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PFLANZEN/170: Heiße Maroni - Die Ess-Kastanie ist Baum des Jahres 2018 (ROBIN WOOD magazin)


ROBIN WOOD magazin - Nr. 135/4.2017

Wald
Heiße Maroni
Die Ess-Kastanie ist Baum des Jahres 2018

von Rudolf Fenner


Die Ess-Kastanie, Castanea sativa, ist in Deutschland - von wenigen regionalen Ausnahmen abgesehen - eine seltene Baumart, und sie ist eine der eindrucksvollsten: Wer einmal ihre auffallend gelblichweiße Blütenpracht gesehen hat, die die gesamte Baumkrone im Frühsommer überzieht, wer einmal erlebt hat, wie im Oktober ihre großen, runden, mit unzähligen Stacheln besetzten Früchte herunterfallen, aufplatzen und die wunderschönen, mahagonibraun glänzenden. Kastanien mit der zart behaarten weißen Spitze freigeben, der wird diesen Baum nicht mehr vergessen. Wer es dann noch versteht, aus diesen Kastanien Suppen, Bratenfüllungen, Süßspeisen, Torten, Brot oder schlicht "Heiße Maroni" zu fabrizieren, der zählt diesen Baum bestimmt schon längst zu seinen Lieblingsbäumen.

Die Ess-Kastanie - offiziell auch Edel-Kastanie genannt - bekam ihren deutschen Namen erst im 15. Jahrhundert. Er wurde damals vom lateinischen Baumnamen 'castanea' entlehnt, den die Römer wiederum von den Griechen ('kastana') übernommen hatten. Entstanden ist ihr Name aber wohl noch früher, vermutlich im damaligen Armenien, wo sie 'kask' genannt wurde.

Andere, heute noch vornehmlich in Süddeutschland und im Alpenraum gebräuchliche Namen wie Käste oder Keschde existierten bereits im frühen Mittelalter. Diese gehen ebenfalls auf den lateinischen Namen zurück, direkt übernommen von den römischen Besatzern, die dort - südlich des Limes - über mehrere Jahrhunderte hinweg die Kastanienkultur etabliert hatten.

Was ist eine Marone?

Als Maronen werden meist die Früchte bestimmter Ess-Kastaniensorten bezeichnet, die besonders groß sind. Oft enthält der stachelige Fruchtbecher solcher Sorten statt üblicherweise drei nur eine einzige Frucht. Deren braune Schalen sind in der Regel heller, oft auch hell und dunkel gestreift Ein ganz wichtiges Kriterium ist auch, dass die geschmacklich störende innere Samenhaut nicht in die Spalten des Kerns eingewachsen ist. Sie läßt sich daher leicht entfernen. Der Begriff Marone wird allerdings nicht in allen Herkunftsländern einheitlich benutzt.

Mit dieser etymologischen Herleitung ist im Grunde auch schon der zeitliche Verlauf ihrer Kulturgeschichte grob skizziert. Die Ess-Kastanie hat nach neueren genetischen Analysen während der letzten Eiszeit in mindestens drei von einander isolierten Regionen "überwintert", und zwar auf der Iberischen und Italischen Halbinsel, im südöstlichen Balkan und nordwestlichen Anatolien sowie im Gebiet südlich des Kaukasus. Dort, im nordöstlichen Teil Anatoliens, begann vermutlich die Kulturgeschichte der Ess-Kastanie. Später waren es die Griechen, die die Kultivierung und Veredelung der Ess-Kastanie weiterentwickelten und ihre Erfahrungen dann auch in ihren Kolonien im gesamten Mittelmeerraum verbreiteten. So kam das Knowhow dann auch ins aufstrebende Römische Reich und mit den Römern letztlich dann nach Mittel- und Westeuropa.

