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FORSCHUNG/1067: Blickkontakt mit der Blattwanze... Tierwelt in Tschernobyl und Fukushima (IPPNWforum)


IPPNWforum - nr 138 juni 2014
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Blickkontakt mit der Blattwanze
Beobachtungen der Tierwelt in den Zonen um Tschernobyl und Fukushima

Von Dr. Winfried Eisenberg



Wie reagieren Insekten, Vögel, kleine Säugetiere, Pflanzen auf erhöhte Radioaktivität? Der Biologe Timothy A. Mousseau von der University of South Carolina in Columbia, USA, hat mit seinem dänischen Kollegen Anders P. Møller und weiteren Mitarbeiterinnen seit 2000 die Tierwelt rund um Tschernobyl untersucht. Seit 2011 hat das Team zehn Forschungsreisen nach Fukushima unternommen.

Über die wichtigsten Befunde berichtete Mousseau auf der internationalen Tagung zu den Folgen von Atomkatastrophen für Mensch und Umwelt in Arnoldshain: Sowohl die absolute Zahl der Vögel und Insekten (abundance) als auch die Artenvielfalt (biodiversity) geht in Relation zum Grad der am jeweiligen Fundort gemessenen Radioaktivität zurück. Ferner fanden die Forscher Farb- und Formvarianten, Fehlbildungen, Unfruchtbarkeit, bei Vögeln auch Katarakte und Krebsgeschwulste sowie Minderung der Lebensdauer. In der Umgebung von Tschernobyl sind viele Arten bereits ausgestorben. Mousseau erwähnte auch die Behauptungen der IAEO, in den menschenleeren Sperrzonen würde die Tierwelt prächtig gedeihen. Seit 2006 seien im Fernsehen mehrfach entsprechende Filme gezeigt worden. Der Biologe sagte, es gäbe keine einzige wissenschaftliche Arbeit, auf die sich die IAEO berufen könne. Behauptungen und Filme seien nichts anderes als Propaganda der Atomindustrie.

Cornelia Hesse-Honegger, Wissenschaftszeichnerin aus der Schweiz, berichtete über ihre Studien an Blattwanzen (Heteroptera), die sie im Süden Weißrusslands, aber auch in der Umgebung von Atomkraftwerken in der Schweiz und in Deutschland, ferner in der Nähe der Wiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield (GB) und La Hague (F) sowie der Atomfabrik Hanford (USA) gesammelt hat. Je nach Radioaktivitätsgrad fand sie bei bis zu 30 % der Blattwanzen Asymmetrien, Farbveränderungen, Fehlbildungen der Fühler, Beine, Füße, des Brustkorbs und des Bauches, der Flügel und Augen. Sie hat die z. T. nur zwei bis drei Millimeter großen Insekten mit ihren Auffälligkeiten detailgenau gezeichnet. Die spontane Mutationsrate liegt bei einem Prozent, in den intakten Referenzbiotopen in Ghana und Costa Rica gab es überhaupt keine Fehlbildungen.

In Arnoldshain saßen einige TagungsteilnehmerInnen abends bei einem Glas Wein und unterhielten sich. Timothy Mousseau und Cornelia Hesse-Honegger kamen dazu. Sie tauschten sich untereinander über ihre Arbeitsmethoden aus, sie beantworteten bereitwillig und humorvoll meine Fragen. So ging es z. B. darum, wie sie die zu untersuchenden Tiere fangen, wie der Untersuchungsablauf aussieht, was am Ende mit den Tieren geschieht.

Es wurde deutlich, dass beide trotz aller wissenschaftlichen Genauigkeit den Tieren mit Respekt gegenübertreten, sie nicht als Objekte, sondern als Mitbewohner unseres Planeten betrachten, dass sie versuchen, Schmerzen zu vermeiden und dass sie die Tiere in aller Regel nach der Untersuchung wieder freilassen. Ich musste an Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" denken.

Bei der Frage, wie die Forscher Vögel und Insekten fangen, berichtete Cornelia Hesse-Honegger, dass sie aus Erfahrung weiß, zu welcher Tageszeit sich Blattwanzen an welchen Stellen der bevorzugten Pflanzen aufhalten. Sobald sie aus einer Entfernung von ca. 150 cm eine Wanze entdeckt hat, schaut sie zur Seite und summt zur Ablenkung ein Lied. Bei direktem Blickkontakt lässt sich nämlich die Blattwanze sofort fallen und ist dann wegen ihrer perfekten Tarnung am Boden nicht mehr zu finden. Nur aus dem Augenwinkel in Richtung Wanze schauend nähert sich die Sammlerin dann und schüttelt das Insekt von der Wirtspflanze herunter in eine Schale. Also: Der Blickkontakt mit der Blattwanze ist zu vermeiden!

Timothy Mousseau bestätigte diese Beobachtung; er geht aber anders vor; sein Team muss schnellstmöglich viele Vögel bzw. Insekten fangen, um nicht zu lange im hoch verstrahlten Gebiet bleiben zu müssen. Das zehnköpfige Team verwendet Netze. In der Fukushima-Sperrzone ist es kaum möglich, wenig belastete "Cold Spots" für die Kontrolluntersuchungen zu finden. Zu große Entfernung des Kontrollgebiets ist wegen anderer Biotop-Bedingungen aber auch nicht ideal. Im Gespräch erfuhren wir weiter, dass gefangene Vögel genau untersucht, gemessen und gewogen werden; ein spezielles Strahlenmessgerät stellt die radioaktive Belastung der Tiere fest. Timothy erklärte auch, wie man bei kleinen Vögeln ein paar Tropfen Blut oder, bei den Männchen, etwas Samenflüssigkeit gewinnen kann. Wenn alle Daten und Proben gesammelt sind und dazu noch die Radioaktivität am Fundort gemessen und notiert wurde, dürfen die Vögel wieder davonfliegen - in eine allerdings tödlich belastete "Freiheit".


Dr. Winfrid Eisenberg ist Arzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin.

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Quelle:
IPPNWforum | 138 | 14, S. 18
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2014