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STADT/532: Ein ressourceneffizientes Stadtquartier für die Zukunft (Umwelt Perspektiven)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ

Umwelt Perspektiven
Der UFZ-Newsletter - Juni 2021

TITELTHEMA

Ein ressourceneffizientes Stadtquartier für die Zukunft

von Benjamin Haerdle


Starkregen, Überflutungen, Hitze, Dürreperioden - die Folgen des Klimawandels beeinflussen Städte, doch deren Infrastruktur ist darauf bislang kaum vorbereitet. Wie ein klimaangepasstes Energiemanagement für die Stadt der Zukunft aussehen könnte, daran arbeiten Forscherinnen und Forscher des UFZ gemeinsam mit der Stadt Leipzig, Investoren, Wirtschaftsunternehmen und weiteren Institutionen. Ihre Vision ist ein ressourceneffizientes Stadtquartier, das in Leipzig in einigen Jahren Realität werden soll.

Dort, wo einst unweit des Leipziger Hauptbahnhofs der Eutritzscher Freiladebahnhof stand, erstreckt sich mittlerweile eine 25 Hektar große Brache, auf der Bagger, LKW-Kipper und Radlader emsig ihrer Arbeit nachgehen. Sie bereiten das Gelände für ein neues Stadtquartier vor, in dem rund 3.700 Menschen leben sollen. Etwa 2.100 Wohnungen, ein 5,5 Hektar großer Park, ein Schul- und Sportcampus mit Grund- und Oberschule, zwei Kitas, kulturell-soziale Einrichtungen, reduzierter Autoverkehr - so sieht im Groben das Konzept für das neue Quartier "Leipzig 416" aus, bislang benannt nach der Nummer des Bebauungsplans.

Um für das neue Viertel nachhaltige Wasser- und Energieinfrastrukturen zu entwickeln, kooperieren Wissenschaftler und Praktiker gemeinsam in dem Forschungsverbund "Leipziger BlauGrün - Blau-grüne Quartiersentwicklung in Leipzig", den das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund 2,8 Millionen Euro fördert. "Wir wollen zeigen, wie in einem neuen Innenstadtquartier das zentrale Abwassersystem entlastet, die Energieeffizienz verbessert und die Auswirkungen von Starkregen- und Dürreereignissen gemindert werden können", sagt der Projektleiter und UFZ-Umweltbiotechnologe Prof. Roland A. Müller. "Leipziger BlauGrün wird damit zu einem bundesweiten Modellprojekt, weil im Co-Design und damit im gemeinsamen Austausch mit der Stadtverwaltung, dem Investor, der Wirtschaft, der Wissenschaft sowie Bürgerinnen und Bürgern Technologien zum Einsatz kommen, mit denen Niederschlagswasser sinnvoll im neuen Viertel gehalten und genutzt werden sollen."

Um Wasser im urbanen Raum zu halten, sind
dezentrale Infrastrukturen notwendig.

Das Forschungsprojekt setzt im geplanten Quartier das Konzept der Schwammstadt um. Dieses besagt, dass die in der Stadt anfallenden Niederschläge auch dort bleiben und nicht über Straßen, Gehwege und Plätze in die Kanalisation geführt werden sollen. Schon jetzt haben die veralteten Kanalnetze in vielen Städten ihre Kapazitätsgrenzen längst überschritten und sind bei Starkregen überfordert, sodass in diesen Fällen das verschmutzte Mischwasser in Flüssen landet - im Fall von Leipzig etwa der Weißen Elster oder der Parthe. Um das Wasser aber im urbanen Raum zu halten, sind dezentrale blau-grüne Infrastrukturen notwendig - dezentral deshalb, weil der Niederschlag an vielen unterschiedlichen Stellen gesammelt und gespeichert werden kann - und "blau-grün", weil der Niederschlag mithilfe sogenannter multifunktionaler blau-grüner Wasserinfrastrukturen in den Quartieren bleiben soll. Die technischen Möglichkeiten für diesen nachhaltigen Umgang mit Regenwasser sind vielfältig: Sie reichen von großflächigen Versickerungsmulden über verschiedene kiesartige Rigolen-Typen wie beispielsweise Mulden- und Baumrigolen bis hin zu Speichermöglichkeiten in Zisternen oder auf Retentionsgründächern. "Wir wollen das Regenwasser für die Bewässerung in den trockenen Sommermonaten speichern bzw. zwischenspeichern und damit Bäume, Sträucher und Wiesen als Teil blau-grüner Infrastrukturen zum Beispiel in den Innenhöfen der Wohnblöcke am Leben halten", sagt Roland A. Müller. Ein intaktes Stadtgrün hat viele positive Begleiterscheinungen: Grünflächen regulieren das Stadtklima, filtern Staub und mindern Lärm, bieten den Menschen Raum für Erholung, erhöhen die biologische Vielfalt und sorgen insgesamt für eine höhere Lebensqualität der Stadtbevölkerung. "Dies alles macht das Projekt 'Leipziger BlauGrün' zu einem interessanten Reallabor", bilanziert Müller.

