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CHEMIE/058: Das Menschenrecht auf eine giftfreie Umwelt (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2019 Die Geister, die wir riefen
Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt - Zeit zu handeln!

Das Menschenrecht auf eine giftfreie Umwelt
Die am stärksten marginalisierten Menschen zahlen den höchsten Preis für chemische Verschmutzung

von Sascha Gabizon


Jedes Jahr erkranken oder sterben weltweit Millionen von Menschen durch Umweltverschmutzung. Bereits 1992 wurde die Rio-Deklaration verabschiedet, in der das Recht auf nachhaltige Entwicklung verankert ist und mit der sich die Regierungen verpflichtet haben, das Vorsorgeprinzip anzuwenden und die VerursacherInnen finanziell für die verursachten Schäden verantwortlich zu machen. Jedoch scheinen wir uns immer weiter von diesen Verpflichtungen zu entfernen. Die am stärksten marginalisierten Menschen zahlen den höchsten Preis für chemische Verschmutzung, die sie nicht verursacht haben. Die globalen Chemieübereinkommen und der Strategische Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement (Strategic Approach to International Chemicals Management, SAICM) zielen darauf ab, die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor Chemikalien und Abfällen zu schützen, haben aber nicht den erforderlichen Wandel hervorgebracht, sodass nun rechtliche Maßnahmen erforderlich sind.


Der neueste Global Chemicals Outlook (GCO II) der Vereinten Nationen offenbart erschreckende Zahlen. Der Einsatz von Chemikalien und das Abfallaufkommen nehmen stark zu. Für das Jahr 2018 wurde die Gesamtzahl der im Handel erhältlichen Industriechemikalien weltweit auf 40.000 bis 60.000 geschätzt. Rund 62 Prozent der in Europa im Jahr 2016 verbrauchten Chemikalien werden als gesundheitsschädigend eingestuft.(1)

Die Lancet-Kommission für Umweltverschmutzung und Gesundheit identifiziert chemische Verschmutzung als einen bedeutenden und "fast sicher unterschätzten" Beitrag zur globalen Krankheitslast. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass 2016 durch eine Reduzierung der Chemikalien 1,6 Millionen Menschenleben und 45 Millionen DALY (disability-adjusted life years) hätten gerettet werden können. Chemikalien sind unter anderem in verschmutzter Luft zu finden, zum Beispiel durch die Verbrennung von Kunststoffen und anderen Abfällen, die allein für schätzungsweise bis zu sieben Millionen Todesfälle pro Jahr verantwortlich sind. Diese Schätzungen dürften viel zu niedrig sein, da sie nur auf Expositionen gegenüber Chemikalien beruhen, für die zuverlässige globale Daten vorliegen.(2)

Umweltungerechtigkeit, für die die TäterInnen nicht zur Verantwortung gezogen werden

Der Sonderberichterstatter zu Auswirkungen von Umweltverschmutzung auf die Menschenrechte des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen (UNHRC) berichtet, dass Krebs inzwischen weltweit zu den häufigsten Ursachen für Morbidität und Mortalität gehört, mit etwa 17 Millionen neuen Krebserkrankungen jährlich.(3) Die Inzidenz von Krebs im Kindesalter hat in Zeiten des raschen Anstiegs des Einsatzes von Industriechemikalien zugenommen und lässt sich nicht allein durch Genetik oder Lebensstil erklären. Die WHO schätzt, dass im Jahr 2012 über 1.700.000 Kinder unter fünf Jahren an Umweltfaktoren wie Luft- und Wasserverschmutzung starben. Diese Faktoren verursachten also 26 Prozent der Todesfälle in dieser Altersgruppe. Kinder aus einkommensschwachen Vierteln in Entwicklungsländern, die auf und in der Nähe von Mülldeponien leben, sind am stärksten gefährdet und durch die Verbrennung von Abfällen und Lebensmitteln oft extrem hohen Chemikalienkonzentrationen ausgesetzt.(4) Der UNHRC berichtet, dass in La Chureca in Managua, Nicaragua, etwa die Hälfte aller AbfallsammlerInnen weniger als 18 Jahre alt war. So stellen sich Fragen nach Umweltrassismus und Umweltungerechtigkeit, welche die Menschenwürde, Gleichheit und Nichtdiskriminierung untergraben. Dieser Angriff auf die Rechte des Kindes ist weitgehend unsichtbar, sodass sich die TäterInnen - einschließlich europäischer Unternehmen und Regierungen - der Verantwortung entziehen können. Zunehmend versucht die Gesetzgebung, Rechenschaftsrahmen zu schaffen, und bereits rund 100 Länder haben in ihren Verfassungen oder anderen Gesetzen das Konzept eines Menschenrechts auf eine gesunde Umwelt verankert.

Während die wirtschaftlichen Kosten der Umweltverschmutzung stark ansteigen, werden Unternehmen nicht zur Verantwortung gezogen

Nach Angaben des UNHRC werden die von Regierungen und der Öffentlichkeit getragenen wirtschaftlichen Kosten - die von den Unternehmen weitgehend ausgelagert werden - auf Hunderte von Milliarden bis zu Billionen von US-Dollar geschätzt. Allein der Einsatz von Blei in Farben wird für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau auf fast eine Billion US-Dollar geschätzt. In Lebensmitteln, Kosmetika und anderen Quellen gefundene Chemikalien, die das Hormonsystem beeinflussen, kosten die EU schätzungsweise über 100 Milliarden Euro pro Jahr. Für Entwicklungsländer liegen nur unzureichende Daten vor.(5)

Unternehmen tragen eine Verantwortung für von ihnen produzierten Müll oder Produkte, die zu Abfall werden. Oftmals schützen Industrien, die Verschmutzungen produzieren, eher ihre Gewinnspannen als die Menschenrechte der betroffenen ArbeiterInnen und Gemeinschaften. Der Bericht des UNHRC nennt Beispiele, wie den symbolischen Fall des illegalen Abladens von Giftmüll in der Elfenbeinküste durch Trafigura, welcher mindestens 17 Menschen tötete und zur Erkrankung von mehr als 100.000 Menschen führte. Das volle Ausmaß der Kontamination in und um Abidjan ist noch immer unbekannt.

