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BUCH/620: Hermann Scheer - Der energethische Imperativ (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 161 - April/May 2011
Die Berliner Umweltzeitung

Der energethische Imperativ
Das letzte große Werk von Hermann Scheer


Das Buch soll eine "systematische Bestandsaufnahme" und eine "Navigationshilfe für Durchbruchsstrategien" sein. Gleich zu Beginn dieser "Bestandsaufnahme" listet Hermann Scheer fünf Fragen auf, die er diesem Buch klären möchte: Welche Energiequelle könne die "Brücke" sein, welche Speichertechnologien seien vorhanden und durchzusetzen, ob eine Energieversorgung zentral oder dezentral, lokal, national oder international sein solle und welche Akteure diesen Weg begleiten sollen.

Er betont auch noch einmal, dass keine Zeit mehr zu verlieren sei. Die "Zeitfrage" sei von besonderer Relevanz. Vielleicht widmet er das Buch auch deshalb seiner siebenjährigen Enkelin Lilly Scheer. Bestimmt wollte Scheer, dass sie mit Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien aufwächst und in einem intakten Ökosystem Planet Erde lebt.

Er schreibt, Befürworter und Gegner der erneuerbaren Energien ließen sich auf ein Miteinander ein. Man hat den Eindruck, dass es Hermann Scheer lieber gesehen hätte, wenn sich die Energiekonzerne und die Befürworter der regenerativen Energien stärker reiben würden. Er spricht von der "Allianz der Aufschieber". Aufgeschoben wird in diesem Sinne der tatsächliche Wechsel hin zur erneuerbaren Energieversorgung. Die Energiekonzerne E.ON, Vattenfall, EnBW und RWE haben logischerweise kein Interesse an der aufstrebenden neuen Macht erneuerbare Energien. Sie wollen ihre alten Kraftwerksparks bis zum Sanktnimmerleinstag mit gigantischen Gewinnen für sich laufen lassen.


Keine Ergänzung, sondern eine Alternative

Daher fordert Hermann Scheer, dass die konventionelle Energiewirtschaft und die Konzerne keine Zukunft haben dürfen. Das bedeute ganz konkret, dass es keine weiteren Aufträge und keine längere Zusammenarbeit mehr geben darf. Dementsprechend fällt auch sein Urteil zur AKW-Laufzeitverlängerung sehr kritisch aus. Die erneuerbaren Energien dürfen keine Ergänzung, sondern müssen laut seinem Buch der "energethische Imperativ" eine Alternative sein.

Eine von der Bundesregierung vorläufig angestrebte"Koexistenz" funktioniere nicht. Selbstverständlich sei dazu eine "politisch-kulturelle Kraftanstrengung" nötig, jedoch sei der Wechsel bis 2035 möglich, wenn man alle Kräfte mobilisiere. Dieser Wechsel müsse "volkswirtschaftlich, gesamtpolitisch" und nach ethischen Grundsätzen, daher ja auch der Buchtitel, aufgebaut sein.

Hermann Scheer verweist mit dem Titel seines Buches auf den Chemie-Nobelpreisträger 1909 Wilhelm Ostwald. 1912 schrieb dieser das Buch "Der energetische Imperativ". Schon damals sagte Ostwald voraus, dass die fossilen Energieträger endlich seien und allein die Nutzung solarer Energie eine Zukunft habe. Das sei naturgesetzlich. Mit dem zusätzlich eingefügten "h" möchte Scheer das ungeheure gesellschaftliche Potenzial der erneuerbaren Energien hervorheben. Sie seien ein gesellschaftliches Phänomen und eben mehr als nur die Gewinnung von Strom und Wärme. Es gehe um die "Befreiung von existenziellen Abhängigkeiten". "Dezentraler Konsum und dezentrale Gewinnung von Energie" seien die Zukunft.

Wie ein Philosoph einen anderen korrigiert, so tut dieses Hermann Scheer mit der konventionellen Energiewirtschaft. Es geht einem fast schlecht, wenn man das Buch liest, da es schon so lange so viele Möglichkeiten gibt, die nur warten, umgesetzt zu werden. Es wird einem wieder einmal klar, dass die Welt mehrere Hermann Scheers gebraucht hätte.

Auch sein Stil gefällt dem geneigten Leser. Es gibt viele schöne Vergleiche, nur selten Zynismus und eine einfache, klare Sprache. Zudem erfährt man viele Hintergründe, die man nicht primär mit dem Thema verbindet. Historische Zusammenhänge und die Vorstellung von Speichertechnologien sind hier exemplarisch. Scheer stellt seinen großen globalen Überblick eindrucksvoll unter Beweis.

Desertec und Offshore-Windparks keine Alternative Die Großprojekte Seatec (Offshore-Windenergie) und Desertec (Solarenergie) bekommen ein eigenes kritisches Kapitel. Die sogenannten Supergrids (neue, leistungsstarke Stromnetze) seien sehr teuer und man begebe sich in erneute Abhängigkeit. Diese Projekte erfüllen meist nicht die von Hermann Scheer beschriebenen immanenten Merkmale der erneuerbaren Energien, was beispielsweise Dezentralität und Bürgerbeteiligung angeht. Des Weiteren kritisiert Scheer die globalen Konsensentscheidungen. Er ist der Meinung, dass unilaterale Bemühungen Wellenbewegung auslösen und dieses zu fördern sei. Im Bereich der regenerativen Energien sei jede installierte Anlage ein Fortschritt. Es sei für den lokalen Erfolg nicht vordergründig relevant, dass alle Nationen dieser Welt gleichsam auf erneuerbare umrüsten, auch wenn das natürlich wünschenswert sei.

Hermann Scheer nennt die Nullzinskredite als ein wichtiges Instrument auf dem Weg zu einer regenerativen Energieversorgung.

Sein Fazit ist klar: Das Hauptargument gegen regenerative Energien vom Stromnetzumbau wird hinfällig, da er vor allem auf eine dezentrale Versorgung setzt, die intelligente lokale Lösungen bevorzugt, die keine Supergrids erfordern. Er weist auf die schon hohe Akzeptanz und das große Vertrauen der Menschen in erneuerbare Energien hin, da nicht nur neue Technologien, sondern engagierte Menschen für eine Energierevolution nötig seien.

Und im letzten Kapitel seines Buches resümiert Hermann Scheer: "Es gibt keine Ausreden mehr. Alle Schwierigkeiten auf diesem Weg sind leichter zu beseitigen als die Folgen des Weitermachens." (S. 257). Er hat recht!

Felix Eick


Hermann Scheer
Der energethische Imperativ
100% jetzt: Wie der vollständige Wechsel zu
erneuerbaren Energien zu realisieren ist
Verlag Antje Kunstmann
München 2010
271 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-88897-683-4


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Quelle:
DER RABE RALF - 22. Jahrgang, Nr. 161 - April/Mai 2011, S. 26
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de

Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: 10 Euro/halbes Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2011