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Das Projekt Leipziger BlauGrün
Das Projekt "Leipziger BlauGrün - Blau-grüne Quartiersentwicklung in Leipzig" wird mit rund 2,8 Millionen Euro über die BMBF-Fördermaßnahme "Ressourceneffiziente Stadtquartiere für die Zukunft (RES:Z)" gefördert. In RES:Z werden bundesweit zwölf inter- und transdisziplinäre Vorhaben unter Beteiligung von mehr als 20 Modellkommunen unterstützt. Leipzig ist die einzige ostdeutsche Modellstadt. Beteiligt sind am Projekt "Leipziger BlauGrün" die Stadt Leipzig, die Kommunalen Wasserwerke Leipzig, die Stadtwerke Leipzig, die Leipzig 416 Management GmbH, das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik, die Universität Leipzig, die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, die Unternehmen Tilia GmbH, Optigrün und DHI Wasy GmbH sowie das Umweltbundesamt.
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Wasser im Quartier halten

Wie das Management des Niederschlagswassers im Quartier "Leipzig 416" gestaltet werden könnte, ist die zentrale Frage, auf die der Umweltbiotechnologe Dr. Manfred van Afferden Antworten finden will. Er erstellt Wasserbilanzen auf Basis einzelner Häuserblöcke, von denen im Quartier mehr als 20 geplant sind. "Wenn bekannt ist, wie ein Häuserblock abflusslos gestaltet werden kann, kann ich das auch auf das gesamte Viertel übertragen", erklärt er. Der UFZ-Forscher modelliert dafür ausgehend von historischen Niederschlagsvergleichswerten in Leipzig die Abflussmenge von den Dächern sowie von möglichen Gestaltungseinheiten im Innenhof eines Häuserblocks wie etwa Tiefgarage, Wege, Radstellplatz, Spielplatz, Bäume, Rasenfläche oder Blumenbeete. Unterm Strich bleiben so bei unterschiedlichen Niederschlagsszenarien Abflussmengen, die im Innenhof versickern oder gespeichert werden müssen. Doch das ist nicht die einzige Herausforderung, vor der er steht: So soll zum einen der Innenhof auch in trockenen Sommern grün bleiben; Bäume, Sträucher und Wiesen sollten deswegen bewässert werden können. Zum anderen ist die Flächenkonkurrenz im Innenhof groß: Pflanzen, Sandkästen, Sitzgelegenheiten und Fußwege müssen dort genauso ihren Platz finden wie unterirdische Bauwerke, zum Beispiel Tiefgaragen, Retentions-, Versickerungs- und Speicheranlagen. Diese engen jedoch die Optionen der Bepflanzung ein und begrenzen damit naturnahe Gestaltungsmöglichkeiten. Das zeigt sich etwa bei einem möglichen Einsatz von Zisternen: "Um vor allem für trockene Sommermonate Bewässerungswasser zu sammeln, werden große Zisternen benötigt. Doch diese beanspruchen in den Innenhöfen einen erheblichen Flächenanteil und nehmen damit den Platz für andere Nutzungen weg", sagt van Afferden. Mehr verspricht er sich von Grundwasserbrunnen, die entweder für jeden einzelnen Häuserblock oder als zentrale Brunnen angelegt werden, die mehrere Blöcke des Quartiers beliefern können. Voraussetzung: Um den Grundwasserleiter nicht überzustrapazieren, darf nur die Wassermenge entnommen werden, die im Block als Niederschlagswasser versickert ist. Notwendig für eine ausgeglichene Wasserbilanz im Häuserblock sind zudem Gründächer: "Wir brauchen Gründächer, denn sie halten Regenwasser zurück und schaffen damit Freiräume im Innenhof", sagt er. Wie die begrünten Dächer konkret aussehen sollten, sei aber noch offen.

