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LAIRE/264: Nachhaltigkeitsstrategie 2016 - Jeder soll einen Beitrag leisten ... so daß andere abkassieren (SB)


Nachhaltige Mangelproduktion


Die Bundesregierung hat diese Woche ihre neue "Nachhaltigkeitsstrategie 2016" vorgelegt. [1] Darin umreißt sie ihre Vorstellungen zur Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der Vereinten Nationen, die am 21. September 2015 in New York beschlossen worden waren und am 1. Januar 2016 in Kraft traten. Nun müssen sie national umgesetzt werden. Die SDGs setzen sich aus 17 übergreifenden Zielen zusammen, die wiederum 169 Unterpunkte umfassen, die theoretisch allesamt bis zum Jahr 2030 erfüllt sein sollen. [2]

Demnach wird die Welt in den nächsten 14 Jahren zu einem echten Paradies, einem Shangri-La oder zur Erfüllung einer Utopie, wie man sie sich positiver kaum vorstellen kann: Armut, Hunger, Kriege, bewaffnete Konflikte, Diskriminierungen jeglicher Art, klimaschädliche Produktionsweisen und Konsummuster, ungerechte Löhne, mangelnder Zugang zu medizinischen Leistungen und viele gesellschaftliche Widersprüche mehr sollen bis dahin abgeschafft werden. [3]

Ganz so, als wären all diese Phänomene nicht Voraussetzung, Inhalt und Folge der vorherrschenden, konkurrenzgetriebenen Wirtschaftsform, in dem der Vorteil des einen auf dem Nachteil des anderen beruht, da sich Profite nur auf der Basis und der Aufrechterhaltung des Mangels erzielen lassen. Dieses Grundprinzip der Wirtschaftsordnung mit dem Attribut "nachhaltig" zu versehen ändert weder etwas an den beim Wirtschaften verfolgten Absichten noch den erzielten Ergebnissen.

Fast könnte man den Eindruck gewinnen, daß, je überwältigender die Verheißungen aufgetürmt werden, desto größer die Not sein muß, die dadurch verdeckt werden soll. In ihrem Vorwort zur Nachhaltigkeitsstrategie 2016 schreibt Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Es geht um nicht weniger als um ein Leben in Würde, Gerechtigkeit und Frieden, um soziale Sicherheit ebenso wie um wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten bei gleichzeitigem Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen." Hinter den im weiteren meist sehr abstrakt bleibenden, häufig nur als Vorhaben formulierten Ausführungen der Nachhaltigkeitsstrategie verfolgt die Bundesregierung jedoch eine Politik, die einen ganz anderen Eindruck hinterläßt. Denn konkret steht sie für:

- Ausbremsen der Energiewende von fossilen auf erneuerbare Energien unter Wahrung der Wachstumsidee.
- Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken über das Jahr 2030 hinaus.
- Schrittweiser Ersatz der mit Verbrennungsmotoren angetriebenen Pkws durch Elektroautos, obgleich diese einen teilweise höheren Ressourceneinsatz erfordern.
- Vernachlässigung des öffentlichen Nahverkehrs als Alternative zum Auto.
- Torpedierung strengerer Abgasnormen für Fahrzeuge auf EU-Ebene.
- Ungebremster Ausbau des sowieso schon dichten Straßennetzes mit der Folge der weiteren Versiegelung der Landschaft.
- Fortgesetzte Genehmigung des Baus von Betrieben zur Massentierhaltung, obgleich diese im besonderen Maße umwelt- und klimaschädlich sind.
- Förderung des Höfesterbens und umgekehrt der Zentralisierung in der landwirtschaftlichen Produktion.
- Monopolisierung der Nahrungsmittelproduktion.
- Militarisierung der Außenpolitik mit der wachsenden Gefahr, dadurch menschlich und ökologisch verheerende Kriege vom Zaun zu brechen.
- Massive Überschwemmung des globalen Markts mit Waffen aus deutscher Fertigung.
- Im Rahmen der EU Zerstörung bäuerlicher Existenzen in Afrika durch den Export von subventionierten Agrarprodukten.
- Intensive Bemühungen, den Meeresbodenbergbau zu erkunden, selbstverständlich mit der Option einer späteren, potentiell hochgradig umweltgefährdenden Nutzung.

Bei den regierungsnahen und weniger regierungsnahen Nichtregierungsorganisationen stößt die Nachhaltigkeitsstrategie 2016 auf ein gemischtes Echo. Die Politikbeobachtungsorganisation Germanwatch vermißt in der von ihr "grundsätzlich positiv" bewerteten Nachhaltigkeitsstrategie genauere Angaben, wie sich die Regierung die Nachhaltigkeit in Landwirtschaft und Verkehr vorstellt. Auch werde für den Ausstieg aus der Kohleverstromung kein Datum genannt. Ebenso fehle es an Vorschlägen, "wie die besonders vermögenden Akteure ihren angemessenen Beitrag zum Gemeinwohl leisten oder wie Handelsabkommen verbindlich an die Durchsetzung von Menschenrechten und Nachhaltigkeit geknüpft werden". [4]

Als "unehrlich, mutlos" kritisiert Allianz pro Schiene die Regierungslinie hinsichtlich der Mobilität. "Das Flächenverbrauchziel sei von der Bundesregierung klammheimlich um zehn Jahre verschoben worden, bei Verkehrssicherheit und Lärm biete die neue Nachhaltigkeitsstrategie keinerlei Orientierung." [5]

"Die Bundesregierung verschleppt die notwendige sozialökologische Wende", übt der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger Kritik an dem Papier. "Die planetaren Grenzen sind in vielen Bereichen längst überschritten. Der Schutz des Klimas, der Böden und der Biodiversität kommt regelmäßig zu kurz. Eine Politik, die sich vor allem am Ziel des Wirtschaftswachstums orientiert, steht im krassen Widerspruch zu den begrenzten Ressourcen." [6]

