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KATASTROPHEN/036: Japan - Kernschmelze in vermutlich drei Reaktoren (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / Gemeinsam gegen Atomenergie - Hintergrundinformation, 15. März 2011

Japan: Nach Explosion in AKW entweicht Radioaktivität

Kernschmelze in drei Reaktoren, Ausfall der Kühlsysteme in acht Reaktoren an drei Standorten. Erhöhte Strahlenwerte, zweifacher Atomalarm


+++ Japan: Dritte Explosion hat Sicherheitsbehälter von Block 2 beschädigt. Radioaktivität tritt aus. Strahlendosis am Reaktor gesundheitsschädlich, in Tokio erhöht. Regierung hält Kernschmelze in allen drei Havarie-Meilern für "höchstwahrscheinlich" und schließt Durchschmelzen des Kerns durch den Sicherheitsbehälter nicht mehr aus. Auch abgebrannte Brennelemente drohen zu überhitzen. Explosion und Feuer in Block 4. In fünf weiteren Reaktoren ist die Kühlung ebenfalls nicht sichergestellt. Verseuchtes Kühlwasser aus den überhitzten Reaktor fließt ungereinigt ins Meer. Mehr als 200.000 Menschen mussten wegen Strahlengefahr fliehen.

Letzte Aktualisierung: Di, 15.3.2011, 05:30 MEZ


In Folge eines Erdbebens im Pazifik mit nachfolgender Flutwelle fiel am Freitag (11. März 2011) in mehreren japanischen AKW rund 300 Kilometer nördlich von Tokio die Stromversorgung und zudem die Notstromversorgung aus, Teile der Anlagen wurden zerstört. Landesweit lösten die Erdstöße in zehn Reaktoren eine Reaktorschnellabschaltung aus, offensichtlich erfolgreich. Um eine Kernschmelze zu verhindern, müssen jedoch auch die abgeschalteten Reaktoren kontinuierlich weiter gekühlt werden. Wegen des station blackout war dies in einigen Reaktoren über Stunden nicht möglich. Japans Regierungschef Naoto Kan rief am Freitag (11.3.) erstmals in der Geschichte des Landes den nuklearen Notstand aus und spricht von "nie dagewesener Katastrophe".

Durch den Ausfall der Stromversorgung, der Notstromversorgung, der Kühl- und Notkühlsysteme stiegen Druck und Temperatur in jeweils drei Reaktorblöcken in den AKW Fukushima-Daiichi und Fukushima-Daini an. Zeitweise liefen die Notkühlsysteme, die den Reaktorkern und die im Brennelemente Becken lagernden Brennstäbe kühlen müssen, nur noch im Batteriebetrieb und mit Hilfe von Dampfpumpe Kernschmelze und Explosion im Block 1 des AKW Fukushima-Daiichi

Zwar gibt es nach Betrieberangaben inzwischen an beiden Standorten wieder Strom zum Betrieb von Pumpen und anderen Apparaten. Dies konnte den Beginn der Kernschmelze im Block 1 des AKW Fukushima-Daiichi aber offensichtlich nicht mehr verhindern. Darauf deutet das aus dem Reaktor ausgetretene radioaktive Cäsium-137 hin. Der Betreiber ließ radioaktiven Dampf ab, um den Druck im Reaktor zu senken. Zudem pumpte er Meerwasser in den Reaktordruckbehälter - eine allerletzte Notmaßnahme, die den Reaktor erstens unbrauchbar macht und zweitens die Bildung von explosivem Wasserstoff im Reaktordruckbehälter fördert.

Offenbar gelangte ein Teil dieses Wasserstoffs beim Ablassen des radioaktiven Dampfes in das Reaktorgebäude, wo er sich anschließend entzündete. Die erste Explosion [1] am Samstagmorgen (12.3., MEZ) zerstörte das Reaktorgebäude von Block 1. Nach Betreiberangaben wurde der im Gebäude befindliche Sicherheitsbehälter dabei aber nicht beschädigt.

Dennoch stieg die Strahlung in der Umgebung des AKW stark an. Am Samstagnachmittag (12.3., MEZ) lag sie bei über einem Millisievert pro Stunde, Sonntagfrüh (MEZ) bei 1,5 Millisievert pro Stunde. Am Montagmittag stieg sie nach weiteren Vorfällen in Block 2 auf 3 Millisievert pro Stunde. Die in Deutschland für die Bevölkerung zulässige Jahresdosis von 0,6 Millisievert wäre damit bereits nach 12 Minuten erreicht. Die Regierung erweiterte die Evakuierungszone um das AKW am Samstag auf 20 Kilometer und begann mit der Verteilung von Jodtabletten. Nach einem Bericht der New York Times (14.3.) maßen Hubschrauber der US-Armee, die Erdbebenopfer retten wollten, in 100 Kilometer Entfernung von AKW radioaktive Partikel; mehrere Soldaten wurden verstrahlt. Die Rettungseinsätze wurden daraufhin abgebrochen. Die US-Navy zog ihre Schiffe vor der japanischen Küste einschließlich des Flugzeugträgers aus dem Gebiet um Fukushima zurück, nachdem diese in eine radioaktive Wolke geraten waren.