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Selbst in sehr trockenen Jahren können Innenhöfe trocken gehalten werden

Für einen rund 6.300 m2 großen Häuserblock, der im neuen Quartier "Leipzig 416" so entstehen könnte, haben UFZ-Wissenschaftler beispielhaft für ein sehr trockenes Jahr wie 2018 die Wasserbilanz ermittelt. In einem ersten Schritt haben sie dazu für jede einzelne Teilfläche berechnet, wie hoch der Abfluss des Niederschlagswassers ist. Daraus ergibt sich in der Summe ein jährlicher Wasserabfluss, der laut Plan im Quartier gehalten werden muss. Im zweiten Schritt modellierten die Forscher den jährlichen Bewässerungsbedarf der Grünflächen.

Unterm Strich zeigt sich, dass selbst in so trockenen Jahren wie 2018 mit einem Niederschlag von rund 2.400 m3/Jahr der Niederschlagsabfluss den Bewässerungsbedarf von rund 1.600 m3/Jahr nahezu decken kann. Voraussetzung: Es kann auf gesammelte Niederschläge (etwa in Zisternen) und Grundwasser zurückgegriffen werden, wobei die Grundwasserentnahme die auf der Blockfläche versickerte Wassermenge nicht übersteigen soll.

↓ Wasserabfluss in m3/Jahr
↑ Bewässerungsbedarf in m3/Jahr

Gebäude mit Gründach
1970 m2
↓ 373
↑ 1084

Tiefgarage mit Rasen
1124 m2
↓ 213
↑ 320

Radstellplatz überdacht
80m2
↓ 30

Gebäude ohne Gründach
1970 m2
↓ 709

Rasen
350 m2
↓ 30
↑ 100

Bäume
250 m2
↓ 38
↑ 45

Gehweg
200 m2
↓ 68

Beete / Büsche
250 m2
↓ 24
↑ 26

Spielplatz
110 m2
↓ 13

Gesamtfläche: 6.304 m2
Bewässerte Fläche: 3.944 m2
Niederschlag: 2.388 m3/Jahr

↓ 1.498 m3/Jahr
↑ 1.575 m3/Jahr
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Backup-Forschung am Gründach

Rund drei Kilometer Luftlinie entfernt vom geplanten Quartier steht die Biotechnologin Dr. Lucie Moeller in 15 Meter Höhe auf dem Dach des Gebäudes 7.1 am Leipziger UFZ-Standort in der Permoserstraße. Sie blickt auf vier rund 80 Quadratmeter große Gründachtypen, die ein UFZ-Team konzipiert und voriges Jahr angelegt hat. Auf einem Extensivdach blühen beispielsweise Mauerpfeffer, Fetthenne oder Frühlingsfingerkraut, auf dem pflegeaufwendigeren Intensivdach wachsen der Große Wiesenknopf oder die Fuchsrote Neuseeland-Segge. Auf dem Dach Nummer drei, einem Sumpfpflanzendach, ragen Sumpfsegge, Flatterbinse und Blutweiderich aus dem Wasser hervor. Eine vierte, mit Kies bestückte Referenzfläche ergänzt die Versuchsanfage. "Gründächer übernehmen eine Fülle von wichtigen Aufgaben: Sie verhindern und verlangsamen zum Beispiel den Abfluss des Regenwassers, verbessern Luftqualität und Mikroklima, senken die Schadstoffbelastung, reduzieren Lärm und fördern die Biodiversität", sagt Lucie Moeller, die am UFZ die Forschungsaktivitäten zum Gründach koordiniert.

