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VERKEHR/1077: Kostenloser Nahverkehr - Ein Ausweg aus der Autostadt? (ROBIN WOOD magazin)


ROBIN WOOD magazin - Nr. 130/3.2016

verkehr

Kostenloser Nahverkehr - Ein Ausweg aus der Autostadt?

von Helge Groß und Alexander Valerius
Regionalgruppe Berlin


In der letzten Ausgabe des ROBIN WOOD-Magazins haben wir über die Autostadt Berlin geschrieben und gezeigt, wie der klimaschädliche Autoverkehr auch zu Lasten von Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität aller Menschen in der Stadt geht. Viele Fahrten mit dem Auto könnten problemlos mit anderen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Eine echte Alternative wäre ein besserer öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), der aber in Berlin auf sich warten lässt. Nachdem die S-Bahn zur kurzfristigen Erhöhung ihrer Profite jahrelang auf Verschleiß gefahren wurde, ist ihr Betrieb 2009 mehrfach spektakulär kollabiert. Bis heute hat sie sich nicht ganz davon erholt, was sich vor allen in den schweren Einschränkungen des S-Bahn-Verkehrs zeigt, mit denen die Fahrgäste seitdem fast jeden Winter leben müssen. Parallel dazu wurden die Fahrpreise immer weiter erhöht, und die S-Bahn macht heute wieder Millionengewinne.

Angesichts dieser nicht nur lokalen Missstände wird seit Jahrzehnten immer wieder ein kostenloser ÖPNV gefordert. Mittlerweile gibt es auf fast allen Kontinenten Städte, die dieses Konzept zumindest teilweise umsetzen. Die Internetseite [1] https://farefreepublictransport.com/ zählt knapp einhundert Fälle, bezieht aber auch Städte ein, in denen der Nahverkehr z.B. nur für Senioren*innen gratis ist oder solche Versuche wieder eingestellt wurden. Obwohl wissenschaftlich nur lückenhaft begleitet, lassen sich an drei besonders weitreichenden Versuchen in europäischen Städten Chancen und Probleme zumindest erahnen:

In Templin, einem Kurort nördlich von Berlin mit 16.000 Einwohner*innen, war von 1998 bis 2003 das Busfahren kostenlos und wurde durch Kurtaxe und Parkgebühren querfinanziert. Die Anzahl der Fahrgäste explodierte förmlich von etwas mehr als 40.000 auf über 600.000. Gleichzeitig ging der Autoverkehr zurück, allerdings nicht in dem Umfang, wie von der Stadt erhofft. Unter den neu hinzugekommenen Fahrgästen machten Autofahrer*innen die kleinste Gruppe aus, deutlich mehr waren vorher per Rad oder zu Fuß unterwegs gewesen. Der Versuch endete, als die kleine Kommune die Kosten für den ÖPNV nicht mehr tragen konnte. Das Folgeprojekt einer stark subventionierten "Jahreskurkarte" wird nur von etwa vier Prozent der Einwohner* innen in Anspruch genommen.

In der knapp 70.000 Einwohner*innen zählenden Stadt Hasselt im Osten Belgiens entschied man sich 1997 gegen eine geplante Umgehungsstraße und für einen kostenlosen Nahverkehr und Ausbau des Busnetzes. Die Effekte waren ähnlich wie in Templin: Die Fahrgastzahlen verdreizehnfachten sich, der Anteil der umgestiegenen Autofahrer*innen war hier zwar höher, wurde aber von den zusammengerechneten Umstiegen von Fußgänger*innen und Radfahrer*innen übertroffen. Dennoch nahm der PKW-Verkehr spürbar ab. Durch den rückläufigen Autoverkehr sanken die Einnahmen aus den zur Finanzierung der Busse stark erhöhten Parkgebühren; im Jahr 2000 stellte die Provinz Flandern die Bezuschussung des ÖPNV ein. 2012 kam eine konservative Stadtregierung an die Macht, die ab 2013 die kostenlose Nutzung des ÖPNV nicht mehr finanzierte. Allerdings fahren Senior*innen und unter 18-Jährige weiterhin gratis.

In der 430.000 Einwohner*innen zählenden estnischen Hauptstadt Tallinn wurde nach einer Volksabstimmung 2013 ein kostenloser ÖPNV eingeführt. Parallel wurde die Verkehrslenkung zum Vorteil der Busse geändert und der Nahverkehr ausgebaut. Die Kosten werden vor allem dadurch gedeckt, dass mehr Menschen ihren Erstwohnsitz in die Stadt verlegen, wodurch sich die staatlichen Zuwendungen an die Kommune erhöhen. Der Fahrgastzuwachs scheint moderat zu bleiben, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass schon zuvor über ein Drittel der Einwohner*innen vom Fahrpreis befreit war.