Am Sonntagabend um 17 Uhr (MEZ) musste die Einspeisung von Meerwasser in den Reaktor unterbrochen werden, weil dafür benötigte Tanks leer waren. Der Betreiber bezeichnete die Situation im Reaktor als stabil. Kernschmelze und Explosion im Block 3 des AKW Fukushima-Daiichi

Auch im fast doppelt so großen Block 3 ist der Kern höchstwahrscheinlich nicht mehr intakt. In der Nacht zu Sonntag (MEZ) waren dort alle technischen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Kühlwasserstands im Reaktor ausgefallen. Bemühungen, das Notkühlsystem wieder in Betrieb zu setzen, scheiterten. Nach Angaben des Betreibers ragten die Brennstäbe zeitweise weit aus dem Kühlwasser heraus. Wie in Block 1 ließ der Betreiber radioaktiven Dampf ab, um den Druck im Reaktor zu senken, und pumpte anschließend Meerwasser hinein. Eine zumindest teilweise Kernschmelze konnte auch das höchstwahrscheinlich nicht verhindern.

Am Sonntagnachmittag um 17 Uhr musste die Einspeisung von Meerwasser für 1,5 Stunden unterbrochen werden, weil die Tanks leer waren. Daraufhin stieg der Druck im Reaktor und die Strahlenwerte außerhalb des AKW.

Am frühen Montagmorgen (14.3., MEZ) kam es auch in Block 3 zu einer Explosion [2], die das Reaktorgebäude zerstörte. Der Sicherheitsbehälter ist angeblich noch intakt. Die Explosion beschädigte aber das Kühlsystem von Block 2 sowie vier der fünf Feuerwehrpumpen [3], die Meerwasser in die Havariemeiler einspeisten.

Block 3 verfügte über eine elektrische Leistung von 760 Megawatt, fast doppelt so viel wie Block 1, entsprechend größer ist die Hitzeentwicklung des Kerns und die potenzielle Menge an Spaltprodukten, die er enthält. Der Reaktor wird zudem mit plutoniumhaltigem MOX-Brennstoff betrieben. Bei einer Explosion oder einem Leck des Sicherheitsbehälters könnten daher größere Mengen des extrem krebserregenden und giftigen Plutoniums freigesetzt werden.

Die japanische Atomaufsichtsbehörde NISA bestätigte auf Nachfrage, dass das zum Kühlen der drei außer Kontrolle geratenen Reaktoren genutzte radioaktiv verseuchte Wasser aus den Reaktordruckbehältern direkt ins Meer zurück geleitet wird.
Kernschmelze, Explosion mit Beschädigung des Sicherheitsbehälters und großer Freisetzung von Radioaktivität in Block 2 des AKW Fukushima-Daiichi

Am Montagmorgen (14.3., 7 Uhr MEZ) fiel auch in Block 2 die Kühlung des Reaktors aus. Die Kühlsysteme waren nach Angaben des Betreibers bei der Explosion in Block 3 beschädigt worden. Der Versuch, Meerwasser in den Reaktor zu pressen, scheiterte zunächst, weil der Druck im Innern zu hoch und kein Treibstoff für die Pumpen vorhanden war. Mehrere Pumpen waren zudem bei der Explosion in Block 3 beschädigt worden. Um den Druck im Reaktorblock 2 zu senken, ließ der Betreiber auch hier radioaktiven Dampf in die Umgebung ab.

Um 10.30 MEZ lagen die Brennstäbe nach Informationen des Betreibers zum ersten Mal komplett trocken. Erst gegen 13 Uhr gelang es kurzzeitig, Meerwasser in den Reaktor zu pumpen. Die Kernschmelze hatte zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich schon begonnen. Weil eine Dampföffnung verschlossen war, stieg der Druck im Reaktor jedoch wieder an. Erneut ließ sich kein Wasser in den Reaktor pumpen, um 15 Uhr MEZ fielen die Brennstäbe zum zweiten Mal trocken. Am Montagabend schloss die Regierung ein Durchschmelzen des Kerns durch den Sicherheitsbehälter nicht mehr aus. Eine Freisetzung riesiger Mengen radioaktiver Stoffe ließe sich dann kaum mehr verhindern.

Kurz nach 22 Uhr war eine Detonation in Block 2 zu hören. Die Explosion beschädigte den Sicherheitsbehälter im unteren Teil. Das Gros der Arbeiter wird evakuiert. Die Strahlenwerte steigen: Um 0:30 (Di, MEZ) liegen sie selbst 100 Kilometer südlich des Reaktors schon über den Grenzwerten, am AKW bekommt man um 4:00 Uhr MEZ innerhalb von einer Stunde die 400fache zulässige Jahresdosis ab - offiziell "gesundheitsschädlich".Die Regierung forderte die Anwohner im 30-Kilometer-Umkreis auf, im Haus zu bleiben.