Um diese Prozesse auf den unterschiedlichen Gründachtypen noch genauer zu analysieren und auch Projekte wie das "Leipziger BlauGrün" mit neuesten Erkenntnissen zu unterstützen, haben sich am UFZ mehrere Forschungsteams formiert. So kombiniert die vom UFZ-Stadtklimatologen Prof. Uwe Schlink geleitete AG "Klimamodellierung" Experimente zur Oberflächenenergiebilanz mit Modellierungen zum Mikroklima, um so die Wirkungen der Gründächer auf das städtische Klima zu beurteilen. Die AG "Biodiversität und Modellierung des Pflanzenwachstums" erfasst und bewertet die Vegetationsentwicklung auf den Dächern, modelliert das Pflanzenwachstum und untersucht Insekten, Spinnen und Pilze, die sich dort ansiedeln. Eine Forschergruppe um den Umweltmykologen Dr. Dietmar Schlosser analysiert Aufnahme-, Transport- und Abbauprozesse von luft- und wassergetragenen Umweltschadstoffen, wie etwa Mercaptobenzothiazol, das durch den Reifenabrieb im Fahrzeugverkehr freigesetzt wird. Das Team will herausfinden, inwieweit Gründächer als Senken für Schadstoffe fungieren können. In einer vierten AG will ein Team um den Umweltwissenschaftler Dr. Jan Knappe die Wasserbilanzen für die verschiedenen Gründachvarianten ermitteln. Dafür messen die Forschenden zum Beispiel mit einer an einer Drohne befestigten Wärmebildkamera die Temperatur auf den Dächern, zeichnen den Niederschlag mit einer Wetterstation auf und bestimmen mithilfe sogenannter Lysimeter die Verdunstung über den Boden und die Pflanzen. "Wir wollen so herausfinden, wie viel Wasser auf den verschiedenen Gründachtypen wie lange gespeichert wird und wie stark die Dächer die nähere Umgebung kühlen", sagt Knappe. Dank der Drohnenaufnahmen wissen sie, dass zum Beispiel das Sumpfpflanzendach eine hohe Kühlwirkung entfalten kann: Bei einer Außentemperatur von 32 Grad Celsius an einem heißen Augusttag im vorigen Jahr betrug die Temperatur direkt auf dem Sumpfpflanzendach nur 29 Grad Celsius. Auf dem Kiesdach kletterte sie dagegen auf fast 40 Grad Celsius, auf benachbarten Teer- und Metalldächern gar auf bis zu 70 Grad Celsius. Doch Knappes Team will das Forschungsgründach nicht nur als passives Element verstanden wissen. "Wir experimentieren auch mit einer Bewässerungsanlage, mit der wir den Wasserhaushalt der Gründächer intelligent steuern können, um so ein Absterben der Vegetation in trockenen Sommern zu verhindern", sagt er. Dafür haben sie im Rahmen des Projekts "Leipziger BlauGrün" ein zusätzliches Retentionsgründach aufbauen lassen (siehe Infobox). Forschung zum Selbstzweck ist das alles nicht. Letztlich sollen diese Forschungsergebnisse in ganz praktische Entscheidungen einfließen, welche Gründachtypen im neuen Stadtquartier des Eutritzscher Freiladebahnhofs oder in anderen Bauvorhaben verwendet werden.

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Retentionsgründach
Gemeinsam mit den Firmen Tilla und Optigrün sowie dem Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik (IGB) hat das UFZ auf seinem Forschungsgelände ein sogenanntes Retentionsgründach angelegt. Den Unterschied zu anderen Gründächern macht ein 8,5 Zentimeter hoher Stauraum unter der Vegetation und der Substratschicht, der Wasser aufnehmen kann. Ausgestattet ist es mit allerlei technischem Equipment, etwa um die Wasserbilanz des Gründachs bestimmen können. Für Experimente zur Steuerung des Wasserpegels, können die Forscher zudem über spezielle Apps bei einer Starkregenvorhersage Wasser aus dem Stauraum des Gründachs in eine Zisterne ableiten und somit den Speicher erweitern, auf den dann wiederum in Trockenzeiten zugegriffen werden kann. Experimentieren wollen sie auch mit der Funktion des Gründachs als Wärmetauscher. Denn über einen geschlossenen Wasserkreislauf könnte erwärmtes Wasser aus dem darunter liegenden Gebäude durch die Retentionsschicht des Gründachs geleitet, dabei abgekühlt, wieder ins Gebäude geführt werden und somit eine konventionelle Klimaanlage ersetzen.
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Doch was sagt das geltende Recht?

