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VÖGEL/617: Norwegen - Bedrohte Seevögel auf Runde (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 7/2010

Klimabedingte Veränderung des Nahrungsangebotes:
Bedrohte Seevögel auf Runde

Von Philipp Meister


Runde zählt als südlichster Vogelfelsen Skandinaviens zu den beliebtesten Reisezielen für Vogelbeobachter in Nordeuropa. In den letzten Jahren kam es auf der norwegischen Insel jedoch zu dramatischen Bestandseinbrüchen unter Dreizehenmöwen und Trottellummen, und mittlerweile sind auch Papageitaucher davon betroffen. Ähnliche Entwicklungen vollziehen sich im gesamten Nordostatlantik und werden von britischen, dänischen und norwegischen Forschungsgruppen untersucht. Die Ursachen, die für einige der betroffenen Vogelfelsen bisher ermittelt wurden, sind komplex und lassen sich nicht ohne Weiteres auf andere Küstenabschnitte übertragen. Momentan gibt es keine verlässlichen Prognosen, wie sich die Bestände der Vögel auf Runde in Zukunft entwickeln werden.


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Angesichts der inselreichen und felsigen Fjordküste Süd- und Mittelnorwegens überrascht zunächst, dass sich mit Runde nur ein Brutstandort südlich des 65. Breitengrads befindet. Auf halber Strecke zwischen Bergen und Trondheim, 30 Kilometer südwestlich von Ålesund gelegen, gilt Runde als südlichster "vollständiger" Vogelfelsen Skandinaviens. Bis auf die hocharktische Dickschnabellumme brüten hier sämtliche typischen Hochseevögel aus dem Artenspektrum des festländischen Norwegens (ohne Spitzbergen). Vergleichbare Voraussetzungen - exponierte Insellage, eine zum offenen Meer hin abfallende Steilwand und große Fischbestände - finden sich erst 400 Kilometer weiter nördlich auf der Insel Sklinna wieder.

Runde beherbergt als drittgrößter Vogelfelsen Norwegens rund 170000 Seevogelpaare, die vor allem in felsigen Bereichen der bis zu 300 Meter hohen Steilküste brüten. Darunter befinden sich etwa 11000 Paare Tordalke und Trottellummen, 5500 Paare Eissturmvögel und 2200 Paare Basstölpel. Dreizehenmöwe mit circa 50000 und Papageitaucher mit circa 100000 Brutpaaren bilden die individuenstärksten Arten, während Gryllteiste und Krähenscharbe in deutlich kleineren Zahlen brüten. Darüber hinaus ist die Insel mit rund 60 Paaren als größte Skuakolonie des norwegischen Festlands bekannt.

Aufgrund der guten Anbindung und der unmittelbaren Nähe zu den Ortschaften Goksøyr und Runde finden schon verhältnismäßig lange regelmäßige Brutvogelerfassungen statt, die wertvolle Daten über die langfristige Entwicklung der Vogelbestände liefern. Eindrucksvoll verlief etwa die Zunahme der Basstölpelpopulation von vier Paaren im Ansiedlungsjahr 1946 auf das 500-fache bis zum Ende der 1990er Jahre.



Zwischen Nordsee und Nordmeer

Ein großes Nahrungsangebot wird den zahlreichen Seevögeln vor allem im Übergangsbereich zwischen Fjorden, Nordsee und Europäischem Nordmeer geboten. Dort, wo Küstengewässer auf Wassermassen des offenen Atlantiks treffen und sogenannte Fronten entstehen, ist die Anreicherung von tierischem Plankton und pelagischen Fischen besonders hoch. Für fast alle der auf Runde angesiedelten Seevogelarten bilden fettreiche Schwarmfische wie Hering und Sandaale die Hauptnahrungsquellen.

Veränderungen in den Fischbeständen wirkten sich in der Vergangenheit unmittelbar auf die Hochseevögel aus. Im Zusammenhang mit der Überfischung des Herings in den 1960er Jahren reagierten die Dreizehenmöwen auf Runde meist unmittelbar mit leichten Rückgängen. Als hauptsächliche Bedrohungen für die Seevögel wurden lange Zeit allerdings die Meeresverschmutzung durch Schweröl und das Ertrinken in Stellnetzen angesehen. Der mögliche Nahrungsmangel der Seevögel rückte erst stärker in den Blickpunkt, als sich bei einigen Brutvogelarten über einen längeren Zeitraum hinweg starke Rückgänge des Bruterfolgs abzeichneten. Zwischen 1980 und 2007 brachen auf Runde die Brutpaarzahlen verschiedener Arten auf Bruchteile ihrer Ausgangsbestände ein: Der Brutbestand der Dreizehenmöwen fiel auf zwölf Prozent und die Zahl der Trottellummen schrumpfte sogar auf drei Prozent der Ausgangsgröße!

