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VÖGEL/704: Der Gartenrotschwanz im Nationalpark Bayerischer Wald (Vogelschutz)


Vogelschutz - 1/2011

Magazin für Arten- und Biotopschutz

Nationalpark Bayerischer Wald
Wenn der Borkenkäfer geht, kommt der Gartenrotschwanz

Von Dr. Jörg Müller und Rainer Simonis


Aus Sicht des Nationalparks war die Wahl des Gartenrotschwanzes zum Vogel des Jahres eine gelungene Wahl. Als einer der attraktivsten Singvögel repräsentiert er hervorragend von der Natur aufgelichtete Waldbestände, in denen durch Unterlassen alle Totholzstrukturen verbleiben

Vogel des Jahres 2011: Der Gartenrotschwanz (Männchen in Seitenansicht von hinten, der Kopf ist nach hinten und dem Betrachter zugewendet) - © Marcus Bosch

Vogel des Jahres 2011: Der Gartenrotschwanz
© Marcus Bosch

Wer heute in den Hochlagen des Nationalparks Bayerischer Wald wandert, kann kilometerweit durch abgestorbene Altfichtenwälder laufen. Solche Bilder rufen bei vielen Menschen Unbehagen hervor. Fast alle sind wir in Kulturlandschaften aufgewachsen, mit einem Minimum an natürlicher Dynamik. Worte wie "ökologische Katastrophe" oder "kaputtgeschützt" machen nach solchen Wanderungen schnell die Runde. Selbst unter Naturschützern kann man zuweilen Zweifel an einem solchen Naturschutzkonzept hören. Von Seiten der Nationalparkvertreter ist man sich aber einig, dass wir es der Natur wenigstens auf der kleinen Fläche des Nationalparks erlauben sollten, auch in Mitteleuropa im Vergleich zur großen Kulturlandschaft einmal ihren eigenen Weg zu gehen. Die Erforschung und Beobachtung dieser Entwicklung hat bereits viele spannende Erkenntnisse erbracht und ständig kommen neue Überraschungen hinzu.

Einer der auffälligsten Charaktervögel dieser waldsteppenartigen Totholzflächen ist heute der Gartenrotschwanz, der ansonsten überall stark zurückgegangen ist. Auf drei Teilflächen wurden Siedlungsdichten von 1,1 bis 2,3 Reviere/10 ha festgestellt. Dies liegt im Rahmen der Höchstdichten, wie sie das Kompendium der Vögel Mitteleuropas angibt. Die Kombination aus offenen Waldflächen und gleichzeitig ein hohes Höhlenangebot in den Fichtenstümpfen sind hier sicherlich ausschlaggebend. Neben dem Gartenrotschwanz finden sich aber noch weitere charakteristische Arten der lichten Wälder: Häufig ist der Baumpieper, der die toten Fichten als Singwarte nutzt. Eine echte Überraschung war dann 2009 der erste Brutnachweis des Wendehalses, und das auf über 1.200 m Meereshöhe mit drei Revieren. Ähnlich überraschende Brutvogelarten sind auch der Neuntöter oder die Dorngrasmücke in den Hochlagen.

Auch Neuntöter (links: kompakt wirkender, heller Vogel in halber Seitenansicht von vorn mit Salamander im Schnabel) und Wendehals (rechts: vor Nistloch in totem Baum, Rückenansicht; auch hier der Kopf nach hinten zum Betrachter gewendet; Futter im Schnabel) finden in den Totholzflächen offenbar ideale Lebensbedingungen - © Rainer Simonis Auch Neuntöter (links: kompakt wirkender, heller Vogel in halber Seitenansicht von vorn mit Salamander im Schnabel) und Wendehals (rechts: vor Nistloch in totem Baum, Rückenansicht; auch hier der Kopf nach hinten zum Betrachter gewendet; Futter im Schnabel) finden in den Totholzflächen offenbar ideale Lebensbedingungen - © Rainer Simonis

Auch Neuntöter (links) und Wendehals (rechts) finden in den Totholzflächen offenbar ideale Lebensbedingungen
© Rainer Simonis

Für Ornithologen besonders spannend ist hier das gemeinsame Vorkommen dieser Vogelarten, die wir aus der Kulturlandschaft kennen, zusammen mit dem Auerhuhn. Aktuelle Monitoringergebnisse der beiden Nationalparke haben gezeigt, dass auch mitten im Totholz Auerhühner leben können, wenn nur ein Minimum an zweizimmerhohen grünen Fichten als wichtige Schlafund Nahrungsbäume zur Verfügung steht. Die toten Fichten sind daneben sehr wichtige Strukturelemente als Schlafbäume und Deckung in Bodennähe. Die meisten der hier häufigen Arten gelten uns als Charaktervögel vielseitiger Kulturlandschaften. Im Bayerischen Wald besiedeln sie natürliche Störungsflächen.

Die Gründe für die Massenvermehrung des Buchdruckers sind inzwischen wohl bekannt. Begünstigt durch menschliche Nutzung in der Vergangenheit ist der Holzvorrat der Fichte aktuell so hoch wie noch nie in den letzten 100 Jahren. Dies kombiniert mit sehr warmen Jahren in den 1990ern war für die Entwicklung des Insekts optimal. Eine ganz ähnliche Kausalität aus menschlich bedingt hohen Holzvorräten bei Nadelbäumen und dem Klima findet sich auch bei anderen Borkenkäferarten in Nordamerika.