Die Römer haben die Ess-Kastanie vor rund 2000 Jahren über die Alpen gebracht. So ist zumindest die gängige Darstellung, wie die Kastanie zu uns nach Deutschland gekommen sein soll. Ganz so wird es wohl nicht gewesen sein. Es gibt am nördlichen Alpenrand vereinzelte Funde von Pollen und Holz der Ess-Kastanie aus der Bronzezeit, also rund 1000 Jahre früher. Auch spricht einiges dafür, dass uns die Griechen - zumindest indirekt - schon fast ein halbes Jahrtausend vor den Römern die Kastanienbäume bescherten. Denn in der Region der griechischen Kolonie Massalia, dem heutigen Marseille, wurden schon um 400 vor unserer Zeitrechnung Ess-Kastanien angebaut und gehandelt. Und so könnte sie über die schon seit der Bronzezeit bestehende Handelsroute über das Tal der Rhone und die Burgunder Pforte zu uns nach Süddeutschland gekommen sein.

Mit Sicherheit aber war es das Verdienst der Römer, im besetzten Germanien den Anbau, die Veredlung und Verarbeitung der Ess-Kastanien zu etablieren. Sie hatten zu dieser Zeit bereits Erfahrungen in der Kultivierung von Ess-Kastanien zur Gewinnung der Früchte und sie kannten die Vorteile des gegen Verrottung erstaunlich resistenten Kastanienholzes im Weinbau. Zu Hause in ihrem Stammland hatten sie daher sowohl Früchte liefernde Kastanienhaine als auch Kastaniengehölze, aus denen sie das Holz für die Rebstöcke, Rankhilfen, Pfähle und Fassdauben holten. Beides - Kastanienkulturen und Weinanbau - hat daher dank der Römer an den Hängen des Oberrheins, der Nahe, der Mosel und der Saar eine rund zweitausendjährige gemeinsame Geschichte, die erst in den letzten 150 Jahren nach und nach zu Ende gegangen ist.

Rebstöcke sind heute meist aus Metall, Beton oder Plastik, Fässer aus Stahl oder Kunststoff. Und die Kastanienfrüchte kommen heute größer und billiger vorwiegend aus Italien, Frankreich, Spanien und der Türkei.

Doch auch wenn Anbau und Bewirtschaftung der Ess-Kastanien hier bei uns weitgehend aufgegeben wurden - die meisten Bäume blieben stehen, sodass sich die ehemaligen Kulturen auch heute noch vielerorts recht gut in der Landschaft erkennen lassen. Die größten Ess-Kastanienbestände befinden sich im Oberrheingraben am Ostrand des Pfälzerwaldes, der sogenannten Haardt, sowie am Westhang des Schwarzwaldes, vor allem im Ortenaukreis zwischen Achern und Offenburg. Es waren fast ausschließlich Niederwälder, in denen die ausschlagfreudigen Ess-Kastanienbäume etwa alle 15 Jahre "auf den Stock" gesetzt wurden.

Sie dienten vorrangig zur Versorgung der Winzer mit Rebstöcken und standen meist in einem breiten Streifen direkt oberhalb der Weinberge. Bäume, deren Holz für den Hausbau, Fassdauben oder Masten gebraucht wurde, ließ man immerhin doppelt so alt werden. Da Holz und Rinde der Ess-Kastanie einen ungewöhnlich hohen Gehalt an Gerbsäuren haben und auch der Brennwert des Holzes recht hoch ist, wurden in solchen Niederländern auch Brennholz und Gerberlohe gewonnen.

Heute sind diese aufgegebenen Niederwälder zu einer Art Hochwald ausgewachsen. Die Bäume sind aber aufgrund ihrer Vorgeschichte oft mehrstämmig, neigen dazu, frühzeitig hohl zu werden ("Ringschäle"), und haben nur selten holzwirtschaftlich wertvolle, gerade gewachsene Stämme.

Kulturen, die angelegt wurden, um die Früchte der Ess-Kastanien zu gewinnen, waren lockere, offene Bestände aus Bäumen mit meist kurzen Stämmen und breiten Kronen. In diesen sogenannten Selven wuchsen auf junge Ess-Kastanienstämme gepfropfte Sorten, deren Früchte größer und wohlschmeckender waren und bei denen sich auch die etwas bitter schmeckende Samenhaut leichter entfernen ließ.

