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FORSCHUNG/549: Michael Braungart und das Cradle-to-Cradle-Konzept (UFZ-Newsletter)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Newsletter Oktober 2016

"Die Grenze unseres Planeten ist unsere Intelligenz"

Interview von Steffen Reichert mit Prof. Dr. Michael Braungart


Eine Welt ganz ohne Verschmutzung und Abfall - die kann sich Prof. Dr. Michael Braungart vorstellen. Ihr widmet der Chemiker und Verfahrenstechniker sein Forscherleben. Mit einem sehr unterhaltsamen Vortrag zu seinem Cradle-to-Cradle-Konzept begeisterte Michael Braungart seine Zuhörer am UFZ.

Seine Thesen und Beispiele eröffneten neue Sichtweisen, führten zu anregenden Diskussionen. "Durch intelligente Verschwendung zur Überflussgesellschaft" beschreibt ein Konzept, das Stoffkreisläufe in Bio- und Technosphäre schaffen will. Michael Braungart ist auch Praktiker, was die von ihm und seinem Team entwickelten schadstofffreien Produkte beweisen.


Herr Braungart, Sie propagieren eine Welt ohne Umweltverschmutzung und Abfall, weil Verbrauchsgüter gefahrlos aufgebraucht und Gebrauchsgüter endlos wiederverwertet werden können. Gab es für Sie als Chemiker für diese Vision so etwas wie eine Initialzündung, ein einschneidendes Erlebnis?

Die Denkweise ist zu kurz gegriffen. Denn ich denke vor allem an eine Welt, die nützlich ist. Die alle Materialien entweder in technischen Kreisläufen führt - der Technosphäre. Oder in biologischen Kreisläufen - der Biosphäre. Alles ist Nährstoff für die Techno- und die Biosphäre. Darum gäbe es keinen Abfall. Der Unterschied zwischen den Ameisen und uns ist, dass wir Abfall machen. Die Biomasse der Ameisen ist vergleichsweise etwa vier Mal höher als die der Menschen. Aber die Ameisen machen keinen Müll. Es gilt darum, alles noch mal neu zu erfinden.

Das menschliche Leben ist aber komplexer als das der Ameisen!

Warum wollen wir dümmer sein als die Ameisen? Natürlich wollen wir nicht nur so vor uns hin leben, wir wollen auch Fernseher und Waschmaschinen haben. Aber: Ich verbrauche ja keinen Fernseher und keine Waschmaschine - ich nutze sie nur. Also sind das Gegenstände, die beliebig oft in die Technosphäre zurückgehen müssen.

Für Sie ist Nachhaltigkeit kein Nutzungskonzept, nachgeschaltete Umwelttechnik die falsche Herangehensweise. Warum?

Nachhaltigkeit ist zuerst einmal langweilig: Echte Innovation kann nicht nachhaltig sein. Sonst wäre es ja keine. Die Dampfmaschine war nicht nachhaltig für die Pferdefuhrwerksbesitzer. Das Mobiltelefon war nicht nachhaltig für die Festnetzbetreiber.

Nachhaltigkeit war wichtig, um erst mal zu begreifen, welche Probleme man hat. Das ist aber heutzutage so eine Art Schuldmanagement. Eine Art religiöse Handlung, die uns sagt, wir müssen jetzt darüber nachdenken, nur das zu nutzen, was auch wieder nachwächst. Das ist aber eine Selbstverständlichkeit. Das ist kein Zukunftskonzept.

Was läuft also falsch?

Wir verstehen ja unter Umweltschutz, weniger kaputtzumachen. Schützt die Umwelt, macht weniger Müll, verbraucht weniger Wasser, Energie und sonst was. In der Logik hat aber die DDR die Umwelt besser geschützt. Denn das System war weniger effizient. Wenn sie vor 25 Jahren durch Mecklenburg-Vorpommern gefahren sind, ging ihnen das Herz auf. Die DDR konnte Feuchtgebiete nicht zerstören. Heute ist das eine Agrarsteppe. Die ganzen Tierarten sind weg, abgesehen von ein paar Sprengseln.

Zwar gab es lokal hohe Belastungen. Aber insgesamt waren die Bodenqualitäten im Osten viel besser als im Westen, weil man sich den Kunstdünger in der hohen Menge nicht leisten konnte. Heute sind die Böden kontaminiert, unter anderem mit Schwermetall und Radioaktivität.

