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RESSOURCEN/050: Argentinien - Schieferölrausch, ein kleines Nest wird zum Mekka der Erdölindustrie (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Oktober 2014

Argentinien: Schieferölrausch in Añelo - Kleines Nest wird zum Mekka der Erdölindustrie

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Blick von der Hauptstraße von Añelo, einer Gemeinde im argentinischen Patagonien, die sich gerade in die Hauptstadt nichtkonventioneller Ölvorkommen verwandelt
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Añelo, Argentinien, 27. Oktober (IPS) - Die Kleinstadt Añelo im Süden Argentiniens ist ein Jahrhundert alt. Doch der Fund riesiger unkonventioneller Öl- und Gasvorkommen in der Region soll die Gemeinde von null auf gleich in die Zukunft katapultieren. Der Plan, sie zu einer "nachhaltigen Stadt der Zukunft" zu machen, existiert bisher jedoch erst auf dem Papier.

Der Andrang fremder Menschen, die vom Schieferöl- und -gasfieber in der Region profitieren wollen, hat bewirkt, dass sich die Zahl der Einwohner auf 5.000 verdoppelt hat. Diese sprunghafte Entwicklung brachte das Städtchen in der Patagonienprovinz Neuquén an die Grenzen seiner Möglichkeiten.

Beworben wird Añelo als Ort, "an dem die Zukunft ihren Platz gefunden hat". Doch bisher dominiert hier die Rückständigkeit: Die Straßen sind unbefestigt, und die Schwertransporter und Luxuslimousinen der Ölfirmenchefs ziehen Staubwolken hinter sich her.

"Viele Augen sind derzeit auf Añelo gerichtet. Wir leben auf einem Berg von schwarzem Gold", meint dazu der Chef des städtischen Gesundheitszentrums, Rubén Bautista, der zusammen mit drei weiteren Ärzten für die Gesundheit der vielen Menschen zuständig ist. "Sie holen ein Vermögen aus dem Boden, doch lassen sie der Lokalbevölkerung so gut wie nichts übrig."


Medizinisch unterversorgt

Das lokale Gesundheitszentrum verfügt gerade einmal über zwei Ambulanzen, während 117 Unternehmen aus aller Welt Geschäfte in und um die Stadt ansiedeln. Schwierige Krankheitsfälle werden an größere Kliniken delegiert.

Añelo am Fluss Neuquén ist von Obstbäumen, Ziegen und Weingärten umsäumt. Die Stadt ist acht Kilometer von Loma Campana entfernt, das wiederum Teil der geologischen Formation Vaca Muerta im Neuquén-Becken ist, die sich über die Provinzen Neuquén, Río Negro und Mendoza erstreckt.

Das staatliche Erdölunternehmen YPF hat sich die Konzession für 12.000 des insgesamt 30.000 Quadratkilometer großen Gebietes gesichert. Auf rund 300 Quadratkilometern dieser Fläche arbeitet YPF mit dem US-Ölkonzern 'Chevron' zusammen.

Vaca Muerta verfügt über Schieferöl- und -gasvorkommen, die zu den größten der Welt zählen und in einer Tiefe von bis zu 3.000 Metern lagern. Etwa alle drei Tage werden hier neue Bohrungen vorgenommen. Die Nachfrage nach Arbeitskräften, Ausrüstung, Transportmitteln und anderen Dienstleistungen steigt rasch.

Nach Angaben von YPF haben sich durch die Funde in Vaca Muerta die argentinischen Erdölreserven verzehnfacht und die Gasvorkommen vervierzigfacht. Das südamerikanische Land kann damit zum Nettoexporteur fossiler Brennstoffe aufsteigen. Es ist nach den USA zur zweitgrößten Produktionsstätte für unkonventionelle fossile Treibstoffe aufgestiegen.

Doch bisher vermag das schwarze Gold in Añelo nicht zu glänzen. Añelo bedeutet in der Sprache der indigenen Mapuche 'verlassener Ort'. Es liegt gut 100 Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt Neuquén.

Nach konservativen Schätzungen wird die Gemeinde in den nächsten 15 Jahren auf 25.000 Menschen ansteigen. Bei den meisten handelt es sich um Arbeitskräfte und deren Familien, die direkt oder indirekt für die Ölfirmen arbeiten werden. "Es handelt sich um Menschen, die in Añelo eine bessere Zukunft finden wollen", sagt der Pressesprecher von YPF Neuquén, Federico Calífano.

Allein für YPF sind in der Region 720 Arbeitskräfte im Einsatz. Diese kommen aus den nahegelegenen Städten und anderen Provinzen, auch aus dem Ausland. Internationale Unternehmen hingegen bringen meist ihre eigenen Bauarbeiter, Chemiker, Hotelfachkräfte und Dienstleister mit.


Mietpreise gestiegen

Das Hotel der Stadt ist überfüllt, und auf jeder flachen Stelle schießen Camps wie Pilze aus dem Boden. Container werden aufgebaut, um den Arbeitern eine bequeme Wohnmöglichkeit zu bieten. Die Mieten für ein Mini-Apartment sind inzwischen um das Fünffache höher als in den teuersten Stadtteilen der Hauptstadt Buenos Aires.

"Wir bauen die Stadt aus dem Nichts", meint der Bürgermeister von Añelo, Darío Díaz, und fügt hinzu, dass die Gemeinde schon vor dem Schieferölboom ein strategisch wichtiger Zwischenstopp gewesen sei. Auch sei YPF in der Region bereits seit den 1980er Jahren aktiv. "Doch anders als zuvor, als sie nach getanem Job wieder wegzogen, wird es jetzt genug Arbeit für mehr als 30 Jahre geben."