Solche Selven müssen recht produktiv und erfolgreich gewesen sein. Jedenfalls legt das ein Bericht aus dem 16. Jahrhundert nahe, aus dem hervorgeht, dass Kastanienfrüchte aus dem Heidelberger Gebiet über den Rhein bis in die Niederlande und auch nach England verschifft wurden. Bekannt sind auch die Selven nördlich von Frankfurt am Taunushang rund um Kronberg. Hier kaufte alljährlich Mutter Goethe für ihren berühmten Sohn Kastanienfrüchte ein und schickte eine Kiste davon per Postkutsche an seine Familie in Weimar. Für Goethe - aber auch für die Frankfurter Bürger - waren diese "Kronberger Keste" unverzichtbar, wenn es darum ging, die Martinsgans zu füllen.


Nicht nur der kulinarische Aspekt der Kastanienfrüchte hatte es Goethe angetan. Dafür spricht zumindest sein Gedicht an seine heimliche Muse Marianne von Willemer aus dem Buch Suleika im West-Östlichen Divan:

An vollen Büschelzweigen,
Geliebte, sieh' nur hin!
Laß dir die Früchte zeigen,
umschalet stachlig grün.

Sie hängen längst geballet,
still, unbekannt mit sich,
Ein Ast, der schaukelnd wallet,
wiegt sie geduldiglich.

Doch immer reift von Innen
und schwillt der braune Kern,
Er möchte Luft gewinnen
und säh die Sonne gern.

Die Schale platzt und nieder
macht er sich freudig los;
So fallen meine Lieder
gehäuft in deinen Schoß.


Viele der heute nicht mehr bewirtschafteten Selven am Taunushang sind noch vorhanden: Kastanienhaine, verdichtet und durchwachsen von jüngeren Ess-Kastanien, dazwischen aber auch noch ab und an einzelne über 300-jährige Zeitzeugen. Auch in den bewaldeten Berghängen hinter dem Heidelberger Schloss stehen noch immer zahlreiche Ess-Kastanien, die während der Blütezeit im Frühsommer schon von Weitem zu sehen sind.

Honig ist ein nicht unwesentliches Nebenprodukt dieser Selven. Die oft in geradezu verschwenderischer Fülle die gesamte Krone überziehenden Blüten der rund 30 Tage lang blühenden Ess-Kastanie sind ausgesprochen nektarreich. Der Honig ist recht dunkel bernsteinfarben, hat einen sehr aromatischen, leicht herben Geschmack und ist überaus pollenreich.

Obwohl außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets, hat die Ess-Kastanie in Südwestdeutschland ausreichend warme Standorte gefunden, auf denen sie sich voll entfalten und wohl auch längerfristig behaupten kann. Im übrigen Deutschland und noch weiter nördlich, in Dänemark und Südschweden, ist die Ess-Kastanie auch anzutreffen, aber hier befindet sie sich eindeutig außerhalb ihres klimatischen Optimums. Sie kann zwar auch in diesen Regionen zu eindrucksvollen Bäumen heranwachsen, allerdings reifen ihre Früchte hier nur in Jahren, in denen das sommerlich warme Wetter bis in den Herbst hinein anhält. Die Ess-Kastanie wird in diesen Gebieten meist als Garten-, Park- oder Alleebaum, gelegentlich auch als Forstbaum gepflanzt. Vereinzelt wurden auch, wie bei Werningerode im Harz, Fruchtplantagen angelegt.