Die Situation in Bitterfeld war wirklich gruselig. Aber die Allergien kommen jetzt, weil man sich jetzt die Konservierungsstoffe leisten kann oder die Additive in den Lebensmitteln, die waren vorher nicht da. Asthma war früher ein Fremdwort. Jetzt ist es die häufigste Kinderkrankheit. Warum? Weil man die Gebäude versiegelt, um sie "dicht" zu machen. Wenn man die falschen Dinge perfekt macht, sind sie nur perfekt falsch. Darum ist es erst mal wichtig zu fragen: Was ist gesunde Luft? In einem Gebäude ist die Luft drei bis acht Mal schlechter als schlechte Außenluft, weil die Teppiche, die Farben, die Klebstoffe und die Möbel nie für Innenräume gemacht worden sind. Der Fernseher ist auch nie für Innenräume gemacht werden. Er ist nur gebaut worden, damit er funktioniert. Wir haben jetzt den ersten Fernseher für Innenräume entwickelt, der gibt 30.000 Mal weniger Stoffe ab als die anderen. Und vor allem keine Schadstoffe. Die Zukunft sollte so aussehen: Der Fernseher ist nur eine Dienstleistung, man kauft nur die Nutzung des Geräts zum Beispiel für 8000 Stunden Betrieb. Dann kann man ihn über die Stromeinsparung finanzieren, weil er so viel Strom einspart, dass man den Fernseher praktisch gegen eine Schutzgebühr nutzen kann.

Sie kritisieren auch die moralische Intention von heutigem Umweltschutz. Warum?

Mir geht es nur um Qualität und Innovation. Ein Produkt, das Abfall verursacht, ist einfach nur schlechte Qualität. Wir müssen aufpassen, dass wir auf halbem Wege nicht stehenbleiben. Eine normale Broschüre enthält etwa 50 giftige Stoffe, die eine Kompostierung des Papiers nicht möglich machen, da wir den Kompost ja in der Landwirtschaft nutzen wollen. Wenn sie verbrannt wird, kann die Asche nicht in die Landwirtschaft. Vor 30 Jahren waren zum Beispiel in einem solchen Newsletter etwa 90 giftige Stoffe, heute sind es 50. Wo ist der Unterschied, ob ich 50- oder 90-mal erschossen werde?

Und Ihre Lösung ist?

Ich lege alle Zutaten fest, so dass man die Produkte auch essen, kompostieren oder verbrennen könnte.

Wenn ich die Digitalisierung mit der Umwelt zusammenführe und mit Dienstleistungskonzepten verbinde, dann wird ein Schuh draus. Ein Beispiel: Automobilhersteller haben mir stolz erzählt, dass sie Roboter gekauft haben für ihre Fabrik der Zukunft. Wenn sie die Roboter kaufen, haben sie die am Hals. Dabei wollen sie die doch nur nutzen. Im Westen haben wir immer das Eigentum zur Religion erklärt. Wenn ich einen Roboter besitze, dann zahle ich die Wartung, den Service. Wenn ich aber 100 Millionen Schweißpunkte kaufe, dann kriege ich genau diese Schweißpunkte zum günstigsten Preis.

Ihre Vorstellungen vom Cradle-to-Cradle gipfeln in der These: "Verschwendet, aber richtig". Vielen ist dieses Konzept geschlossener Stoffkreisläufe viel zu visionär und reine Science Fiction. Warum ist es das in ihren Augen gerade nicht?

Ich will auch nicht, dass ein Tisch die nächsten 5000 Jahre als Tisch verwendet wird. Das ist heute ein Tisch, morgen ein Autoteil, übermorgen ein Fenster. Das ist kein Kreislauf, sondern eine Technosphäre - also für Dienstleistungen. Die Biosphäre besteht für all das, was verschleißt. Vor 30 Jahren waren Reifen schneller kaputt, heute halten sie länger, aber der Staub liegt auf der Straße und wird eingeatmet. Oder Bremsbeläge - da steht drauf: Diese sind frei von Asbest. Ja toll, aber wir ersetzen es durch Antimonsulfid, das ist viel stärker krebserregend.

Stoffe müssen so gemacht werden, dass sie in biologische Systeme zurückkehren und dort nützlich sind. Darum ist eine Kultur der Großzügigkeit, der Verschwendung im positiven Sinne gefragt. Ein Kirschbaum im Frühling, der vermeidet oder reduziert auch nicht, aber alle Materialien des Baumes sind nützlich. Und so können wir es in der Technosphäre auch machen. Kupfer in biologischen Systemen ist giftig, in technischen Systemen kann es ohne Ende eingesetzt werden.

