpfen der Männchen untereinander. Mit den "geweihartigen" Oberkiefern versuchen sie, einander herunterzuwerfen - diese Kommentkämpfe haben sicher zu einem Vergleich mit dem Rothirsch eingeladen und den Namen "Hirsch"käfer mit verursacht.

Der Sieger stellt sich über das Weibchen, wobei die Köpfe in die gleiche Richtung zeigen und hindert mit seinen Mandibeln (Oberkiefer) das Weibchen am Fortlaufen. Das Männchen bleibt in dieser Stellung unter Umständen mehrere Tage und verteidigt die Leckstelle und das Weibchen. Schließlich erfolgt die Paarung.

Nach Beendigung der Paarung verlässt das Weibchen die Saftstelle und sucht einen weißfaulen Wurzelstock (bevorzugt Eiche) auf und gräbt sich neben diesem 30-50 cm tief in die Erde ein. An der Außenseite des Wurzelholzes werden die Eier abgelegt. Dann kommt das Weibchen wieder zu einer Saftstelle zurück. Es muss Nahrung aufnehmen, und es kommt zu einer erneuten Paarung, an die sich wieder eine Eiablageaktion anschließt. Dieser Zyklus wiederholt sich mehrere Male. Insgesamt werden 50-100 Eier abgelegt. Die weißlich-gelben, leicht ovalen Eier haben einen Durchmesser von 3,0 x 3,4 mm, ihr Gewicht beträgt 0,02 g.

Nach etwa 14 Tagen schlüpfen die Larven. Sie ernähren sich von mehr oder weniger in Zersetzung befindlichem, morschem, feuchtem, verpilztem Holz, das sie mit der Zeit zu Mulm umsetzen und abbauen. Die Larven häuten sich zweimal, die drei Stadien unterscheiden sich in ihrer Größe erheblich und erreichen schließlich eine Länge von 100-120 mm. Für ihre Entwicklung benötigen sie meist fünf Jahre, es können aber auch sechs bis acht Jahre bis zur Verpuppung vergehen. Ein besonderes Kennzeichen der Hirschkäferlarven ist das Vorhandensein eines Stridulationsorgans (Lauterzeugung durch Reiben) auf der Rückseite der Hüften der Mittelbeine und der Vorderseite der Schenkelringe der Hinterbeine. Durch Reiben gegeneinander können Töne erzeugt werden. Der Laut besteht aus einem kurzen Knarren, das manchmal wiederholt wird.

Die Larve fertigt während zwei bis drei Wochen aus Erde und Mulm 15-20 cm tief in der Erde in der Umgebung des Brutsubstrates einen bis faustgroßen ovalen Kokon an, der als Puppenwiege dient. Seine Wände sind bis zu 20 mm dick und innen mit Nahrungsbrei und pilz- und bakterienhemmenden Sekreten geglättet und verfestigt. Der Kokon der männlichen Larve ist wesentlich größer, vor allem länger als der eines Weibchens. Es muss Platz bereitgestellt werden für die Mandibeln, die der geschlüpfte männliche Käfer ausgestreckt hält (an den Puppen sind die Oberkiefer der Männchen nach der Bauchseite eingeschlagen!). Dieses Verhalten ist äußerst bemerkenswert, man sagt "genetisch fixiert". Nach etwa sechs Wochen schlüpfen die Käfer, bleiben aber den Winter über im Boden, den sie erst im Frühjahr verlassen.

Wir haben gesehen, dass der Hirschkäfer nicht gerade zu jenen Insekten gehört, die zu Massenvermehrungen neigen. Im Gegenteil, seine Bestände gehen zurück, die Ursachen liegen vor allem im Mangel an den beiden wichtigen Säulen im Leben eines Hirschkäfers: Saftstellen und ein geeignetes Brutsubstrat. Hinzu kommt eine zunehmende Isolierung der Vorkommen mit einer daraus folgenden Verringerung des genetischen Austauschs. Der Rückgang hat dazu geführt, dem Hirschkäfer besonderen Schutz angedeihen zu lassen. Die Bundesartenschutzverordnung stuft ihn hoch ein, die Roten Listen bescheinigen einen hohen Gefährdungsgrad, vor allem aber ist er im Anhang II der FFH-Richtlinie genannt. Er ist damit eine Tierart von allgemeinen Interesse, und es ist Pflicht, den Fortbestand durch geeigneten Schutz zu sichern, auch muss die Entwicklung der Bestände überwacht werden.

Was kann man tun? Mangelt es an geeignetem Entwicklungssubstrat können "Hirschkäferwiegen" Hilfe bieten, für die es gute Erfahrungen gibt. Saftstellen lassen sich hingegen nur schwer mit menschlicher Hilfe erzeugen, deshalb ist die Erhaltung von Vorhandenem besonders wichtig. Saftflüsse werden meist durch Frostrisse, Windbruch und Blitzschlag hervorgerufen. Ihre Existenzzeit reicht von einer Vegetationsperiode bis zu mehreren Jahren. Hilfe kann die Unterschutzstellung geeigneter Habitate und damit die Erhaltung alter Laubbäume bringen sowie die Vermeidung weiterer Verinselung und Isolierung der noch vorhandenen Populationen.

Schirmherr für das Insekt des Jahres 2012 ist Forstdirektor Hubertus Kraut (Potsdam), und es gibt zahlreiche Aktivitäten zur Erfassung ("Hirschkäfer-Volkszählungen"), zum Schutz (Weiterentwicklung der "Hirschkäfermeiler") und vor allem auch im Hinblick auf waldpädagogisches Wirken, z. B. durch Forstmeister Klaus Radestock und Revierförster Ralf Bekker.

Die SDW ist seit letztem Jahr Mitglied im Kuratorium "Insekt des Jahres".

Autor
Prof. Dr. sc. nat. Dr. rer. nat. h. c. Bernhard Klausnitzer ist Zoologe
und befasst sich vor allem mit der Erforschung von Käfern;
E-Mail: klausnitzer.col[at]t-online.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
• Hirschkäfer-Männchen bei einem Kommentkampf, dem Rivalen-Kampf um ein Weibchen.
• Hirschkäfer-Larven aller drei Stadien.

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Quelle:
Unser Wald - Zeitschrift der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald
2.‍ ‍Ausgabe, März/April 2012, Seite 16-17
Herausgeber:
Bundesverband der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald e.V., Bonn
Redaktion: Meckenheimer Allee 79, 53115 Bonn
Telefon: 0228 / 945 98 30, Fax: 0228 / 945 98 33
E-Mail: unser-wald@sdw.de
Internet: http://www.sdw.de
 
Erscheinungsweise: zweimonatlich
Bezugspreis: Jahresabonnement 17,50 Euro
einschl. Versandkosten und 7% MwSt.
Einzelheft: Preis 3,- Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2012