Um Rückschlüsse über die besorgniserregende Entwicklung zu erhalten, wurde Runde 2007 in das norwegische Monitoring-Programm SEAPOP (SEAbird-POPulations) aufgenommen, das vom Norsk Institutt for Naturforskning (Trondheim), dem Norsk Polarinstitutt (Tromsø) und dem Tromsø-Universitetsmuseet durchgeführt wird. Im Rahmen des 2005 begonnenen Langzeit-Monitorings werden unter einer Vielzahl verschiedener Parameter der Brutbestand, der Bruterfolg und das Nahrungsspektrum von Seevögeln an verschiedenen Küstenabschnitten Norwegens untersucht. Die auf Runde bereits seit einem längeren Zeitraum stattfindenden Bestandskontrollen verdeutlichen, dass die Abnahme der Brutpaare von Trottellumme und Dreizehenmöwe nicht kontinuierlich verläuft, sondern sich in den letzten dreizehn Jahren nochmals beschleunigt hat.

In diesen negativen Trend spielen katastrophale Brutjahre wie 2007 hinein. Die bis dato als Talsohle geltende Saison verzeichnete für beide Arten die stärksten Rückgänge. Hinzu kam, dass im selben Jahr bei keinem Dreizehenmöwennest eine erfolgreiche Aufzucht von Jungvögeln beobachtet werden konnte und die meisten Altvögel das Brutgeschehen bereits vor Legebeginn oder während der Bebrütungsphase aufgaben. Auch unter den Trottellummen blieb der Bruterfolg aus.

Damit schwappte eine "Negativ-Welle" nach Runde, die 2003 schon an den Vogelfelsen Schottlands und Englands, später auch auf den Färoern und Island für Aufruhr gesorgt hatte. Besonders betroffen waren überall Dreizehenmöwen und Trottellummen, deren Brutbestände plötzlich einbrachen. Allerdings blieb 2005 und 2006 ebenfalls ein Großteil der isländischen Papageitaucher ohne Nachwuchs.



Seenadeln statt Sandaale

Auf Runde verlief auch das Jahr 2008 für Trottellummen und Dreizehen­möwen ohne Bruterfolg, zudem fiel erstmals die komplette Brut der Papageitaucher aus. Fast alle der Mitte Juni geschlüpften Küken starben innerhalb der ersten fünf Tage nach dem Schlüpfen, was als sicheres Zeichen dafür gewertet wurde, dass sie verhungert waren. Zum Ende der Aufzuchtphase gegen Mitte Juli konnten unter 300 Papageitauchern, die um den Brutfelsen flogen, nur zwei Altvögel mit Fischen im Schnabel festgestellt werden.

Der naheliegende Verdacht, dass es zu Veränderungen der Nahrungsbedingungen für die Seevögel gekommen sein musste, erhärtete sich durch die Beobachtung von Dreizehenmöwen, die 2007 erstmalig im norwegischen Küstenraum Große Schlangennadeln verfütterten. Diese mit den Seepferdchen verwandte, auffallend dünne und bis zu einem halben Meter lange Seenadelart zählt normalerweise nicht zum Beutespektrum von Hochseevögeln, da sie im Vergleich zu Sandaalen und Heringen nur etwa halb so viel Fett enthält und aufgrund ihres knöchernen Hautskeletts nur schwer zu verdauen ist.

In Schottland tritt dieses Phänomen unter Küstenseeschwalben und Dreizehenmöwen bereits seit einigen Jahren auf. Auch die Altvögel dieser zierlichen Arten haben Schwierigkeiten, die glatten und relativ steifen Seenadeln zu schlucken und können in manchen Fällen nur einen Bruchteil des ohnehin geringen Nährwerts nutzen. Man vermutet, dass solche Vögel im Extremfall mehr Energie für das Erbeuten aufbringen müssen, als sie aus dem Fisch erschließen.