Brot der Armen

Wer heute Kastaniennüsse auf seinen Speiseplan setzt, der hat eher kulinarisches Beiwerk im Sinn. Der charakteristische Geschmack der fettarmen, stärkereichen und süßlichen Maronen eignet sich bestens, um mal neue, ungewohnte Akzente bei Suppen, Beilagen oder Süßspeisen zu setzen. Für wohlhabende Menschen war die Kastanie schon seit der Antike eine willkommene und delikate Abwechslung in der herbstlichen Menüabfolge. Doch - so schrieb schon der Botaniker Jacques Daléchamps aus Lyon Mitte des 16. Jahrhunderts: "Die Kastanie ist das Dessert für die Tafel der Reichen sowie das Fleisch für die Armen." Denn für große Teile der Bevölkerung, vor allem in den ländlichen kargen Bergregionen Südeuropas, wo der Anbau von Getreide unergiebig oder unmöglich war, war die Ess-Kastanie bis ins 19. Jahrhundert hinein das Hauptgrundnahrungsmittel. Geröstet oder gekocht kam sie auf den Tisch. Zu Gries oder Mehl gemahlen ließ sich daraus eine Art Polenta herstellen, Suppe kochen oder Brot backen. Gedörrte Kastanien und Kastanienmehl waren bis zu zwei Jahre haltbar. Wenn nach Missernten im Lande Hungersnot drohte, blieben die Kastanien aus den Bergen das einzige, oft lebensrettende Nahrungsmittel.

Viele der großen mediterranen Kastanienanbauflächen - im Tessin, in Ligurien, in den Cevennen oder auf Korsika - liegen heute brach. Es waren meist terrassierte Berghänge, locker bestanden mit Kastanienbäumen, unter denen Heu gemacht wurde, Ziegen und Schafe weiden konnten und - nach der Ernte - auch noch ein paar Schweine satt wurden. Doch Mais und Kartoffeln wurden mehr und mehr zu konkurrierenden Stärkelieferanten. Die großen Fortschritte in der landwirtschaftlichen Produktion im Laufe des 19. Jahrhunderts schwächten die wirtschaftliche Bedeutung des mühsamen Kastanienanbaus in den Bergen weiter.

Als dann auch noch eine die Wurzeln zerstörende Pilzkrankheit, die sogenannte Tintenkrankheit, große Lücken in die Kastanienhaine Südeuropas schlug, nahm das Interesse an der Kastanienwirtschaft weiter ab. Infolge der zunehmenden Landflucht im 20. Jahrhundert wurden dann fast alle noch bestehenden Kulturen aufgegeben. Viele dieser ehemaligen Kulturen sind aber nicht verschwunden, sondern inzwischen zu wunderschönen, aber meist nur noch touristisch genutzten Kastanienwäldern verwildert. Der heute größte zusammenhängende Kastanienwald Europas ist der Brentan. Er steht im Schweizer Graubünden an der Grenze zu Italien und wird in Teilen noch bewirtschaftet.

Die Ess-Kastanie kann, wenn sie im dichteren Waldbestand wächst, über 35 Meter hoch werden. Die höchste Ess-Kastanie Deutschlands steht im Stadtwald von Hameln und ist knapp 40 Meter hoch. Im Freistand wächst ihre Krone allerdings auch gern in die Breite, und die Höchstmarke liegt dann eher bei 25 Metern. Deutschlands dickste Ess-Kastanie - sie steht im Karlsruher Schlossgarten - hat einen Stammumfang von 9,70 Meter. Sie ist etwa 280 Jahre alt. Die älteste Ess-Kastanie Deutschlands wird auf etwas mehr als 400 Jahre geschätzt. Sie steht im Rheinland-Pfälzischen Dannenfels und hat einen Stammumfang von neun Metern.

Der dickste Baum der Welt

Ältere Exemplare neigen allerdings dazu, hohl zu werden. Aber spätestens wenn die Krone dann wegbricht, treiben meist rundherum aus der Stammbasis neue Triebe, von denen einige wieder zu richtigen Bäumen heranwachsen, altem und auch wieder wegbrechen können. So gesehen könnten Ess-Kastanien ewig leben. Tatsächlich gibt es so einen Baum, bei dem sich dieser Zyklus so einige Male wiederholt haben muss. Er steht auf Sizilien nahe des Ortes Sant' Alfio am Osthang des Ätnas und wird auf ein Alter von mindestens 2000 Jahren geschätzt. Er besteht heute nur noch aus drei einzelnen, aber nahe beieinander stehenden Stammfragmenten, von denen allein der mächtigste einen Umfang von 22 Metern hat. Schilderungen und Darstellungen aus früheren Jahrhunderten zeigen, dass dieser Baum aus einem Ring mehrerer, mehr oder weniger miteinander verwachsenen Stämmen bestand, in dessen Innerem allein etwa 30 Pferde Platz finden konnten.

