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LATEINAMERIKA/226: Rohstoffausbeutung in Brasilien - Russisches Roulette mit dem Regenwald (megafon)


megafon - Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern | N° 480 | Juni 2022

Rohstoffausbeutung
Russisches Roulette mit dem Regenwald

von Reto Riggs


Die Folgen des russischen Angriffskriegs reichen bis zur anderen Seite der Welt: Die brasilianische Landwirtschaft, welche stark abhängig ist von russischen Düngemitteln, fürchtet sich vor ansteigenden Preisen und Lieferungsengpässen. Doch Jair Bolsonaro, der seit 2019 amtierende rechtsradikale Präsident Brasiliens, stellt eine Lösung vor: Künftig soll Dünger im Inland produziert werden. Die Quelle des dafür erforderlichen Kaliums: Geschützter Amazonasregenwald. Dies bedroht die Reservoire von indigenen Völkern.

Während die Ukraine Anfang März die erste Welle russischer Aggressionen zu spüren bekommt, macht sich der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro vor allem Sorgen um seine Landwirtschaft: Russland ist Brasiliens grösster Versorger mit Düngemittel. Kalisalze im Gegenwert von 3.5 Milliarden US-Dollar wurden letztes Jahr aus Russland importiert. Das ist ein Fünftel aller Düngemittelimporte Brasiliens und zwei Drittel aller Importe aus Russland. Kalisalz, kurz Kali oder Potash auf Englisch, ist ein Mineraldünger, der Pflanzen mit Kalium versorgt und für deren Wachstum essenziell ist. Das importierte Kali gelangt grösstenteils zu den brasilianischen Sojabäuer*innen. Sie sind auf den importierten Dünger angewiesen, um den nährstoffarmen Boden des abgeholzten Regenwaldes fruchtbar zu halten. 70% dieser Sojabohnen ernähren chinesische Schlachttiere. 10% wandert an Europäische Käufer*innen in den Niederlanden, Spanien und der Türkei, wo es auch grösstenteils zur Viehzucht dient.

Bolsonaro fürchtet Lieferengpässe und eine Steigerung des Kalipreises, welcher sich im Vorjahr schon verdoppelt hatte. Die strengen Sanktionen, unter welchen Russland nun leidet, werden den Preis wohl noch stärker zuspitzen. So schaut sich Bolsonaro nach einer Lösung um, und nimmt sich ausgerechnet indigenes Land im Amazonasregenwald ins Visier.

Kali um jeden Preis

Schon länger werden in der Mitte des Regenwaldes, praktisch am Ufer des Amazonas, riesige Kali-Vorräte vermutet. Für dessen Abbau standen bisher aber zu viele Hürden im Weg: Geschützter Regenwald, indigene Völker und die schlichte Unwegsamkeit des Dschungels verunmöglichen den Abtrag des Minerals. Doch wie Bolsonaro am 2. März dieses Jahres - nur wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine - verkündete, soll sich das ändern. Naturschutz und indigene Völker müssten Platz machen, um die Unabhängigkeit und Souveränität Brasiliens zu gewährleisten. Bolsonaro hat das politische Mittel zur Erreichung seiner Ziele 2020 schon aufgegleist: Eine Motion, die den Zugang zu Bergbau auf indigenem Land vereinfach soll, existiert schon länger, wurde aber noch nicht umgesetzt. Bolsonaro erntete 2020 dafür viel Kritik von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen sowie auch von grossen Bergbauunternehmen, welche sich nicht mit zwielichtigen Projekten in Verbindung gebracht werden wollten. Doch der brasilianische Präsident lässt sich nicht kleinkriegen: Er verwendet nun zwei Jahre später den Ukraine-Krieg und den hohen Kali-Preis als schlagkräftige Argumente, um seine Motion durchzuboxen.