Parallelen zwischen Großbritannien und Norwegen

Untersuchungen in Großbritannien, wo bereits einige Jahre früher mit der Ursachenforschung begonnen wurde, haben ergeben, dass vor allem in schlechten Brutjahren viele Seenadeln verfüttert werden und dass diese Konstellation hauptsächlich in warmen Jahren auftritt, wenn offensichtlich nicht genügend Sandaale - die Hauptnahrungsquelle für britische Hochseevögel - zur Verfügung stehen. Die Frage, ob das Verfüttern von Seenadeln an norwegischen Vogelfelsen als Indikator für einen Rückgang der Sandaale in norwegischen Gewässern gewertet werden kann, drängt sich förmlich auf. Aber lassen sich die Erkenntnisse der britischen Forscher ohne Weiteres auf norwegische Verhältnisse übertragen?

Fischereibiologische Untersuchungen förderten zu Tage, dass die Sandaalbestände sowohl in britischen als auch in dänischen und südnorwegischen Nordseegewässern schrumpfen. Im Umfeld der Shetlandinseln spielte dabei die Fischerei lange Zeit eine wesentliche Rolle: Während der 1980er Jahre wurde der Kleine Sandaal dort so stark befischt, dass fast alle Seevogelarten deutliche Rückgänge beim Bruterfolg hatten. Seitdem wurden mehrfach Fangverbote für Sandaale verhängt, die teilweise bis heute Bestand haben.

In südnorwegischen Gewässern kam es 2003 zu plötzlichen Rückgängen der Sandaalanlandungen, und in den Folgejahren brachen die Anlandungen um 95 Prozent ein, weshalb die Befischung letztlich 2007 in einem Abkommen zwischen der EU und Norwegen stark eingeschränkt wurde.



Regimewechsel im Plankton

Neben der Fischerei existiert jedoch eine weitere Ursache, die - zumindest in der westlichen Nordsee - für die Bestandsrückgänge während des letzten Jahrzehnts verantwortlich gemacht wird. Dabei spielt ein Wandel in den Zooplanktongemeinschaften und insbesondere die Abnahme von Calanus finmarchicus, einem drei Millimeter kleinen Ruderfußkrebs, eine wichtige Rolle. Als "unterste" Art überführt er pflanzliches Plankton in die tierische Nahrungskette und wird von zahlreichen Fischarten gefressen, die wiederum Nahrungsgrundlage von anderen Fischen, Meeressäugern und Seevögeln sind. Die Larven der Sandaale fressen nur bestimmte Planktonbestandteile, die zum Zeitpunkt ihres Schlüpfens vorhanden sein müssen. C. finmarchicus, ein Kaltwasserspezialist, hat unter dem Einfluss höherer Wassertemperaturen sein Vorkommen in den letzten Jahren weiter nach Norden verlagert und wurde von Calanus helgolandicus abgelöst. Dieser an wärmeres Wasser angepasste Ruderfußkrebs ist nicht nur deutlich kleiner, sondern tritt schwerpunktmäßig im Herbst auf - außerhalb des Zeitfensters, das durch das Schlüpfen der Sandaale vorgegeben ist. Mit den Veränderungen in der Artenzusammensetzung hat zudem die Biomasse der Ruderfußkrebse im Nordostatlantik um 70 Prozent abgenommen.

Sandaale bilden in der Nordsee mehrere, voneinander relativ isolierte Teilbestände, über deren Austausch und jeweilige Nahrungssituation noch wenig bekannt ist. Gleichwohl ist erwiesen, dass in der westlichen Nordsee, zwischen England, Schottland und den Faröer-Inseln der Regimewechsel im Zooplankton die Sandaalbestände und damit die Nahrungsgrundlage der Seevögel dezimiert.

Inwiefern sich die Veränderungen im Zooplankton bereits in der nordöstlichen Nordsee auswirken, ist momentan noch nicht erkennbar. Der zeitliche Zusammenhang zwischen rückläufigem Brutbestand und Bruterfolg verschiedener Seevögel auf Runde und dem abrupten Einbruch der Sandaalanlandungen in norwegischen Gewässern 2003, die in den Folgejahren auf 95 Prozent schrumpften, deutet jedoch auf ähnlich tiefgreifende Veränderungen im Nahrungsnetz vor Südnorwegens Küste hin.



Fischarten-Mix oder Heringe?

Erschwert werden Einschätzungen in der norwegischen Nordsee momentan noch durch fehlende Langzeitdatenreihen über die Beutefische der Seevögel. Unklarheit herrscht dabei unter anderem über die tatsächliche Bedeutung des Sandaals im Nahrungsspektrum der Vogelbestände auf Runde.

