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LUFT/435: Ein Jahr Luftreinhaltepolitik - Regierung lässt Bürger und Kommunen im Feinstaub stehen (NABU)


Naturschutzbund Deutschland (NABU) e.V. - Pressedienst, 19. Oktober 2010
Gemeinsame Pressemitteilung von NABU, DUH, VCD und BUND

Ein Jahr Luftreinhaltepolitik: Bundesregierung lässt Bürger und Kommunen im Feinstaub stehen


Umwelt- und Verkehrsverbände ziehen vernichtende Bilanz der Luftreinhaltepolitik und fragen "Wo ist Umweltminister Röttgen?" - EU prüft Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen fortgesetzter Überschreitung der Feinstaubgrenzwerte - Bundesregierung plant Ende der Rußfilternachrüstförderung und Aufweichung von Umweltzonen -Umweltpolitik absurd: Strafsteuer für ungefilterte Diesel- Pkw wird ab 1.4.2011 nicht mehr erhoben - Forderung der Umweltverbände: Weiterführung der Strafsteuer für Dieselfahrzeuge und aufkommensneutrale Verwendung des Geldes für die Rußpartikelnachrüstung von Pkw und leichten Nutzfahrzeugen

Berlin - In einem gemeinsamen Appell machen vier führende Umwelt- und Verkehrsverbände auf die derzeit stattfindende "Abwicklung der Luftreinhaltepolitik" aufmerksam. Während mehr als 40 Kommunen und Ballungsräumen hohe Strafzahlungen wegen Nichteinhaltung der verbindlichen Luftreinhaltewerte drohen, plant die Bundesregierung die Streichung gleich mehrerer Luftreinhalteregelungen: Zum Jahreswechsel soll die Förderung von nachträglich eingebauten Dieselrußpartikelfiltern fallen, die geplante Erhöhung der Maut für EURO-III-Lkw fällt aus, und ab dem 1. April 2011 sollen gar ungefilterte Dieselfahrzeuge von der Strafsteuer befreit werden. Parallel plant die Bundesregierung eine Aufweichung der Einfahrvorschriften für Umweltzonen.

Die von Feinstaub und Stickoxiden geplagten Kommunen und vor allem die an den stark befahrenen Straßen lebenden Bürger werden ab 2011 bei der Problemlösung allein gelassen. Mit weiteren Übergangsfristen seitens der EU können sie nicht rechnen. Im Gegenteil: Die EU-Kommission entscheidet bereits im November über die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland mit hohen Bußgeldforderungen. Mit anderen Worten: Das offensichtliche Desinteresse von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) an einer besseren Luftqualität kostet den Steuerzahler dann auch noch Geld.

Die Umweltschutzverbände Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland e. V. (BUND), Deutsche Umwelthilfe e.V. (DUH), Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU) und Verkehrsclub Deutschland e. V. (VCD) fordern Umweltminister Norbert Röttgen auf, den betroffenen Städten und Kommunen bei der Einhaltung der Feinstaub- und Stickoxidgrenzwerte zu helfen. Mehr als 100 Millionen Euro zweckgebunden eingenommene Steuergelder hat die Bundesregierung bislang noch nicht für die Nachrüstung von ungefilterten Diesel-Pkw ausgegeben. Die Umweltschutzverbände fordern die Bundesregierung auf, die Nachrüstförderung 2011 fortzusetzen und die ungefilterten Diesel-Pkw nicht finanziell zu begünstigen, wie ab dem 1. April 2011 vorgesehen.

"Während Wirtschaftsminister Brüderle und Verkehrsminister Ramsauer die bereits beschlossene Mauterhöhung für ungefilterte Lkw rückabwickeln und für 'freie Fahrt für Dieselstinker' kämpfen, hört man nichts vom eigentlich zuständigen Bundesumweltminister. Wie in vielen anderen Bereichen der Umweltpolitik stellt sich die Frage: 'Wo ist Röttgen'? Und warum kämpft er nicht - wie alle seiner Vorgänger im Amt - für die Einhaltung der Umweltstandards gerade in der Luftreinhaltepolitik?", fragt sich DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. Während sich andere Kabinettsmitglieder lautstark für den Abbau von Umweltstandards einsetzen, schweigt der Bundesumweltminister. Wenn der Finanzminister mehr als 100 Millionen Euro für die Nachrüstung zweckgebundener Maluseinnahmen für andere Zwecke verwendet, kommt von Röttgen kein Widerstand. Nicht einmal die geplante Steuervergünstigung für Dieselstinker ab dem 1. April 2011 schreckt den Bundesumweltminister auf. "Die Bundesregierung lässt die Städte und Kommunen ausgerechnet dann im Stich, wenn die EU-Kommission eine weitere Verschiebung der Luftreinhalteprobleme in den Ballungszonen nicht mehr länger dulden wird", sagte Resch. Die Städte können nach dem 1. Juni 2011 keine Anträge mehr auf Fristverlängerung zur Einhaltung der Grenzwerte stellen.

