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EU/032: Der Abstieg der EU-Umweltpolitik unter José Manuel Barroso (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2014
REGulIEREN - ABER WIE?
Vom Sinn und Unsinn der (De-)Regulierung

Vom Green New Deal bis REFIT
Der Abstieg der europäischen Umweltpolitik unter José Manuel Barroso

Von Konstantin Kreiser



Im Jahr 2008 verkündete der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso mit den EU-Klima- und Energiezielen für 2020 habe man einen "Green New Deal" erreicht, der die Wettbewerbsfähigkeit Europas verbessern würde.(1) Im Jahr zuvor hatte er geschrieben: "Die biologische Vielfalt ist entscheidend für Wohlstand und Lebensqualität der EU-Bürger".(2) Doch inzwischen ist klar: Mit seinen Deregulierungsinitiativen hat der scheidende Kommissionspräsident die weltweit bewunderte EU-Umweltpolitik ins Stocken gebracht. Sein Nachfolger Jean-Claude Juncker muss umsteuern.


Vor allem in seiner zweiten Amtszeit hat Barroso systematisch umweltpolitische Vorhaben gebremst. Der Präsident ließ eine Fülle von Umweltvorhaben beerdigen, darunter die geplante Bodenschutzrichtlinie, die Richtlinie zum Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten oder Nachhaltigkeitskriterien für Biomasse. Eine von Umweltkommissar Janez Potocnik geplante Richtlinie zur besseren Kontrolle von Umweltvorschriften blockiert er. Stattdessen unterstützt er nach Kräften das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) - und gibt den entschlossenen Deregulierer.

Deregulierung in Brüssel als populistischer Ausweg für hilflose Regierungen?

Die Schockwellen der Euro- und Wirtschaftskrise verursachen bei vielen europäischen Politikern nach wie vor Ratlosigkeit. Gerade erst entwickelte Ansätze Wohlstand und Wachstum neu und nachhaltig zu denken, verschwinden wieder in der Schublade. Regierungen aller Couleur kehren zurück zur Wirtschaftspolitik alter Schule: schnelles Wachstum ohne Rücksicht auf Natur und Klima. Umweltgesetze stören, vor allem wenn sie aus Brüssel kommen.

Außerdem wollen viele Regierungen unbedingt Handlungsfähigkeit demonstrieren, aus Angst vor erstarkenden radikalen Parteien. Viele gehen dabei einen einfachen, aber gefährlichen Weg: Sie machen die EU für die Krise verantwortlich, fordern "Bürokratieabbau" in Brüssel und das Zurückholen von Kompetenzen in die Hauptstädte. Die EU-Umweltrichtlinien werden dabei oft als ein Hindernis für das Wiedererstarken der heimischen Wirtschaft identifiziert. Dabei werden auch in Deutschland gelegentlich wieder die alten Mythen von Molch und Hamster beschworen, die wichtige Infrastrukturprojekte und tausende Arbeitsplätze blockieren.

Von einem Präsident der Europäischen Kommission hätte man in dieser Situation starke Gegenimpulse erwartet. José Manuel Barroso erwies sich jedoch als williges Instrument besagter Regierungschefs und verschrieb sich der Deregulierung. Nach mehreren Vorstufen unter den Schlagworten "better" oder "smart" regulation, stellte Barroso im Dezember 2012 das Regulatory Fitness and Performance Programme (REFIT) vor, zu Deutsch "Programm zur Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung".

Luftnummer oder neoliberaler Masterplan?

Laut Europäischer Kommission werden mit REFIT Möglichkeiten zur Verringerung des Verwaltungsaufwands und zur Vereinfachung bestehender Rechtsvorschriften ermittelt. Seit 2013 hat die Behörde im Namen von REFIT 53 Gesetzesvorschläge zurückgenommen, darunter die EU-Bodenschutzrichtlinie. Außerdem wurde die Arbeit an einigen weiteren Plänen eingestellt, zum Beispiel für eine Richtlinie zum Gerichtszugang in Umweltangelegenheiten. Zusätzlich will man demnächst auch die Änderung oder Annullierung einiger bereits geltender Gesetze vorschlagen. Schließlich gibt es für eine Vielzahl von Richtlinien und Verordnungen sogenannte Fitness Checks, darunter die Wasserrahmenrichtlinie sowie die Vogelschutz- und FFH (Fauna-Flora-Habitat-Richtline)-Richtlinie. Eine Übersicht über abgeschlossene, laufende und geplante REFIT-Maßnahmen in den verschiedenen Politikbereichen liefert das sogenannte Scoreboard,(3) das die Kommission im Juni 2014 veröffentlichte.

Diese jüngste Bilanzierung der REFIT-Maßnahmen durch die Kommission erweist sich allerdings beim näheren Hinsehen als eher dünn: So werden viele gesetzliche Regelungen ohnehin in regelmäßigen Abständen überprüft. Weiterhin ist die reine Anzahl von Richtlinien oder Verordnungen völlig unerheblich für den von ihnen verursachten Aufwand in Verwaltung und Unternehmen. Drittens hängt bei den meisten EU-Gesetzen der weitaus größte Teil ihrer "Bürokratiekosten" von der Umsetzungspraxis der Mitgliedsstaaten ab. Letzteres hat selbst der seit 2007 unter Barroso wirkende Beauftragte für Bürokratieabbau, Edmund Stoiber, immer wieder betont, seine "Expertengruppe zum Bürokratieabbau" wird inzwischen auch unter REFIT gefasst. Da die REFIT-Streichliste schließlich auch noch solche Vorschläge einschließt, die im Ministerrat und EU-Parlament ohnehin keine Zustimmung erfahren haben, stellt sich die Frage, ob es sich bei REFIT wirklich um eine aktive Strategie oder doch eher um eine "Luftnummer" handelt?