Mit Untersuchungen der "Fischladungen", die Altvögel zum Füttern der Jungen im Schnabel anbringen, wurde im Rahmen des SEAPOP-Monitorings bisher festgestellt, dass das Nahrungsspektrum der Vögel nicht nur unter den verschiedenen Arten, sondern auch zwischen den einzelnen Brutstandorten einer Art variiert. Zudem verändert sich die Zusammensetzung des Nahrungsspektrums eines Brutpaares im Lauf einer Brutperiode, und natürlich spielt neben der Fischart auch die Größe und das Gewicht des einzelnen Beutefischs eine wichtige Rolle. Die Komplexität der Thematik wird am Beispiel der Pagageitaucher deutlich.

Für die Brutpopulation der Lofoteninsel Røst ist bekannt, dass Heringe im Nahrungsspektrum den gewichtigsten Anteil einnehmen und Sandaale erst an zweiter Stelle folgen. Diese Tatsache trat während des Heringseinbruchs in den 1960er Jahren in Erscheinung, als die Papageitaucherzahlen auf Røst stark abnahmen. Weiter nördlich, in der norwegischen Barentsee, kommt die Lodde als wichtige Fischart im Nahrungsspektrum einiger Seevögel hinzu, doch ernähren sich die Papageitaucher auf Hornøya überwiegend von Sandaal - bei einer positiven Entwicklung der Papageitaucherpopulation. Für die Papageitaucher Rundes und Sklinnas wurde letztlich Hering als Hauptnahrung festgestellt - bei schrumpfendem Brutbestand und ausbleibendem Bruterfolg Fallen auf den beiden südlichsten Inseln sowohl Heringslarven als auch die Alternative in Form von Sandaalen als Nahrungsquellen aus?

Noch reichen die Datenreihen der Nahrungsanalysen an beiden Brutfelsen nicht weit genug zurück, um hierüber Aufschluss geben zu können. Die Ergebnisse des SEAPOP-Monitorings erbrachten für die letzten Jahre allerdings ein gewisses Nord-Süd-Gefälle im Brutbestand von Dreizehenmöwe, Trottellumme und Papageitaucher. Tendenziell sind die nördlicher gelegenen Brutkolonien Norwegens weniger stark von den Bestandseinbrüchen betroffen als die südlichen. Allerdings kommt es zu "Ausreißern", wie auf der Insel Sklinna in Mittelnorwegen, wo die Zahlen der Trottellumme zunehmen, während sie am nördlichsten untersuchten Vogelfelsen des festländischen Norwegens rückläufig sind.

Im Gegensatz zu den Sandaalen nimmt der Bestand des norwegischen, im Frühling laichenden Herings seit den 1970er Jahren zu. Die Fische dieser eigenständigen biogeographischen Population treffen im Spätwinter an der norwegischen Küste ein, wobei sich die bedeutendsten Laichgründe auf Schelfbänken im süd- und mittelnorwegischen Küstenraum befinden. Westlich von Runde, auf der Mørebank, liegt eines der größten Laichgebiete.

Während die adulten Heringe nach dem Laichen in den offenen Atlantik zurückschwimmen, werden die zwischen Ende März und Ende April schlüpfenden Heringslarven von der Küstenströmung nordwärts zu ihren Aufzuchtgebieten in den Fjorden Nordwestnorwegens und der Barentsee verdriftet. In den Gewässern um Runde bleiben nur dann große Mengen an Heringslarven "hängen", wenn sie der küstenparallelen Strömung in die Fjorde südlich von Ålesund entkommen. Bei optimalen Bedingungen treffen die Larven während der Aufzuchtphase der Seevogelküken an den Vogelfelsen ein. Dabei spielt die jahreszeitliche Dynamik eine große Rolle, denn für jede Vogelart müssen Larven- und Fischstadien einer bestimmten Größenklasse vorhanden sein, die im Aktionsradius der Altvögel - innerhalb einer bestimmten Wassertiefe und Entfernung zum Brutstandort - liegen.

Die Wechselwirkung zwischen Seevögeln und Heringen verdeutlicht sich im Ausmaß der Bejagung der jungen Heringe durch die Papageitaucher der Lofoteninseln. Diese Prädation wirkt wie ein "Nadelöhr" und bestimmt die Stärke eines norwegischen Heringsjahrgangs.