Der Ausbau blau-grüner Infrastrukturen kann auf rechtliche Probleme stoßen, die etwa die Anforderungen an den Überschwemmungs- und Umweltschutz, die Sicherheit oberirdischer Anlagen, die Planung und Finanzierung sowie die Möglichkeiten der Durchsetzung gegenüber den Eigentümern und Investoren betreffen, sollten diese nicht freiwillig zum Bau etwa von Gründächern oder Versickerungsanlagen bereit sein. Der Umweltrechtler Dr. Moritz Reese untersucht deswegen in dem Projekt, wie diese Fragen nach geltendem Recht beantwortet werden können und in welchen Bereichen das Recht geändert werden sollte, damit es die Entwicklung einer blau-grünen Infrastruktur nicht unnötig behindert. "Was vor allem fehlt, ist eine zukunftsweisende, gesetzlich geregelte Fachplanung zur Abwasserinfrastruktur, die die Kommunen verpflichtet, integrierte blau-grüne Konzepte in Abstimmung mit relevanten Ressorts der Stadtplanung und unter Beteiligung der Bürger zu entwickeln und formal zu beschließen", sagt er. Ohne eine abgestimmte und bindende Planung könne die grundlegende Transformation zu dezentralen Infrastrukturen nicht gelingen und die Widerstände von Eigentümern und Investoren nicht überwunden werden.

Hinzu kommen rechtliche Unsicherheiten im Hinblick auf die Anforderungen insbesondere der Überschwemmungs- und Verkehrssicherheit. "Zum Überschwemmungsschutz haben Verbände wie die Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA) technische Standards festgelegt, die stark auf eine kanalbasierte, zentrale Ableitung zugeschnitten sind und die Fragen aufwerfen, wenn eine solche Ableitung durch dezentrale Maßnahmen ersetzt werden soll", sagt Reese. Ein anderes Beispiel betrifft die Sicherheit von Retentionsspeicherflächen, die multifunktional als Grün- oder Verkehrsflächen genutzt werden sollen: Unklar ist dann oftmals die Verkehrssicherungspflicht und die Haftung bei Sach- oder Personenschäden. "Wenn höchste Sicherheit beispielsweise dadurch gefordert wird, dass Kinder durch einen hohen Zaun ferngehalten werden müssen, bedeutet dies in der Regel das Aus für die multifunktionalen Lösungen", betont er. Deshalb komme es darauf an, einen Ausgleich zwischen dem Sicherheitsinteresse und den Erfordernissen einer stadtökologischen Infrastrukturentwicklung zu finden. Wie diese Interessen zu gewichten sind, ist allerdings keine technische, sondern in erster Linie eine politische Frage, die nicht durch eine unverbindliche private Normung beantwortet werden sollte, sondern durch Gesetzgebung. Umweltrechtler Reese sieht deswegen den Gesetzgeber in der Pflicht. "Zur Niederschlagsbewirtschaftung braucht es spezifischere gesetzliche Standards im Wasser- und im Baurecht, die die großen Potenziale und Risiken von dezentralen Lösungen mit adressieren. Bund und Länder sind hierzu gleichermaßen gefragt."