Die Opfer tragen die tatsächlichen Kosten der durch Unternehmen verursachten Verschmutzung

Einige Klagen erhalten viel Aufmerksamkeit, wie zum Beispiel die der Opfer von Monsantos Glyphosathaltigem Pestizid Roundup. Aber die überwiegende Mehrheit der Opfer hat keine Chance auf Gerechtigkeit, sie werden nie entschädigt. Der UNHRC stellt fest, dass sich die Angelegenheit auch in Fällen, in denen eindeutig gegen Rechte verstoßen wurde und die relevanten Unternehmen oder andere AkteurInnen ermittelt wurden, weltweit schwierig gestaltet: Es fehlen wirksame Rechtsmittel und die Unternehmen, die Schäden durch giftige Chemikalien oder Verschmutzung verursacht haben, werden nicht zur Verantwortung gezogen. Die Beweislast liegt beim Opfer ebenso wie die Ermittlung der Ursache. Auch die Prozesskosten für den KlägerInnen und die endlosen Berufungsverfahren führen meist dazu, dass die Opfer vor der Schließung ihres Falles verstorben sind. Die Opfer zahlen mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben, während die VerursacherInnen ihre Gewinne weiter steigern, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Es gibt mehrere Schritte, die die politischen EntscheidungsträgerInnen ergreifen können und sollten, um die Menschen zu schützen, den Opfern Zugang zur Justiz zu gewähren, die BürgerInnen und die Umwelt zu schützen und die wirtschaftlichen Kosten der Chemikalienverschmutzung zu internalisieren. Sie sollten:

1. die vom UN-Sonderberichterstatter zu Auswirkungen von Umweltverschmutzung auf die Menschenrechte empfohlenen 15 Grundsätze der umweltgerechten Bewirtschaftung und Beseitigung gefährlicher Stoffe und Abfälle vollständig umsetzen;

2. die entsprechenden Gesetze verschärfen, um sicherzustellen, dass die Kreislaufwirtschaft nicht auf ein kontinuierliches Recyceln von Giftstoffen hinausläuft, sondern alle Gruppen von Chemikalien ausschließt, die persistent, bioakkumulierbar, hormonstörend, für Bienen und andere Insekten gefährlich und potenziell schädlich für die menschliche Gesundheit sind;

3. uneingeschränkt für Verstöße gegen internationale Übereinkommen über Elektroschrott und andere gefährliche Abfälle, die ihre Länder verlassen, verantwortlich sein und die Abfälle zur sicheren Entsorgung zurückführen;

4. die Schaffung von Fonds zu unterstützen, die den Entwicklungsländern Zuschüsse für die sofortige Stilllegung und Sanierung von Deponien und Altlasten gewähren;

5. die Annahme eines Vertrags über das sofortige Verbot aller hochgefährlichen Chemikalien sowie den Ausstieg aus der Verwendung von Glyphosat unterstützen und den Übergang zur Agrarökologie fördern;

6. die Zivilgesellschaft bei der Erreichung des Menschenrechts auf eine giftfreie Umwelt unterstützen - auch unter Berücksichtigung von politischen Freiheitsrechten und Aspekten der Geschlechtergleichstellung;

7. die Annahme eines verbindlichen globalen Instruments zum Thema Unternehmen und Menschenrechte unterstützen und sicherstellen, dass dieses besonderen Fokus auf transnationale Unternehmen legt.


Die Autorin ist Exekutivdirektorin des internationalen Netzwerks WECF.

Aus dem Englischen von Lina Gerstmeyer.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.


Anmerkungen

(1) UNEP (2019): Global Chemicals Outlook II, Nairobi.
https://www.unenvironment.org/resources/report/global-chemicals-outlook-ii-legacies-innovative-solutions
und Europäische Umweltagentur (2018): Consumption of hazardous chemicals. Kopenhagen.
https://www.eea.europa.eu/airs/2018/environment-and-health/production-of-hazardous-chemicals.

(2) Philip J. Landrigan/Richard Fuller/Nereus Acosta (2018): The Lancet Commission on Pollution and Health. In: The Lancet 391 (10119), S. 462-512.
https://doi.org/10.1016/S0140-6736(17)32345-0
und WHO (2018): The public health impact of chemicals: knowns and unknowns: data addendum for 2016. Nairobi.
https://apps.who.int/iris/handle/10665/279001.

(3) UNHRC (2018): Report of the Special Rapporteur on the implications for human rights of the environmentally sound management and disposal of hazardous substances and wastes. Genf.
http://www.srtoxics.org/wp-content/uploads/2018/09/2018-HRC-report-on-Workers-Rights-EN.pdf.

(4) WECF (2017): Gender Dimensions of Hazardous Chemicals and Waste Policies under the Basel, Rotterdam and Stockholm Conventions. Case Studies Indonesia and Nigeria.
https://www.wecf.org/gender-dimensions-of-hazardous-chemicals/.

(5) https://echa.europa.eu/documents/10162/22816069/leonardo_trasande_en.pdf/984e8082-1ec4-4c29-9d82-74a79a1e81bb.

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Quelle:
Rundbrief 4/2019, Seite 18 - 19
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2020

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