Windverhältnisse und Wassertemperaturen

Für den zeitlichen Versatz zwischen Kükenaufzucht und Larvendrift, der in den letzten Jahren vermutlich den Einbruch der Brutbestände an norwegischen Vogelfelsen auslöste, sind ähnliche Faktoren ausschlaggebend wie für das Verschwinden des Ruderfußkrebses Calanus finmarchicus in der westlichen Nordsee. Im Gegensatz zu den Sandaalen profitieren die Heringe jedoch von den wärmeren Wassertemperaturen im Winter und Frühjahr, die während der letzten Jahre festgestellt wurden: Die Reproduktion der Heringe fällt größer aus und das Wachstum der Heringslarven beschleunigt sich. In wärmeren Jahren setzen sowohl die Produktion von pflanzlichem und tierischem Plankton als auch die Laichsaison zu einem früheren Zeitpunkt ein, wodurch die Heringslarven die Vogelfelsen zu einem früheren Zeitpunkt passieren können. Zudem wurde festgestellt, dass die Fischlarven starker Laichjahrgänge sich weiter von ihren Laichplätzen entfernen und durch wärmere Strömungen vor allem weiter nach Norden transportiert werden, wodurch weniger Exemplare in den Küstenbereichen Süd- und Mittelnorwegens verbleiben.

Diese Szenarien fügen sich in das Bild ein, das durch Ergebnisse des SEAPOP-Monitorings im Umfeld von Runde skizziert wird. Im April 2007 - einem Zeitpunkt, zu dem die Brutplätze normalerweise schon besetzt sind - hielten sich große Mengen an Trottellummen noch in den umliegenden Meeresbereichen auf, was für eine zeitliche Verschiebung der Heringsdrift sprechen könnte. Im Folgejahr, als erstmals Papageitaucher betroffen waren, wurden Ende Juni große Altvögeltrupps aus Papageitauchern und anderen Seevögeln in den Fjorden landeinwärts beobachtet, wo sie offensichtlich genug Nahrung fanden - allerdings zwei Wochen zu spät für den normalen Brutablauf.

Eine wichtige Rolle spielen auch die Windgeschwindigkeiten und Windrichtungen im Frühjahr. Stärkere Aprilwinde erhöhen über eine bessere Durchmischung der oberen Wasserschichten vermutlich die Nahrungsaufnahmerate der Heringslarven, denen sich auf diese Weise ein größerer Wasserbereich zur Nahrungsaufnahme erschließt. Die vorherrschende Richtung des Windes beeinflusst die Drift der Heringslarven. Anhaltende Nordwinde während des Frühjahrs treiben die Larven bis zu 100 Kilometer weit von der norwegischen Küste in das offene Meer und somit aus der Reichweite der Vogelfelsbrüter, von denen einige Arten, wie beispielsweise Papageitaucher, maximal zehn Kilometer weite Nahrungsflüge zurücklegen.



Unterschiedliche Jagdstrategien der Seevögel

Im komplexen Nahrungsnetz wirkt sich die Stärke eines Heringsjahrgangs auch auf andere Beutefische der Seevögel aus. Starke Heringsjahrgänge dezimieren die Bestände der Lodde in der Barentsee, was negative Folgen für die Dreizehenmöwenpopulation in der Finmark hat. Versuchen Dreizehenmöwen dort den Ausfall der Lodde mit Hering zu kompensieren, geht ihr Bruterfolg aus bisher ungeklärten Gründen zurück. Auf der anderen Seite steigt gleichzeitig der Fraßdruck auf Heringslarven durch vorjährige Dorsche, deren Reproduktion bei höheren Temperaturen ebenfalls größer ausfällt.

Zum aktuellen Zeitpunkt ist das Wirkungsgefüge, das sich letztlich in abnehmenden Brutpaarzahlen und ausbleibendem Bruterfolg äußert, nicht für jede betroffene Vogelart bekannt. Das unterschiedliche Ausmaß der Beeinträchtigung verschiedener Vogelarten wird - unabhängig vom Brutstandort - nicht zuletzt auch durch das artspezifische Jagdverhalten beeinflusst. Dreizehenmöwen, die ihre Nahrung nur von der Wasseroberfläche aufnehmen, können bei Weitem nicht so flexibel auf Änderungen der Nahrungsverfügbarkeit reagieren wie Trottellummen, die bis zu 60 Meter tiefe Tauchgänge unternehmen. Basstölpel legen bei ihren Beuteflügen wesentlich weitere Strecken zurück als Alkenvögel und sind deshalb unabhängiger von räumlichen Verlagerungen ihrer Beutefische. Dies gilt auch für Eissturmvögel, die zudem in großem Maße von Fischereiabfällen profitieren. Ein weiterer markanter Unterschied besteht in der Anzahl der Fische, die pro Tauchgang erbeutet werden. Bei Trottellummen, die pro Tauchgang nur einen Fisch für die Jungvögel anbringen, spielt die Qualität des einzelnen Fisches eine größere Rolle als bei Papageitauchern, die in der Regel eine ganze Reihe Jungfische oder Fischlarven pro Beuteflug transportieren.