Das Projekt verlockt mit vermeintlich reduzierten Treibhausgasemissionen. Düngerproduktion und Sojaanbau wären via Transportbargen auf dem Amazonas eng miteinander verbunden, anstatt dass Dünger von der anderen Seite der Welt angeschleppt werden müsste. Doch vermag diese Verlockung nicht die grausame Realität eines solchen Projektes zu verbergen: Wie 2019 auf mongabay.com berichtet wurde, fanden im Rahmen von diesem und ähnlichen Projekten diverse Übergriffe auf indigene Rechte statt [1]. So wurden beispielsweise prospektive Probelöcher auf indigen-demarkiertem Boden, also vom Staat anerkanntes Territorium der indigenen Bevölkerung, gegraben. Für die Indigenen ist das ein gefährlicher Vorstoss auf ihr Land, der droht ihre Lebensgrundlage und Gesundheit zu gefährden. Wie auch aus der obligatorischen Umweltverträglichkeitsprüfung des Projektes hervorgeht, sind von zahlreichen erheblichen Gefährdungen für Mensch und Umwelt auszugehen: Erhebliche Luftverschmutzung und Lärmbelastung, sowie Auswaschung gefährlicher Nebenprodukte der Kali-Raffinierung in den Amazonas - die Existenzgrundlage zahlreicher indigener Völker und Lebensader des Regenwaldes.

Multinationale Konzerne nutzen juristische Grauzonen in der Demarkierung von indigenem Land schonungslos aus, um ihre Projekte umzusetzen. Zusammen mit zunehmend geschwächten Vorschriften kommen immer mehr gefährliche Bergbauprojekte im Amazonas zustande. In diesem Fall gelang es dem angesiedelten Mura-Volk das Projekt vorerst aufzuhalten, bis eine ordentliche Konsultation stattfindet. Sie berufen sich auf das brasilianische Verfassungsrecht, welches den Bergbau auf indigen-demarkiertem Land untersagt. Doch ebendieses Recht lockert Bolsonaro seit seiner Amtseinnahme 2019 fortlaufend auf. Seine Motion vom Frühjahr 2020 bildet einen weiteren Versuch, die Barrieren zur Ausbeutung des Amazonasregenwaldes aufzulösen.

Auf der Suche nach El Dorado

Hinter der moralisch verwerflichen Motion Bolsonaros schlummert aber wohl auch eine andere Motivation. Im Vergleich zeigt sich nämlich, dass von allen Bergbauprojekten im Amazonas rund zwei Drittel auf Goldsuche sind [2]. Neben dem einfacheren Zugang zu Kali würde Bolsonaros Motion auch das Goldschürfen auf indigenem Land erleichtern.

Gold wird schon länger im Amazonas abgetragen. Zwischen 1985 und 2020 wuchs die Abbaufläche um das Sechsfache. Immer mehr wird dabei auf indigenen, verfassungsrechtlich geschützten Grund vorgedrungen, welcher rund 23% der gesamten Fläche des brasilianischen Regenwaldes ausmacht. Unter Bolsonaros Obhut lösten sich viele Hindernisse und Konsequenzen zum illegalen Bergbau auf. Dies hat seit 2019 eine drastische Zuspitzung von illegalem Goldabtrag aus dem Amazonas zur Folge.

Die Spuren von illegaler Gold-Extraktion aus geschützten Gebieten zeigen sich in der Landschaft: Nackte Korridore aus Schlamm und quecksilberverseuchte Tümpel zieren den tropischen Regenwald. Quecksilber ist vom Goldbergbau unzertrennlich und geht oft mit erheblicher Umweltverschmutzung einher. Das Schwermetall besteht über Jahrhunderte in der Umwelt fort, wo es unausweichlich Tiere und schliesslich auch Menschen vergiftet.

Der Preis für Gold hat sich seit Anfang der Corona-Pandemie 2020 mehr als vervierfacht und ist nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine weiter in die Höhe gesprungen. Neben der ansteigenden Preise für andere Mineralien, wie Kalium oder Phosphor, verschärft der hohe Goldpreis die Rohstoffausbeutung im Amazonas weiter: Bolsonaro will sich auf Kosten des Amazonas und dessen Einwohner eine goldene Nase verdienen.