"Hier gibt es für jeden etwas zu tun", meint der Bauarbeiter Esteban Aries. "Es werden noch viel mehr Leute hier gebraucht. Das Problem sind die Unterkünfte." Aries pendelt jeden Tag zwischen Cipolletti in der Nachbarprovinz Río Negro und dem 60 Kilometer entfernten Añelo hin und her.

Wie der Umweltminister der Provinz, Ricardo Esquivel, berichtet, ist die Infrastruktur der Stadt für rund 2.500 Einwohner ausgelegt. Angesichts der Nachfrage nach grundlegenden Dienstleistungen im Wasser-, Energie- und Straßenbausektor ist sie unzureichend.

Die YPF-Stiftung hat eine Untersuchung über den "urbanen Fußabdruck" erstellt, die den sogenannten Lokalen Añelo-Entwicklungsplan nach sich zog. Der Plan wird von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IaDB) und deren Initiative für neue Nachhaltigkeitsstädte gefördert. Das Vorhaben, das zusammen mit der Lokal- und der Provinzregierung durchgeführt wird, hat unterschiedliche Wachstumsszenarien durchgespielt, um die Risiken und negativen Auswirkungen des Schieferölbooms für Añelo zu ermitteln.

So geht es beispielsweise um Fragen der urbanen Ausdehnung und des städtischen Planungsprozesse. "Welche Dienstleistungen werden benötigt und was braucht die Stadt heute und in zwei, drei oder fünf Jahren?", erklärte Calífano.

YPF zufolge ist der Ausbau des Sanitärbereichs seit langem im Gang. Auch habe man zwei Sattelschlepper in Gesundheitszentren umgewandelt. Doch nach Ansicht des Mediziners Bautista muss deutlich mehr getan werden.

Die wirtschaftliche Entwicklung hat zu einem unerhörten Verkehrsaufgebot mit Schwertransportern geführt. Deshalb hat die Regierung vor, längs der 'Ölroute' eine zweispurige Autobahn nach Vaca Muerta zu bauen. Die soll auch dafür sorgen, dass die Lkws nicht mehr durch Añelo durchfahren müssen. Denn Bautista zufolge ist die Zahl der Verkehrs- und Arbeitsunfälle von monatlich zehn im Jahr 2012 auf derzeit 17 pro Monat gestiegen.

"Man muss sich vor Augen führen, dass diese wichtigen Aktivitäten gerade erst vor einem Jahr gestartet wurden", gibt Pablo Bizzotto zu bedenken. Bizzotto ist der YPF-Regionalmanager für unkonventionelle Brennstoffe in Loma Campana, wo jeden Monat an die 20 Ölbrunnen gebohrt werden, was die tägliche Fördermenge auf 21.000 Barrel erhöht hat. Angesichts dieser kurzen Zeitspanne sei es nur natürlich, dass es noch einige Dinge gebe, die in Zusammenarbeit mit den Behörden verbessert werden müssten.

Der Agraringenieur Eduardo Tomada hat sein Leben in Buenos Aires hinter sich gelassen und sämtliche Ersparnisse in ein Restaurant in Añelo gesteckt. Hier geben sich inzwischen Arbeiter die Klinke in die Hand. Die Köchin Norma Olate ist froh, dass sie nun in ihrer Stadt mehr verdienen kann als vorher, auch wenn sie hin und wieder mit Wehmut an die gute alte Zeit zurückdenkt.


Gewalt, Drogenprobleme und Prostitution

Denn die Entwicklung hat auch negative Folgen im Schlepptau, so die 60-Jährige. "Es kommt zu bewaffneten Raubüberfällen, die es vorher nicht gegeben hat." Auch bereitet der Mutter mehrerer junger Frauen die Ankunft der vielen Männer Sorgen. "Es gibt jede Menge Kerle hier, die unseren Mädchen hier den Hof machen, von denen manche schwanger werden", berichtet sie. "Auch das ist ein Problem für unsere Stadt."

Der Provinzabgeordnete Raúl Dobrusín von der Oppositionspartei Volkseinheit berichtet, dass Prostitution, Drogenhandel und -konsum sowie Alkoholismus und Korruption um sich greifen. "Das Kasino und das Bordell sind die einzigen Neuerungen in der Stadt", sagt er sarkastisch. Er wirft den Behörden einen Mangel an Planung und Kontrolle von Problemen wie Immobilienspekulation und den Anstieg der Immobilienpreise vor, die die Menschen vor Ort nicht mehr bezahlen könnten.

Doch nach Ansicht von Bürgermeister Díaz ist die Bilanz positiv. "Wir müssen die Gelegenheit beim Schopfe packen und dafür sorgen, dass Añelo zu einer Stadt mit einem guten Lebensstandard wird", sagt er. Allerdings befürchtet er, dass die erforderlichen Investitionen nicht schnell genug erfolgen.

Die Provinz bereitet derzeit einen 'strategischen Entwicklungsplan' für Añelo vor, der den Aufbau sogenannter 'Öl-Mikrostädte' mit Industrieparks, Schulen, Krankenhäusern, Straßen und Wohnblöcken vorsieht. "Wir wollen kein Öllager, sondern eine richtige Stadt", versichert der Bürgermeister. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/10/de-pueblo-olvidado-a-capital-argentina-del-esquisto/
http://www.ipsnews.net/2014/10/anelo-from-forgotten-town-to-capital-of-argentinas-shale-fuel-boom/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 27. Oktober 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2014