Die ganz spezifisch positive Reaktion vieler holzbewohnender Käferarten auf diese Auflichtung, insbesondere bei Arten, die auf Fichte oder Nadelbäume spezialisiert sind, weist darauf hin, dass rasche Auflichtungen durch Insektenfraß nicht nur die Fichtenverjüngung fördern, sondern auch viele der Arten, die eng mit ihr in Beziehung stehen. Über alle Artengruppen hinweg bleibt festzuhalten, dass es wesentlich mehr Gewinner als Verlierer bei diesem Prozess gibt. Dies gilt insbesondere auch für viele gefährdete Arten unter den Pilzen und Insekten. Licht und Wärme sind im kühlen Bergwald ohne diese Dynamik nur sehr begrenzt verfügbar, beispielsweise in den wenigen offenen Moorflächen. Arten, die in Mitteleuropa als extrem selten galten, können in diesen Totholzflächen wieder große Populationen aufbauen, weil ihre Lebensgrundlage nun sehr häufig ist. Damit wurde im Nationalpark zum ersten Mal die Funktion des kleinen Borkenkäfers als "Ökosystem-Ingenieur" deutlich. Er schlüpft hier in eine ähnliche Rolle, wie sie der Biber in den Auen einnimmt.


Siedlungsdichten im Totholz
Gebiet
Untersuchungsfläche
Reviere pro 10 ha
Rachel
Schwarzbachhänge
Plattenhauser Riegel
60 ha
70 ha
20 ha
2,3
1,1
2,0

Fasst man alle bisherigen Erkenntnisse zusammen, so zeigt sich, dass es vor allem die Extreme im Wald sind, die heute für den Artenschutz wichtig sind. Während in Wirtschaftswäldern eher mitteldichte, jüngere Waldbestände vorherrschen, findet man viele seltene Arten entweder in den ganz schattigen alten Buchen-Tannenwäldern, z. B. Weißrückenspecht und Zwergschnäpper, oder eben in den sehr lichten Lebensräumen den Gartenrotschwanz. Das Belassen von Totholz und das konsequente Zulassen natürlicher Dynamik fördern hier die Habitatvielfalt im ungenutzten Schutzgebiet.


Bis heute fehlt es bei vielen Menschen an Akzeptanz oder ästhetischem Empfinden für Naturdynamik

Foto oben: Nur eine vermeintliche Wüste - waldsteppenartige Totholzfläche im Nationalpark, in Wirklichkeit ein vitaler Lebensraum z.B. für den Gartenrotschwanz (unten) © Rainer Simonis

Foto oben: Nur eine vermeintliche Wüste - waldsteppenartige Totholzfläche im Nationalpark,
in Wirklichkeit ein vitaler Lebensraum z.B. für den Gartenrotschwanz (unten)
© Rainer Simonis

Gartenrotschwanzmännchen mit Futter im Schnabel auf Ast vor Nisthöhle in totem Baum; etwas tiefer fliegt ein Weibchen Richtung Baum, Flügel und Beine sind angelegt - © Rainer Simonis

© Rainer Simonis

In der Diskussion um die Totholzflächen hört man häufig erfreute Stimmen über den nachwachsenden Wald. Eine solche Begeisterung gegenüber üppiger Naturverjüngung entspringt aber eher forstlichen und ökonomischen Holzproduktionsgefühlen. Die Vielzahl der Arten, die gerade in den Flächen noch ohne Naturverjüngung leben, lehren uns aber, dass es wichtig ist, dass Baumreproduktion nach einem Fraßereignis nicht flächig, sondern teilweise über Jahrzehnte verzögert abläuft. Erst diese Verzögerung schafft das für diese Arten so wichtige Mosaik aus offenen und geschlossenen Waldflächen.

Bis heute fehlt es bei vielen Menschen an Akzeptanz oder ästhetischem Empfinden für Naturdynamik. Dies führt selbst in Schutzgebieten manchmal zur Auflage, dass solche "Schadflächen" geräumt werden sollen. Hier zeigen aktuelle Untersuchungen im Nationalpark, dass sich das Entfernen der toten Bäume eindeutig negativ auf den Gartenrotschwanz und auch andere Arten auswirkt. Man nimmt diesen Arten damit die Singwarten und Brutbäume. Ähnliches kann man auch an den Schachten, den offenen ehemaligen Weideflächen im Nationalpark, beobachten. Dort ziehen die Gartenrotschwänze bei direkt an den Schachten angrenzenden Borkenkäferflächen diese den relativ strukturarmen Wiesen vor.

DIE AUTOREN
Dr. Jörg Müller
Zoologe im Nationalpark Bayerischer Wald
Rainer Simonis
Förster im Nationalparkrevier Finsterau


Die Broschüre zum Vogel des Jahres
Der Gartenrotschwanz
Ausführliche Informationen über Verhalten und Lebensweise.
36 Seiten, Format DIN A5 mit brillanten Farbfotos.
Für 2,20 EUR zzgl. Porto unter der Best.-Nr. 100 121 02 im LBV-Shop
Bestellhotline: 09174-4775-23 oder im Internet: www.lbv-shop.de


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Quelle:
Vogelschutz - 1/2011, S. 6-9
Magazin für Arten- und Biotopschutz
Herausgeber:
Landesbund für Vogelschutz in Bayern e.V. -
Verband für Arten- und Biotopschutz
LBV-Landesgeschäftsstelle
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Vogelschutz ist das Mitgliedermagazin des LBV
und erscheint vierteljährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2011