Eine andere mittelalterliche Geschichte erzählt, dass die Königin von Aragon samt ihrer Entourage von 100 Reitern bei einem plötzlichen Gewitter unter der Krone dieses Giganten Schutz gefunden habe. Aufgrund dieser Legende trägt der Baum heute den Namen Castagno dei Cento Cavalli. Er hatte 1780 - als noch alle Stammteile vorhanden waren - einen Umfang von über 60 Metern und wäre damit wohl der dickste Baum der Welt gewesen.

Baum der Zukunft?

Ein an sich mediterraner Baum, der sich aber in den letzten zweitausend Jahren ganz gut bei uns zumindest in den wärmeren Lagen Südwestdeutschlands eingelebt hat, der auch im übrigen, kühleren Deutschland zu respektabler Stärke heranwächst - könnte also die Ess-Kastanie ein heißer Kandidat für die heißeren Zeiten sein, die auf uns und die Wälder nun zukommen? Wahrscheinlich schon, zumindest gibt es bislang keine Anzeichen, dass sie unter den sich ändernden Klimaverhältnissen leiden könnte.

Es gibt in Deutschland allerdings noch nicht viele Erfahrungen mit der Ess-Kastanie als forstlich nutzbarer Waldbaum. Aber seit einigen Jahren tut sich da was. Es gibt mehr und mehr Projekte, in denen genauer hingeschaut wird, unter welchen Bedingungen die Ess-Kastanie in unseren Wäldern zu einem Baum heranwachsen kann, dessen Holz für langlebige Bau- und Möbelholzprodukte gut geeignet ist. Geblickt wird dabei auch in Nachbarländer wie Frankreich, wo die Esskastanie auch als Forstbaum schon sehr viel länger hochgeschätzt ist.

Viele Überlegungen gehen bei uns allerdings auch in Richtung Energieholzproduktion, also Plantagen mit Erntezyklen unter zwanzig Jahren, um die Ess-Kastanie dann in Form von Hackschnitzeln zu verheizen. Sicherlich - die Ess-Kastanie verlockt dazu mit dem hohen Brennwert ihres Holzes und dem schnellen und kräftigen Neuaustrieb nach dem Absägen. Im Grunde Wäre das ja auch lediglich die Fortsetzung der zweitausend Jahre alten Niederwaldkulturen in Südwestdeutschland. Es wäre aber doch recht schade, wenn diese stolze Baumart hauptsächlich zur Herstellung von Fastwood verdammt würde:

Die Ess-Kastanie kann mehr!

*

Die Zahme und die Wilde Kastanie - Exkurs 1:

Mit diesen Namen wurden die beiden bei uns als Kastanien bezeichneten Baumarten früher unterschieden. Die Zahme, das war die kultivierte, die edle, die mit den wohlschmeckenden Früchten, die süße Ess-Kastanie. Die Wilde dagegen, das war die, deren Samen bestenfalls den Pferden und anderem Vieh schmeckten: die bittere Rosskastanie. Dahinter steckte die Vorstellung, dass es sich hier wohl um zwei nahe verwandte Baumarten handelt, die eine domestiziert, die andere eher naturbelassen.

Doch sie sind überhaupt nicht miteinander verwandt. Schon die Formen ihrer Blätter, ihrer Blüten und ihrer Blütenstände sind grundverschieden - das ist selbst auf den ersten, fachlich nicht geschulten Blick erkennbar. Aber die frappierende Ähnlichkeit ihrer reifen Früchte, diese aus stacheligen Kugeln herausplatzenden, glänzend mahagonibraunen Kastanien, die haben diese beiden Baumarten zu scheinbar versandten Namensvettern gemacht. Doch das Ganze ist eine zufällige, rein äußerliche Parallelität in der Evolution dieser beiden Baumarten. Nur die Früchte der Ess-Kastanie sind - botanisch gesehen - tatsächlich Früchte, genauer: Nuss-Früchte, die zu mehreren von einem stacheligen Fruchtbecher umhüllt werden. Bei der Rosskastanie ist die gesamte grüne Kugel die Frucht, die braunen Kastanien im Inneren sind dagegen lediglich Samenkerne. Die Ess-Kastanie gehört in die Familie der Buchengewächse, ist also nah verwandt mit unseren Eichen und Buchen. Die Rosskastanie dagegen gehört zu den sogenannten Seifenbaumgewächsen, eine ansonsten vorwiegend in den Tropen vorkommende Baumfamilie, zu der hier bei uns auch noch die Ahorne gehören.