Sie sagen: Ökoeffektivität statt Ökoeffizienz. Was meinen Sie damit?

Schauen sie sich Blumen an. 50 Rosen für eine Frau sind völlig ineffizient, aber sehr effektiv. Die Natur ist nicht effizient, sie ist effektiv.

Ist Verzicht für Sie per se etwas Schlechtes?

Nein, es gibt durchaus Kulturen, wo Verzicht dazugehört. Zum Beispiel 40 Tage zu fasten kann nicht schaden. Aber das ist etwas Freiwilliges. Im Moment wird den Leuten immer mehr vorgeschrieben. Wir haben einen Planeten, der jede Menge Energieüberschuss hat - und das können wir durch viel intelligentere Materialien nutzen. Die Grenze unseres Planeten ist unsere Intelligenz.

Sehen Sie sich als Visionär oder sind sie schon weiter?

Ich bin zuerst einmal nicht Visionär, sondern Verfahrenstechniker und Chemiker. Ich zeige ja mit dem EPEA und seinen vielen Filialen weltweit schon, was geht. Dort entwickeln wir mit vielen Leuten viele Lösungen.

Da sind schöne Dinge entstanden. Wir haben jetzt perfekt kompostierbares Papier und kompostierbares Leder. Es "gibt inzwischen über 6.500 C2C-Produkte. Auch Staubsauger, Kaffeemaschinen und Fernseher. Vor allem die Leute in Asien verstehen, worum es geht. So arbeite ich mit Samsung zusammen. Aber ich möchte natürlich auch, dass andere Hausgerätehersteller wie Bosch und Siemens eine Zukunft haben. Wir können nicht nur das Museum für Indien und China werden. Wir haben eine Eiskremverpackung entwickelt, die sich bei Raumtemperaturen verflüssigt. Damit bin ich zu Unilever gegangen. Und die sagten: Bei uns nicht, wir haben jetzt 30 Jahre gebraucht, die Verpackung weniger schädlich zu machen. Ich sage: Weniger ist auch noch schädlich.

Im eigenen Land gilt der Prophet wenig?

In Deutschland steht uns die Romantisierung der Natur im Wege. Als Mutter Natur. Sie ist nicht Mutter Natur. Die am stärksten krebserregenden und giftigen Stoffe sind Naturstoffe. Die Natur braucht sie zur Anpassung des Genpools. Aber die Natur macht keine Chemikalien, die sich in Muttermilch anreichern. Ich nehme seit 28 Jahren Muttermilchproben, da gibt es keine einzige, die man als Trinkmilch verkaufen könnte. Manche Stoffe werden um das Hundertfache des Erlaubten überschritten. Die Natur ist unsere Lehrerin, nicht unsere Mutter!

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MICHAEL BRAUNGART

Prof. Dr. Michael Braungart, Jahrgang 1958, ist ein deutscher Chemiker, Verfahrenstechniker und Autor. Zusammen mit dem US-amerikanischen Architekten William McDonough entwickelte Braungart das Cradle-to-Cradle-Konzept (C2C / Von der Wiege zur Wiege), das auf Ökoeffektivität, geschlossene Stoff- und Materialkreisläufe und eine unbegrenzte Wiederverwertbarkeit von Produkten abzielt.

Braungart ist Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam, Geschäftsführer der Environmental Protection Encouragement Agency Internationale Umweltforschung GmbH in Hamburg (EPEA) und wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts. Sein bekanntestes Buch "Cradle to Cradle. Einfach intelligent produzieren." erschien 2005. Braungart ist mit der SPD-Politikerin Monika Griefahn verheiratet und hat drei Kinder.

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Die Helmholtz Environmental Lecture (HEL) ist eine öffentliche Veranstaltungsreihe des UFZ, in der seit 2009 herausragende Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu wichtigen ökologischen, sozio-ökonomischen und sozialen Fragen Stellung beziehen und sie dann mit dem Plenum - durchaus auch kontrovers - diskutieren. Dafür stehen auch die bisherigen Gastredner: Klaus Töpfer, Hans Joachim Schellnhuber, Achim Steiner, Jochen Flasbarth, Angelika Zahrnt, Frank Schirrmacher, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Ottmar Edenhofer, Stephan Kohler, Thilo Bode, Matthias Horx, Michael Braungart.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Am 23. Mai 2016 war der Chemiker und Verfahrenstechniker Michael Braungart als Referent der 12. Helmholtz Environmental Lecture (HEL) zu Gast im UFZ.

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Quelle:
UFZ-Newsletter Oktober 2016, Seite 8 - 9
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2016

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