Was lässt sich daraus lernen? Zum einen, dass Kommunen mit den Kosten für einen kostenlosen ÖPNV mittelfristig überfordert sind, wenn die gewünschten Anstiege der Fahrgastzahlen tatsächlich eintreten, aber keine ausreichenden neuen Einnahmequellen zur Verfügung stehen. Für dieses Problem werden meist drei Lösungsmodelle diskutiert:

1. Die erste Variante sieht eine einheitliche Abgabe pro Kopf vor, wie sie Student*innen bereits heute für das Semesterticket zahlen. Wie alle einheitlichen Pro-Kopf-Abgaben, die sich nicht an den sehr unterschiedlichen Einkommen orientieren, ist ein solches Modell hochgradig unsozial und würde ökologische Fortschritte konterkarieren.

2. Die Pro-Kopf-Abgabe lässt sich aber modifizieren, indem bestimmte Gruppen von ihr befreit werden (z.B. Jugendliche, Rentner*innen, Arbeitslose) und dafür Personen mit hohen Einkommen mehr zahlen. Wie sozial ein solches Modell wäre, hängt sehr von der Ausgestaltung der Details ab und kann daher nur im Einzelfall sinnvoll diskutiert werden.

3. Die wohl interessanteste Möglichkeit wäre, jene Gruppen zur Kasse zu bitten, die indirekt vom ÖPNV profitieren. Das wären etwa Grundbesitzer*innen (die ja auch die Erschließungskosten für andere Infrastrukturen mittragen), Unternehmen, Einzelhandel und Tourismus. Im Bereich des kostenpflichtigen ÖPNV gibt es dazu bereits einige Erfahrungen und Modelle:

  • In Frankreich wurde 1971 die "Versement transport" eingeführt. Mit dieser kommunalen Abgabe, die von Unternehmen mit mehr als neun Beschäftigten zu zahlen ist, wird in fast allen größeren Städten der ÖPNV finanziert. Die Höhe der Abgabe ist von der Lohnsumme, aber auch von der Größe des Ballungsraums und dem Umfang des ÖPNV-Angebots abhängig. Im Pariser Raum müssen sich die Unternehmen zusätzlich zu 50 Prozent an den Monatskarten ihrer Beschäftigten beteiligen.
  • In Wien existiert mit der "Dienstgeberabgabe" seit 1970 eine ähnliche Steuer. Hier müssen die Unternehmen einen festen Betrag pro Arbeitsplatz zahlen.
  • Der Verkehrsclub Deutschland spricht sich auf Grundlage einer Studie von 2014 dafür aus, die indirekten Nutznießer über die Grundsteuer an der Finanzierung des ÖPNV zu beteiligen. Als Argument wird unter anderem genannt, dass so der private Flächenverbrauch als Kriterium einbezogen werden kann. Daneben soll aber an dem Fahrscheinsystem festgehalten werden.
  • In einer von der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus in Auftrag gegebenen Studie von 2015 wird die Beteiligung der indirekten Profiteure in Kombination mit den Modellen 1 oder 2 zur Finanzierung eines fahrscheinlosen ÖPNV diskutiert.

Kostenlosen ÖPNV ganz oder größtenteils durch die indirekt profitierenden, besitzenden Gruppen zu finanzieren, wäre unter sozialen Gesichtspunkten am konsequentesten, stößt im Kapitalismus aber auch an Grenzen. Da Städte und Länder als Standorte in Konkurrenz zueinander stehen, könnten sich Unternehmen entscheiden wegzuziehen, wenn solche Abgaben nicht flächendeckend erhoben werden und andere Standortvorteile nicht überwiegen sollten. Eine flächendeckende Abgabe ginge erst recht zu Lasten der Profite und würde daher über die Preise weitergegeben werden oder die im Kapitalismus eh bestehende Gefahr von Wirtschaftskrisen aufgrund ausbleibender Profite (geringfügig) erhöhen.