"Feinstaub aus Autos, Transportern und Lkw macht Deutschland zu einem Land mit 82 Millionen Passivrauchern. Mensch und Umwelt haben jedoch das verbriefte Recht auf saubere Luft. Maßnahmen zur Luftreinhaltung sind daher eine unabdingbare Voraussetzung für den Gesundheitsschutz und den Schutz der Ökosysteme", sagte Dietmar Oeliger, Verkehrsexperte des Naturschutzbundes Deutschland e.V. (NABU). Die Wirkung von Feinstaubpartikeln auf Lunge und Herzkreislaufsystem sei längst nachgewiesen. Oeliger sagte, dass Klein- und Kleinstpartikel beim Menschen verstärkt Allergien, Asthmaanfälle und Bronchitis auslösen. Außerdem steige wissenschaftlich bewiesen das Risiko für Herzinfarkt und Krebs bei höherer Feinstaubbelastung an. Oeliger wies darauf hin, dass Feinstaub und Stickoxide Jahr für Jahr allein in Deutschland für rund 70.000 vorzeitige Todesfälle verantwortlich gemacht werden. In der EU sind es insgesamt ca. 320.000 vorzeitige Todesfälle. Damit sei die Feinstaubbelastung mit der Gefahr des Tabakkonsums vergleichbar.

Auch Dr. Werner Reh, Leiter des Verkehrsbereichs beim Bund für Umwelt und Naturschutz e.V. (BUND), forderte, dass "die Bundesregierung die Rußfilter-Nachrüstförderung für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge fortsetzt und auch auf schwere Nutzfahrzeuge ausdehnt." Handwerker, Gewerbetreibende und auch private Pkw-Halter seien auf die Förderung angewiesen, um die Luftreinhaltevorgaben zu erfüllen. "Wer die Filterförderung gerade dann abschafft, wenn mehr und mehr Städte die Umweltzonen verschärfen, muss sich fragen lassen, ob er dadurch gezielt Politikverdrossenheit und Wut der Bürger gegen die Stadtregierungen anheizen will, die etwas für den Gesundheitsschutz tun", sagte Reh. Für Städte wie Berlin, die bei den Luftreinhaltungsmaßnahmen vorbildlich sind, seien die Anreize für die Umrüstung unverzichtbar, um weiterhin die Berliner Kfz-Flotte zu modernisieren und sauberer zu machen. Außerdem würden durch die Einstellung der Förderung viele mittelständische Arbeitsplätze gefährdet.

Gerd Lottsiepen, verkehrspolitischer Sprecher des ökologischen Verkehrsclubs VCD, stellte fest: "Es besteht überhaupt kein Sparzwang. Die Bundesregierung hat 2007 bei der Kfz-Steuer eine Malus-Zahlung von 1,20 Euro pro 100 Kubikzentimeter für Diesel-Pkw ohne Filter eingeführt. Die Maluseinnahmen sollten komplett für Nachrüstungen ausgegeben werden. Es ist noch genug Geld in dieser Kasse, das auch über 2010 hinaus bestimmungsgemäß verwendet werden sollte." Den Besitzern von Diesel-Pkw ohne Filter rät Lottsiepen trotzdem: "Nachrüsten jetzt! Das ist auf jeden Fall gut für die Gesundheit und das Klima. Die Förderung ist heute nur für 2010 sichergestellt und das Gedränge in den Werkstätten nimmt in den nächsten Wochen zu. Für die meisten Pkw gibt es den passenden Nachrüstfilter, wie die Datenbank www.partikelfilter-nachruesten.de zeigt." Halter von Pkw und leichten Nutzfahrzeugen können hier einfach und nutzerfreundlich ihr Fahrzeugmodell eingeben und erhalten sowohl den Filterhersteller als auch die voraussichtlichen Kosten angezeigt.

Dass Dieselruß neben Kohlendioxid ein wesentlicher Faktor bei der Klimaerwärmung ist, erläuterte Dr. Axel Friedrich, internationaler Experte für Luftreinhaltung und Verkehrspolitik. In Europa stammt der Hauptteil des Rußes aus dem Straßenverkehr. Die Rußteilchen werden mit den vorherrschenden Winden bis in die Arktis und auf die Gletscher getragen, legen sich dort wie ein Grauschleier auf die Eisflächen und beschleunigen dadurch das Abschmelzen. "Wer heute Klimaschutz betreibt, muss nicht nur an die Minderung von Kohlendioxid, sondern darüber hinaus auch an die Reduktion von Ruß denken. Deutschland hat bisher ein sehr erfolgreiches Nachrüstprogramm für Dieselfahrzeuge und hat hier beispielgebend für viele Länder die Technik vorangetrieben. Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese Programm nicht weitergeführt wird", sagte Friedrich.



Hintergrund:

Am 1. Juni 2011 läuft die letzte Übergangsfrist der EU-Kommission zur Einhaltung der EU-Feinstaubgrenzwerte für Städte und Kommunen aus. Viele Kommunen verdrängen derzeit noch diese von der EU eingeräumten Übergangsfristen, ihnen drohen aber Bußgelder bei einer fortdauernden Überschreitung der EU-Feinstaubgrenzwerte. Die Bundesregierung hat nämlich bereits angekündigt, dass sie etwaige Strafgeldforderungen der EU an die Bundesländer bzw. Kommunen abwälzen wird. Der Druck innerhalb der Städte und Kommunen, Umweltzonen einzurichten, wird damit zunehmen. In Deutschland gibt es derzeit 42 Umweltzonen, in die Fahrzeuge nur mit einer Feinstaubplakette fahren dürfen. Ziel der Kommunen ist es, mit den Umweltzonen die Luftqualität zu verbessern. Im Jahr 2011 kommen mindestens fünf Umweltzonen in Deutschland hinzu. Die drohenden EU-Bußgeldverfahren werden vermutlich zu einer beschleunigten Verschärfung einer Reihe von Umweltzonen hin zu einem Einfahrverbot für Fahrzeuge ohne bzw. nur mit roter oder gelber Plakette führen.


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Quelle:
NABU Pressedienst, 19.10.2010
Herausgeber:
Naturschutzbund Deutschland e.V. (NABU)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2010