Der Betreiber des AKW hatte nach dem Erdbeben zunächst wiederholt versichert, den Reaktor völlig unter Kontrolle zu haben. Explosion und Feuer in Block 4 des AKW Fukushima-Daiichi

Erhöhte Strahlung ist auch an Block 4 zu messen. Dieser war zum Zeitpunkt des Erdbebens wegen einer Revision eigentlich abgeschaltet. Nach Angaben der Regierung hat sich der in dem Block befindliche Kernbrennstoff dennoch so erwärmt, dass Wasserstoff freigesetzt wurde, der sich dann am frühen Dienstagmorgen (15.3.) entzündet habe. Die Explosion löste einen Brand aus, der mit Hilfe der US-Armee inzwischen gelöscht werden konnte.


Ungesicherte Kühlung des Atommülllagers im AKW Fukushima-Daiichi

Auch die Kühlung des Wasserbeckens, in dem die hochradioaktiven abgebrannten Brennelemente der sechs Reaktoren des AKW Fukushima-Daiichi lagern, ist nach Betreiberangaben (13.3., 6.00 Uhr MEZ) nicht gesichert. Überhitzen sich die Brennelemente, können hochradioaktive Spaltprodukte freigesetzt werden. Ausfall der Kühlung im AKW Fukushima-Daini

In weiteren vier Reaktoren des benachbarten AKW Fukushima-Daini ist noch offen, ob es gelingt, das Aufheizen des Reaktorkerns zu stoppen und damit eine Kernschmelze zu verhindern. Der Betreiber traf an allen vier Reaktoren bereits Vorbereitungen zum Ablassen radioaktiven Dampfes. Nach eigenen Angaben kämpft er an zwei der Reaktoren darum, die Kühlung aufrecht zu Die Regierung ordnete die Evakuierung im Umkreis von 10 Kilometern an. Ausfall der Kühlung im AKW Tokai

Am Sonntagnachmittag (13.3.) meldeten Nachrichtenagenturen, dass auch im AKW Tokai, 350 Kilometer südlich von Tokio, das Kühlsystem nur noch teilweise funktioniert.


Strahlenalarm beim AKW Onagawa

Im 450 Kilometer nördlich von Tokio liegenden AKW Onagawa brach nach dem Erdbeben am Freitag (11.3.) ein Feuer im Turbinengebäude aus. Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) konnte dieses nach einigen Stunden gelöscht werden. Dennoch stieg am Sonntag (13.3.) in der Umgebung des Reaktors die Radioaktivität auf das 400fache des normalen Wertes. Die Regierung rief daraufhin auch an diesem AKW-Standort Atomalarm aus, gab aber am Sonntagabend (MEZ) wieder Entwarnung: Die Strahlenwerte seien wieder gesunken, aus den drei Reaktoren in Onagawa trete keine Radioaktivität aus. Hunderttausende müssen fliehen

Insgesamt mussten bisher mehr als 210.000 Menschen ihre Wohnungen [4] verlassen. Bisher sind mindestens 190 Anwohner verstrahlt, Dutzende werden bereits im Krankenhaus behandelt. "Jeder will die Stadt verlassen, aber die Straßen sind einfach furchtbar", zitierte die Nachrichtenagentur dapd eine Frau: "Wir haben Angst, dass der Wind dreht und die Strahlung in unsere Richtung treibt." Das Auswärtige Amt empfahl insbesondere Familien mit Kindern die umgehende Ausreise aus der Region um Fukushima und dem Großraum um die Großstädte Tokio und Yokohama.


Ausfall der Kühlung in der WAA Rokkasho

Auch in der atomaren Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho ist am Freitag (11.3.) die Stromversorgung der Kühlung ausgefallen. Die Anlage wurde zunächst mit Notstrom gekühlt. Das Japanische Atom-Informationsforum (JAIF) wies darauf hin, dass die Notgeneratoren allerdings nicht darauf ausgelegt seien, langfristig zu laufen. In der Anlage liegen rund 3.000 Tonnen hochradioaktiver abgebrannter Brennstoff, die sich ohne Kühlung selbst entzünden können.


[1] http://www.tagesschau.de/multimedia/video/ondemand100_id-video874650.html
[2] http://www.tagesschau.de/multimedia/video/ondemand100_id-video875986.html
[3] http://english.kyodonews.jp/news/2011/03/77846.html
[4] http://www.spiegel.de/video/video-1114961.html


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Quelle:
Hintergrundinformation, 15. März 2011, 15.30 Uhr
http://www.ausgestrahlt.de/hintergrundinfos/akw-fukushima/artikel/48e6ecfdf5/japan-kernschmelze-in-vermutlich-zw.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2011