Die durch die Einführung kostenlosen Nahverkehrs drastisch ansteigenden Fahrgastzahlen führen nicht nur zu höheren Kosten auf Seiten der Kommunen, sondern werden oft auch als ein Problem für sich verstanden. Hier lässt sich mit Recht fragen, ob das tatsächlich so ist. Schließlich ist eine verstärkte Nutzung des ÖPNV ja gerade das Ziel. In Templin und Hasselt wurden auf diesen Weg erfolgreich PKW-Kilometer eingespart. Es gibt aber zwei Gegenargumente, die sich nicht einfach von der Hand weisen lassen: Die Abwanderung vom Fuß- und Fahrradverkehr zum ÖPNV und das Anwachsen unnötiger Verkehrsströme. Aus ersterem lässt sich lernen, dass die Einführung eines kostenlosen ÖPNVs in eine Verkehrspolitik eingebettet werden müsste, die Fuß- und Radverkehr massiv und auf Kosten des PKW fördert. Komplizierter ist es mit dem Vorwurf, der kostenlose ÖPNV würde massenhaft für unnütze Wege genutzt. Hier lässt sich einwenden, dass es statistisch schwierig möglich ist zu definieren, welche Wege überflüssig sind. Und schließlich werden unnötige Wege genauso mit dem Auto zurückgelegt.

Hinter dem starken Anwachsen der Verkehrsströme steht letztlich ein anderes Problem, dass aber für technischen Aufwand und Machbarkeit eines kostenlosen ÖPNV wichtig ist. In den letzten hundert Jahren hat sich die Anzahl der Wege, die in der Stadt zurückgelegt werden, nicht wesentlich erhöht. Was drastisch zugenommen hat, ist die Anzahl der Kilometer, die dabei zurückgelegt werden müssen. Grund ist die räumliche Trennung von Wohnen, Arbeiten, Konsum und Erholung mit immer größere Entfernungen. Diese Entwicklung begann schon im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung, als die im Handwerk noch übliche Verbindung von Arbeit und Wohnen unter einem Dach verschwand und Bevölkerungszahl und Fläche der Städte explosionsartig zunahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem weiteren großen Entmischungsschub.

Dafür gibt es mehrere Gründe:

  • Für Bodenpreise ist die zahlungskräftigste Nachfrage ausschlaggebend. Das führt dazu, dass die Innenstädte immer mehr von Büros und Geschäften dominiert werden, während das Wohnen hier meist unerschwinglich ist.
  • Alle Arten mechanischer Fortbewegungsmittel, vor allem aber das Auto, haben die Distanz erhöht, die Stadtbewohner* innen zwischen Wohnung, Arbeitsplatz, Geschäften usw. zurücklegen können. Dadurch wurde der Radius der Stadt vergrößert. Entstehung und Wachstum von Vorstädten waren die Folge. Die sind wegen geringer Siedlungsdichte oft nur schwer durch den ÖPNV erschließbar.
  • Die nach dem Zweiten Weltkrieg wirksamen Dogmen der Architektur und Stadtplanung sahen dazu passend eine radikale räumliche Trennung der einzelnen Lebensbereiche vor, die durch ein entsprechendes Verkehrsnetz verbunden werden sollten. Gleichzeitig und im Widerspruch dazu warnten sie vor dem Autoverkehr als tödliche Gefahr für die Städter*innen und sahen die Vorteile kurzer Wege - aber diese Seite ihrer Konzepte kam sehr viel weniger zum Tragen.
  • Immer mehr Einkaufszentren entstanden auf der grünen Wiese und setzten durch Zentralisierung und niedrigere Mietkosten dem Einzelhandel in den Wohngebieten schwer zu.
  • Dadurch und durch das Wachstum der Vorstädte wurde die Distanz der Städter*innen zu Naherholungsgebieten immer größer.

Der Anstieg der in den Städten pro Person zurückgelegten Kilometer stagnierte erst Anfang dieses Jahrhunderts. Immer noch werden unsere Städte durch jene Raumstrukturen bestimmt, in denen wir gezwungen sind, durch individuelle Mobilität zu verbinden, was die Stadtplanung künstlich getrennt hat.

Eine auf Bodenpreise statt rationaler Planung beruhende Stadtentwicklung wurde erst durch die Verbreitung des Autos möglich und war gleichzeitig für die weitere Verbreitung des Autos verantwortlich. Zu glauben, die Raumstruktur der Autostadt mit ihren langen Wegen beibehalten und einfach den dominierenden Verkehrsträger wechseln zu können, wäre tatsächlich naiv. Eine Stadt der kurzen Wege, die den kostenlosen ÖPNV entscheidend entlasten könnte, wird es aber nicht geben, solange die Bodenpreise und daran geknüpfte Profitinteressen die Entwicklung der Stadt bestimmen. Die Auseinandersetzung um einen kostenlosen ÖPNV sollte daher als Teil des Engagements gegen die kapitalistische Stadt verstanden werden.



Auch zu diesem Artikel finden sich
Quellen und weiterführende Infos auf
www.robinwood.de/berlin

[1] https://farefreepublictransport.com/

*

Quelle:
ROBIN WOOD-Magazin Nr. 130/3.2016, Seite 22-23
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie
Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2016

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