Zwischen NAO und Treibhauseffekt

Im Hintergrund der Entwicklung an den Vogelfelsen "ticken" zwei unterschiedliche Taktgeber, deren gegenseitige Wechselwirkung noch nicht ergründet ist. Zum einen stehen Wassertemperatur und Windverhältnisse in einem engen Zusammenhang mit der sogenannten Nordatlantischen Oszillation (NAO), einem Klimaphäno­men, welches das Wettergeschehen auf der Nordhalbkugel im Winter beeinflusst. Die NAO steht für die Schwankung des Luftdruckverhältnisses zwischen dem Islandtief im Norden und dem Azorenhoch im Süden des Nordatlantiks: Herrscht ein großer Luftdruckunterschied, wird von einem "positiven NAO-Index" gesprochen. Dann treten in Mitteleuropa erhöhte Wintertemperaturen, stärkere Westwinde und mehr Niederschläge auf. Bei einem geringen Luftdruckgefälle spricht man von einem negativen NAO-Index. Die Westdrift ist dann eingeschränkt, wodurch das winterliche kontinentale Hochdruckgebiet an Einfluss gewinnt, was kältere Winter und weniger Niederschläge zur Folge hat (s. FALKE 2008, H. 8, S. 295). Die NAO schwankt zwar jährlich, lässt sich jedoch in langfristigen Trends darstellen.

In den letzten beiden Jahrzehnten war der NAO-Winter-Index überwiegend positiv ausgeprägt, was unter anderem zur Folge hatte, dass im östlichen Nordatlantik mildere Wintertemperaturen vorherrschten. Wärmere Lufttemperaturen im Bereich des Europäischen Nordmeers und der Grönlandsee vermindern die Abkühlung und das Absinken des warmen Oberflächenwassers, das über den Golf- und den sich daran anschließenden Nordatlantikstrom nahe der Wasseroberfläche nach Norden transportiert wird, und reduzieren damit die Bildung von kaltem Tiefenwasser, das nach Süden zurückströmt.

Zum anderen nimmt der durch Treibhausgase verursachte Klimawandel starken Einfluss auf die Geschehnisse im Nordatlantik. Ein wichtiger Faktor sind dabei höhere Sommertemperaturen und das verstärkte Abschmelzen der arktischen Gletscher, wodurch unter anderem der warme Süßwasserzufluss in den Nordatlantik steigt, der wiederum die Abkühlung und die Bildung von kaltem Tiefenwasser zusätzlich vermindert.

Als Folge kommt es in den betroffenen Bereichen vor Norwegens Küste zur Ausbreitung und Förderung wärmeliebender Plankton- und Fischarten, während Seevögel wie die Trottellumme zumindest lokal zu den Verlierern der veränderten Klimabedingungen zählen könnten.


Philipp Meister, Diplom-Geograph, arbeitet in der Umwelt- und Landschaftsplanung. Dabei beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Watt- und Wasservögeln.


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Literatur zum Thema:

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http://doc.nprb.org/web/nprb/afs_2009/IAFS%20Presentations/Day1_2009101909/IAFS_Toresen_FisheryMgmtNortheastAtlantic_101909.pdf

Anker-Nilssen T, Barrett RT, Bustnes JO, Christensen-Dalsgaard S, Erikstad KE, Fauchald P, Lorentsen S-H, Steen H, Strøm H, Systad GH, Tveraa T 2008: SEAPOP studies in the Barents and Norwegian Seas in 2007. NINA Report 363. Trondheim, April 2008.
www.nina.no/archive/nina/PppBasePdf/rapport/2008/363.pdf

Frederiksen M, Edwards M, Richardson AJ, Halliday NC, Wanless S 2006: From plankton to top predators: bottom-up control of a marine food web across four trophic levels. J. Animal Ecol. 75: 1259-1268.

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Toresen R 2009: North East Atlantic Fisheries - another pelagic decade? North Atlantic Seafood Forum, Oslo, Norway 4-5 March 2009, Presentation.
http://doc.nprb.org/web/nprb/afs_2009/IAFS%20Presentations/Day1_2009101909/IAFS_Toresen_FisheryMgmtNortheastAtlantic_101909.pdf


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 7/2010
57. Jahrgang, Juli 2010, S. 276-282
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2010