Praxis setzt auf Forschung

Von den wissenschaftlichen Erkenntnissen versprechen sich die Praktiker einiges für "Leipzig 416". Die Stadt Leipzig beispielsweise sieht sich als Nutznießer der Forschung: "Wir können unsere Bedarfe und unsere stadtplanerischen Vorgaben einbringen und profitieren zugleich von den Forschungsergebnissen", sagt Heinrich Neu, Leiter des Stadtplanungsamts Leipzig. Mehr Wissen erhofft er sich zum Beispiel bei der Frage, wie viel Wasser von einem Gründach abfließt oder unter welchen juristischen Voraussetzungen ein solches Dach überhaupt gebaut werden darf. Für den Amtsleiter soll der Eutritzscher Freiladebahnhof das erste blau-grüne Stadtquartier in Leipzig werden, das ohne den Abfluss von Niederschlagswasser in die städtische Kanalisation auskommt. Allerdings lässt Heinrich Neu nicht unerwähnt, dass die Stadt bei diesem Leuchtturmprojekt auch ins Risiko geht. "So ist noch unklar, ob ein Rigolensystem unter einer Straße zu 100 Prozent funktioniert oder nach wie vielen Jahren es gereinigt werden muss. Trotzdem wollen wir diesen Weg mitgehen, da der Stand der Technik schon so weit ist und wir Methoden anwenden können, die bislang im Städtebau noch nicht zum Einsatz kamen", sagt er. Ludger Wälken, Geschäftsführer der Leipzig 416 Management GmbH, sieht es ähnlich und bewertet vor allem die lange Laufzeit des Forschungsprojekts sehr positiv: "So haben wir die Möglichkeit, von experimentellen Phasen in die Umsetzungsphasen zu kommen. Das ist wichtig für uns, denn vieles, was wir hier machen, ist absolut neu."

Auch das Umweltbundesamt (UBA) will mit den neuen Ansätzen zum dezentralen Wassermanagement aus dem Projekt "Leipziger BlauGrün" arbeiten. "Wir wollen überprüfen, inwiefern die neuen Lösungen zu abflussfreien Quartieren wirklich besser und nachhaltiger sind als die bisherigen Modelle", sagt Claus Gerhard Bannick, der am UBA das Fachgebiet Abwassertechnikforschung/Abwasserentsorgung leitet. Dafür hat das UBA ein neues Tool einer vereinfachten Umweltbewertung entwickelt, das Bannicks Team im Bereich Abwasser erstmals anwenden will. Dabei sollen zum Beispiel die Vor- und Nachteile dezentraler blau-grüner Infrastrukturen anhand verschiedener Parameter wie etwa dem Ressourcen- und Energieverbrauch bewertet und verglichen werden. "Ziel ist, anhand dieser Bewertung auch Handlungsempfehlungen für andere Städte geben zu können, die ähnliche Vorhaben planen", sagt Bannick. Städte könnten daraus lernen, dass man nicht immer 08/15-Lösungen anwenden müsse, sondern dass es sich Iohne, gemeinsam mit Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung innovative Ansätze zu entwickeln. "Angesichts des Klimawandels können tradierte Konzepte nicht mehr erfolgreich sein", ist er überzeugt.

Prof. Dr. Roland A. Müller
Leiter des Departments Umwelt-
und Biotechnologisches Zentrum


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Julie Fausser setzt auf dem Sumpfpflanzendach des UFZ im Frühhng neue Pflanzenarten wie den Gewöhnlichen Wasserdost (Eupatorium cannabinum). Forscherinnen und Forscher wollen dort beispielsweise die Wuchsleistung, die Reproduktion und die Ausbreitungsfähigkeit von Pflanzen untersuchen und die Vegetationsentwicklung analysieren.

- Unweit des Leipziger Stadtzentrums entsteht in den nächsten Jahren ein neues Stadtquartier. Wo derzeit noch Bagger und LKW-Kipper mit Erdarbeiten beschäftigt sind, sollen schon bald rund 2.100 Wohnungen, Schulen, Kitas und kulturell-soziale Einrichtungen gebaut werden. Im Jahr 2023 sollen die Bauarbeiten beginnen.

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Quelle:
Umwelt Perspektiven / Der UFZ-Newsletter - Juni 2021, Seite 4-11
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Permoserstraße 15, 04318 Leipzig
Tel.: 0341/235-1269
E-mail: info@ufz.de
Internet: www.ufz.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 7. Dezember 2021

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