Zerren und Rütteln bis zur Katastrophe

Die Folgen der Umweltzerstörung im Amazonas haben aber eine viel grössere Reichweite als die Landesgrenzen Brasiliens. Schon jetzt stellen Wissenschaftler*innen vor dem Hintergrund des schon stattgefundenen Temperaturanstiegs um 1°C bis 1.5°C in den Tropen einen Umschwung in der tropischen Vegetation fest: Feuchtliebende Arten werden vermehrt durch trockenresistente ersetzt. Die Zusammensetzung des Waldes ändert sich. Indes sind 19% der Fläche des Regenwaldes verschwunden, um Platz zu machen für Viehhaltung, Sojaproduktion und Rohstoffausbeutung. Kritisch daran ist der Wasserkreislauf im Amazonas: Der tropische Regenwald generiert nämlich mit seiner einzigartig hohen Vegetationsdichte seinen eigenen Wasserkreislauf, von dem der ganze Kontinent profitiert. Unter normalen Umständen würde der Niederschlag und das Schmelzwasser der Anden nämlich einfach gerade durch Brasilien fliessen und schliesslich in den Atlantik münden. Die Bäume saugen das Wasser aber aus dem Boden und transportieren es in die Höhe, wo es wegen der tropischen Hitze verdampft - dieser Vorgang nennt sich Transpiration. Das transpirierte Wasser kondensiert gleich wieder in der gesättigten Luft und fällt als Niederschlag erneut auf den Wald nieder. So recycelt der Amazonas sein eigenes Wasser bis zu sechs Mal bis zum Atlantik, was zur hohen Luftfeuchtigkeit und durch die Wolken schliesslich auch zum Schutz gegen die gefährlich-heisse tropische Sonne beiträgt.

Infolge der Waldrodung und den ansteigenden Temperaturen wird nun befürchtet, dass dieser Kreislauf zusammenstürzt. Der Amazonas würde in kürzester Zeit von einem der reichsten Biodiversitäts-Hotspots der Erde in eine trockene Savanne übergehen. Die Landwirtschaft auf dem ganzen Kontinent würde leiden, Indigene Menschen würden ihre Lebensgrundlage verlieren und der Verlust des Amazonas würde sich im ganzen Erdklima niederschlagen. Auch die Freisetzung des gesamten in der Biomasse des Regenwaldes gespeicherten Kohlenstoffdioxids hätte schwerwiegende Folgen: Der Amazonas würde zu einer der grössten CO2-Quellen des Planeten werden. Diese Katastrophe wird angedroht, wenn vom «Tipping Point» gesprochen wird: Der schlagartige Einbruch kritischer Ökosysteme, wie eben im Amazonas [3].

Im Oktober 2022 stehen in Brasilien Präsidentschaftswahlen an. Jair Bolsonaro versucht dort seine Präsidentschaft gegenüber den charismatischen Sozialisten und ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva - bekannter einfach als Lula - zu verteidigen. Sollte Bolsonaro wiedergewählt werden, beziehungsweise das Resultat der Wahl à la Trump verleugnen, wie er neulich angedeutet hat, wird er sein Zerren und Rütteln am fragilen Ökosystem des brasilianischen Regenwaldes weiterverfolgen. Im Vergleich zu Putin hat Bolsonaro keine Atombombe. Jedoch hält auch er eine verheerende Zerstörungskraft in seinen Händen. Mit genügend Widerstand der brasilianischen und indigenen Bevölkerung, sowie internationalem Druck, gelingt es aber hoffentlich noch, ihm den Auslöser aus der Hand zu schlagen.

Anmerkungen

[1] Mongabay ist eine online Journalismus-Plattform, die über wissenschaftliche Entwicklungen in den Tropen berichtet. 2019 untersuchten Wissenschaftler*innen die Umstände des vorgesehenen Minenprojekts im Austausch mit Indigenen Völkern und Angesiedelten:
https://news.mongabay.com/2019/12/mega-mining-project-slated-for-brazilian-amazon-sparks-controversy/
und
https://news.mongabay.com/2019/12/amazons-mura-indigenous-group-demands-input-over-giant-mining-project/

[2] Infoamazonia informiert auf seiner Website über die Zerstörung im Amazonas mit Karten und Statistiken. Die Plattform formierte sich aus unabhängigen Journalist*innen und Wissenschaftler*innen im Zusammenhang mit der Reduktion der staatlich-unterstützten Überwachung des Amazonas nach Bolsonaros Amtseinnahme. «Gold, not potassium: The real interest of mining on indigenous lands» von Fábio Bispo (2022):
https://infoamazonia.org/en/2022/03/24/gold-not-potassium-the-real-interest-of-mining-on-indigenous-lands-2/

[3] Eine kritische Auseinandersetzung mit dem «Tipping Point» des Amazonas-Regenwaldes auf einem wissenschaftlichen sowie politischen Hintergrund wurde vom renommierten wissenschaftlichen Journal Nature publiziert: «When will the Amazon hit a tipping point?» von Ignacio Amigo (2020):
https://www.nature.com/articles/d41586-020-00508-4

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Quelle:
megafon - Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern | N° 480 | Juni 2022, Seite 1-2
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. August 2022

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