Übrigens: Die Nicht-Zusammengehörigkeit dieser beiden Baumarten wird bereits - zumindest unter BotanikerInnen - in der Schreibweise der Namen deutlich gemacht: Die eigentliche Kastanie, die Ess-Kastanie, wird mit Bindestrich geschrieben. Die Rosskastanie als nur sogenannte Kastanie muss ohne dieses adelnde Interpunktionszeichen auskommen.

Die Zahme und die Wilde Kastanie - Exkurs 2:

Beide, Ess-Kastanie und Rosskastanie, sind ursprünglich in Deutschland nicht zu Hause, sondern wurden vom Menschen hierhergebracht. Doch auch in diesem Punkt sind die Unterschiede zwischen diesen beiden nicht verwandten Baumarten erheblich.

Die Rosskastanie kam im 16. Jahrhundert im Diplomatengepäck aus Interesse an fremdländischer Botanik nach Mitteleuropa. Sie gilt als echter Neophyt, weil sie erst nach dem Stichjahr 1492, der Entdeckung Amerikas, bei uns aufgetaucht ist. Richtig eingelebt hat sie sich hier nicht. Nur unter der Obhut des Menschen gedeiht sie prächtig in Städten, Dörfern, Parks, Gärten und Alleen.

Die Ess-Kastanie gilt, da sie ja schon lange vor dem besagten Jahr 1492 bei uns lebte, nicht als Neo-, sondern als sogenannter Archäophyt. Das bedeutet: Sie gilt zwar - weil sie erst durch direkten oder indirekten menschlichen Einfluß hier Fuß gefasst hat - nicht als einheimische Baumart, ist aber dennoch - zumindest in Südwestdeutschland - längst in der über Jahrtausende entstandene Kulturlandschaft heimisch geworden. Sie hält sich vielerorts auch langfristig oder sogar dauerhaft, wenn ihre Nutzung und Bewirtschaftung eingestellt wurden.


Rudolf Fenner vertritt ROBIN WOOD im Kuratorium Baum des Jahres (KBJ), dem Fachbeirat der Baum des Jahres - Dr. Silvius Wodarz-Stiftung, rudolf.fenner[at]robinwood.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

  • Ess-Kastanien neigen häufig zu starkem Drehwuchs - gut für die Stabilität des Baumes, nicht so beliebt bei Zimmerleuten.
  • Eine ehemalige, heute geschützte, über 200-jährige Ess-Kastanienkultur bei Wernigerode im Harz: Über 50 Zentner Kastanien wurden hier in den besten Jahren geerntet und bis nach Magdeburg und Berlin exportiert.
  • Die überaus nektar- und pollenreichen Blütenstände der Ess-Kastanie sind eine opulente Bienenweide. Honig ist daher ein wichtiges Nebenprodukt in Kastanienkulturen. In den südfranzösischen Kastanienwäldern sind noch solche mittelalterlich anmutenden Bienenstöcke im Einsatz, gefertigt aus hohlen Ess-Kastanienstämmen und abgedeckt mit einer Schieferplatte
  • Das größte von insgesamt drei Stammfragmenten der ältesten und dicksten Ess-Kastanie überhaupt. Sie steht am Ätna auf Sizilien, wird auf über 2.000 Jahre geschätzt und hatte im 18. Jahrhundert einen Umfang von unglaublichen 60 Metern.
  • Das kräftig gelbe Herbstlaub färbt sich nach kurzer Zeit und noch vor dem Laubfall braun.

*

Quelle:
ROBIN WOOD-Magazin Nr. 135/4.2017, Seite 26 - 32
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie
Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2018

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