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KLIMA/260: Brasilien - Klimapolitisch im Rückwärtsgang, Umdenken gefordert (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Oktober 2013

Brasilien: Klimapolitisch im Rückwärtsgang - Umdenken gefordert

von Fabiola Ortiz


Bild: © IPS

Verkehr auf der Avenida 23 de Maio in São Paulo
Bild: © IPS

Rio de Janeiro, 15. Oktober (IPS) - In den letzten fünf Jahren ist Brasilien in die Riege der schlimmsten Klimasünder aufgerückt. Experten führen die Zunahme der klimaschädlichen Treibhausgase auf eine Reihe von Faktoren zurück. Sie empfehlen unter anderem den Ausbau eines nachhaltigen Personentransportsystems in den Städten und die verstärkte Entwicklung der erneuerbaren Energien.

"Mit dem Ausmaß der Klimaverschmutzung passt sich der südamerikanische Wachstumsgigant den Verhältnissen der Ersten Welt an", meint José Marengo, einer der Autoren des fünften Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC). Diese Entwicklung sei einer Strategie geschuldet, die auf eine Förderung von Industrie und Konsum abziele.

Die Regierung hatte mit Steuerbefreiungen den Verkauf von Pkws und Motorrädern stimuliert, der sich wiederum positiv auf die Wirtschaft auswirkte. Doch auf der Sollseite stehen verstopfte Städte und zunehmende Luftverschmutzung.

Die Zahl der Pkws hat sich binnen eines Jahrzehnts von 24,5 Millionen 2001 auf 50,2 Millionen 2012 nahezu verdoppelt, wie aus einem am 10. Oktober von der Denkfabrik 'Städtebeobachtungsstelle' veröffentlichten Bericht hervorgeht. Noch dramatischer hat sich die Nachfrage nach Motorrädern entwickelt: von 4,5 Millionen auf 19,9 Millionen Einheiten.


Fuhrpark rasant ausgebaut

Ende 2012 waren in dem südamerikanischen Land mehr als 76 Millionen motorisierte Fahrzeuge im Umlauf. 2001 waren es noch 31,8 Millionen gewesen. Das bedeutet einen Anstieg um 138,6 Prozent, heißt es in der Untersuchung. "Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Bevölkerung zwischen den zwei Volksbefragungen (2000 und 2010) um 11,8 Prozent gewachsen ist."

Marengo, Leiter des Zentrums für Erdsystemwissenschaften an Brasiliens Nationalem Institut für Weltraumforschung, hält die Entwicklung für äußerst beunruhigend, "zumal wir die entwickelten Länder dafür immer kritisiert haben".

Gleichzeitig ist es Brasilien gelungen, die Entwaldung des brasilianischen Regenwaldes aufzuhalten und dadurch seine Treibhausgasemissionen zwischen 2005 und 2010 um 38,4 Prozent zu verringern, wie Carlos Nobre, ein hoher Beamter im brasilianischen Wissenschafts- und Technologieministerium, gegenüber IPS erklärte.

2009 hatte Brasilien zugesagt, seinen CO2-Ausstoß um 36,1 beziehungsweise 38,9 Prozent zu reduzieren - je nach Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Regierung betont, dass sie dank der sinkenden Entwaldungsrate 62 Prozent dieser Zielsetzung bereits erreicht habe.

Bis 2009 hatte der Kahlschlag - vor der Verbrennung fossiler Treibstoffe - einen Anteil an der Klimaverschmutzung in Brasilien von 60 Prozent. Doch inzwischen ist die riesige Flotte motorisierter Fahrzeuge zu einem das Klima belastenden, gefährlichen Faktor geworden.

"Hätten wir ein nachhaltiges Massentransportsystem, würden die Menschen ihre Autos zu Hause stehen lassen", ist Marengo überzeugt. "Doch in São Paulo und in Rio de Janeiro ist die Benutzung der U-Bahn zu bestimmten Tageszeiten eine Zumutung. Das muss anders werden und kann nur dadurch erreicht werden, dass die Schaffung eines annehmbaren öffentlichen Verkehrssystems forciert wird."

Sergio Leitão vom Brasilienbüro der Umweltorganisation 'Greenpeace' macht eine Reihe neuerer Faktoren für die Veränderungen des Klimaverschmutzungsmusters verantwortlich. Als Beispiele nennt er die Ausbeutung von Erdölreserven, die unter einer zwei Kilometer dicken Salzschicht sieben Kilometer unter dem Meeresspiegel lagern. Während sich die Welt den erneuerbaren Energien zuwende, schlage Brasilien die Gegenrichtung ein, kritisiert der Umweltschützer.

Dem IPCC-Report zufolge hat der seit den 1950er Jahren beobachtete Klimawandel ein beispielloses Ausmaß angenommen. Die Menschheit müsse alles Erdenkliche unternehmen, um zu verhindern, dass die Temperaturen in diesem Jahrhundert um mehr als zwei Grad Celsius steigen.


Tiefgreifender Wandel gefordert

Um dieses Minimalziel zu erreichen, gilt es Leitão zufolge "grundlegende, drängende und unerlässliche Maßnahmen" zu ergreifen. So müsse das derzeitige Produktionsmodell verändert und der Verbrauch von Erdöl, -gas und Kohle drastisch eingeschränkt werden.

Dass Brasilien die Erdölproduktion unterhalb der Salzschicht als große wirtschaftliche Zukunftschance darstelle und fördere, sei sehr befremdlich, meint der Umweltschützer. "Wir sollten einen anderen Kurs einschlagen und uns auf die Entwicklung der erneuerbaren sauberen Energien konzentrieren." Leitão zufolge verfügt Brasilien über reichlich Sonne und Wind.

Gesetzt den Fall, die Welt würde den Ausstoß von Treibhausgasen komplett einstellen, würde sich die Erde noch mindestens weitere 20 Jahre aufwärmen. Dieses Phänomen begründet der IPCC damit, dass sich CO2 in Hunderten von Jahren angesammelt habe. "Die Photosynthese in den Dschungeln und Wäldern kann dazu beitragen, CO2 zu absorbieren, doch greift sie nicht unmittelbar", erläutert Marengo. "Dazu braucht es Jahre."

"Anpassungsmaßnahmen, die zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen beitragen, sind zwar teuer und langfristig wirksam, doch die einzigen Mittel, um die künftigen Auswirkungen des Klimawandels minimal zu halten", so Marengo. Er geht davon aus, dass sich die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels ab 2040 einstellen werden. "Die Botschaft, die der IPCC für die Teilnehmer des nächsten Klimagipfels im November in Warschau bereithält, lautet: Vermeidet jede Erderwärmung von über zwei Grad Celsius!"

Nach Ansicht von Marengo hat die 2008 ausgebrochene, weltweite Wirtschaftskrise Umweltfragen ins Abseits befördert. "Es ist unmöglich für ein Land, das sich in einer schwierigen Wirtschaftssituation befindet, einem Umweltabkommen beizutreten", räumt er ein. "Denn das hätte hohe soziale Kosten." (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.ipsnews.net/2013/09/climate-change-report-gives-no-reason-for-optimism/
http://www.observatoriodasmetropoles.net/download/auto_motos2013.pdf
http://www.ipsnews.net/2013/10/brazil-in-reverse/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 15. Oktober 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2013