Zumindest aus umweltpolitischer Sicht muss man sagen: leider nein. Die letzten Jahre brachten zahlreiche handfeste Versuche, umweltpolitische Standards zu senken beziehungsweise Gesetzesvorhaben zu stoppen. Diese Versuche liefen teilweise offiziell unter REFIT, teilweise bestanden sie in kommissionsinternen Blockaden. Hierfür gibt es ein ebenfalls unter "smart regulation" fungierendes Instrument, nämlich die äußerst intransparente, von der Generalsekretärin Catherine Day gesteuerte "Folgenabschätzung". Hier scheitern Vorschläge der Generaldirektion Umwelt regelmäßig - milliardenschwere umweltschädliche Subventionen werden durchgewunken.

Wissenschaftliche Verbrämung von Deregulierung?

Ein Fitness Check überprüft laut EU-Kommission die Wirksamkeit, Kosteneffizienz, Kohärenz zu anderen EU-Maßnahmen, Relevanz und europäischen Mehrwert der betroffenen Richtlinien oder Verordnungen. Hierbei gibt die federführende Generaldirektion in der Regel Studien in Auftrag, die sich dann auf Experteninterviews, Workshops und Konferenzen, online Konsultationen und Auswertung von vorliegenden Daten stützen.

Ein wesentlicher Knackpunkt ist hierbei die Frage, ob eine eventuell unbefriedigende Wirksamkeit einer Richtlinie durch den Gesetzestext selbst verschuldet ist, oder durch den Mangel an politischem Willen, Geld oder Expertise in den umsetzenden Mitgliedsstaaten. Dieser Punkt lässt sich kaum durch eine Studie klären. Wie viel Aufwand man den nationalen Regierungen zumuten will, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, hängt sehr von der politischen Priorität ab. Noch deutlicher wird dies bei der Frage nach der Kohärenz: Wer entscheidet, ob es nun die geprüfte Naturschutzrichtlinie ist, die nicht zur Agrarpolitik "passt" oder umgekehrt? Bei der Relevanz bewegt sich der Fitness Check dann vollends im Fahrwasser der reinen Politik.

Ein Fitness Check ist also im besten Fall eine ergebnisoffene Aufbereitung von wichtigen Informationen als Grundlage für politische Entscheidungen, im schlimmsten Fall eine "pseudo-wissenschaftliche Verbrämung" einer politisch gewollten Absenkung von gesetzlichen Standards. Während das politische Klima derzeit eher für letzteres spricht, gibt es jedoch auch Gegenbeispiele: Der bereits durchgeführte Fitness Check der Europäischen Wasserpolitik führte zu Empfehlungen, die Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie zu stärken.

Die Chance von Jean-Claude Juncker

Das REFIT-Programm, wie es bisher umgesetzt wurde, ist eine Kapitulation vor denjenigen nationalen Regierungen, die einen Abbau von Umwelt- und Sozialstandards wollen. Anstatt sich im normalen Gesetzgebungsprozess öffentlich dazu zu bekennen, war es für sie jedoch wesentlich angenehmer, die Kommission in eine Art Selbstzensur zu treiben, so dass ambitionierte Vorschläge gar nicht mehr auf dem Tisch des Ministerrates landen. Barroso hat ihnen mit REFIT damit manch unangenehme Schlagzeile oder einen Konflikt mit dem EU-Parlament erspart.

Barrosos Nachfolger, Jean-Claude Juncker, muss umsteuern. Hierbei muss er zunächst den Verdacht entkräften, dass REFIT vor allem auf die Reduzierung von Umwelt- und Verbraucherschutz abzielt. Denn gerade dies sind die Bereiche, in denen die Europäer von der EU am meisten erwarten. In Großbritannien beispielsweise ist der Umweltschutz der einzige Politikbereich, dem die Bürgerinnen und Bürger der EU mehr trauen als ihrer eigenen Regierung.

Stattdessen sollte Juncker das 2020-Ziel des "intelligenten, nachhaltigen und sozialen Wachstums" wieder mit Leben füllen. Damit läge es zum Beispiel auf der Hand, auch die Subventionen der Gemeinsamen Agrarpolitik einem sorgfältigen Fitness Check zu unterziehen und die Umweltpolitik wieder zu stärken. Dies wäre auch ein klares und mutiges Signal an die EU-Skeptiker, wie man es von einem Kommissionspräsidenten erwarten sollte.

Der Europäische Rat hat immerhin gegen den Widerstand Großbritanniens und auch dank des Einsatzes der deutschen Bundesregierung im Oktober 2013 erklärt, dass bei allen REFIT-Vorschlägen "stets der Notwendigkeit eines angemessenen Schutzes der Verbraucher, der Gesundheit, der Umwelt und der Beschäftigten Rechnung zu tragen" sei. Hier muss Juncker ansetzen.


Autor Konstantin Kreiser ist Referent für internationale Biodiversitätspolitik beim NABU und Koordinator der EU-Naturschutz-Task Force von BirdLife International.


Quellen

(1) http://europa.eu/rapid/press-release_IP08-1998_en.htm.

(2) Vorwort zu BirdLife International (2006): Well-being through wildlife
(http://www.rspb.org.uk/Images/wellbeing_tcm9148929.pdf).

(3) http://ec.europa.eu/smart-regulation/docs/scoreboard_en.pdf.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2014, Seite 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2014