So ambitioniert die Bemühungen einzelner NGOs nach der ersten Sichtung der am Mittwoch beschlossenen endgültigen Fassung der Nachhaltigkeitsstrategie auch sein mögen, eine grundsätzliche Kritik an den vorherrschenden Produktionsverhältnissen, die nun, mit einem "nachhaltigen" Anstrich versehen, fortgeschrieben werden, darf man von ihnen nicht erwarten. Selbst "Nachhaltigkeit" scheint nicht mehr in Frage gestellt zu werden, obgleich schon vor Jahren selbst aus Kreisen der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung Kritik an diesem Begriff geübt wurde. So sagte deren Co-Vorsitzende Barbara Unmüßig 2012 in einem Interview mit dem Schattenblick, daß sie den Begriff "Nachhaltigkeit" nicht mehr gerne benutze, da er "beliebig geworden" und "inhaltlich entleert" sei. Er sei ein "Plastikbegriff" geworden, "den alle und jede für sich umdefinieren". [7]

Wie die Bundeskanzlerin Nachhaltigkeit definiert, wissen wir nicht, aber sie verwendet den Begriff, als sei dazu schon alles gesagt: "Nachhaltigkeit kann nur als Gemeinschaftswerk gelingen", schreibt Merkel in ihrem Vorwort zur Nachhaltigkeitsstrategie. "Sie nützt jedem von uns. Und jeder kann etwas dazu beitragen."

Nun, wie wenig haltbar dieses "Gemeinschaftswerk" mit den Beiträgen von "jedem von uns" ist, läßt sich beispielhaft aufzeigen: Ein in der Nähe von Betrugsverdacht stehender Manager eines deutschen Autokonzerns mußte seinen Hut nehmen und wird mit pro Tag mehr als dem Siebenfachen dessen, was einem Hartz-IV-Empfänger pro Monat zusteht, in Rente geschickt. Mit Sicherheit wird auch der ökologische Fußabdruck eines solchen Ex-Managers entsprechend seines Einkommens um vieles höher ausfallen als der eines Anspruchsberechtigten im Verarmungsprogramm der Bundesregierung. Ist das die Nachhaltigkeit, an der "wir" alle gemeinschaftlich arbeiten sollen?

Wenn die Kanzlerin gleich zu Beginn der Nachhaltigkeitsstrategie 2016 über solche eklatanten gesellschaftlichen Widersprüche hinweggeht, als existierten sie gar nicht, muß man dann nicht davon ausgehen, daß diese Ignoranz auch in den weiteren Ausführungen auf 258 Seiten durchgetragen wird, welche kreideweichen Formulierungen auch immer gewählt werden?


Fußnoten:

[1] tinyurl.com/jkvqty9

[2] Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung lauten:

1.) Weltweite Beendigung der Armut in allen ihren Formen.
2.) Beendigung von Hunger, Erreichung von Ernährungssicherheit und verbesserter Ernährung und Förderung nachhaltiger Landwirtschaft.
3.) Sicherstellung von gesundem Leben und Förderung des Wohlbefindens aller Menschen jeder Altersgruppe.
4.) Sicherstellung einer inklusiven und gerechten Bildung von hoher Qualität und Förderung der Möglichkeit des lebenslangen Lernens für alle.
5.) Erreichen der Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung aller Frauen und Mädchen.
6.) Sicherstellen der Verfügbarkeit und des nachhaltigen Managements von Wasser und sanitärer Einrichtungen für alle.
7.) Sicherstellung des Zugangs zu erschwinglicher, zuverlässiger, nachhaltiger und moderner Energie für alle.
8.) Förderung von kontinuierlichem, inklusivem und nachhaltigem Wirtschaftswachstum, produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle.
9.) Aufbau von belastbarer Infrastruktur, Förderung von inklusiver und nachhaltiger Industrialisierung und Innovation.
10.) Reduzierung der Ungleichheiten in und zwischen Ländern.
11.) Inklusive, sichere, belastbare und nachhaltige Städte und Siedlungen.
12.) Sicherstellen nachhaltiger Konsum- und Produktionsweisen.
13.) Ergreifen dringender Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Folgen.
14.) Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Ozeane, Meere und Meeresressourcen für eine nachhaltige Entwicklung.
15.) Schutz, Wiederherstellung und Förderung der nachhaltigen Nutzung der terrestrischen Ökosysteme, nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder, Bekämpfung der Wüstenbildung, Stopp und Umkehrung der Landdegradierung und Stopp des Verlustes an biologischer Vielfalt.
16.) Förderung friedlicher und inklusiver Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung, Ermöglichen des Zugangs zu Rechtsmitteln für alle und Aufbau von effektiven, rechenschaftspflichtigen und inklusiven Institutionen auf allen Ebenen.
17.) Stärkung der Umsetzungsmittel und Wiederbelebung der globalen Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung.
zitiert nach:
http://www.welthungerhilfe.de/nachhaltigkeitsziele.html

[3] Eine kritische Einordnung des Nachhaltigkeitsbegriffs, seiner Herkunft und seiner Implikationen erschien im Schattenblick im Juni 2016 anläßlich des Life Sciences Forschungskolloquium 2016 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW):
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0119.html

Beim Kolloquium geführte SB-Interviews zur Nachhaltigkeitsforschung:
INTERVIEW/231: Vielfaltig nachhaltig - kleidsam umweltgerecht ... Prof. Walter Leal Filho im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0231.html
INTERVIEW/232: Vielfaltig nachhaltig - Webfehler ... Dr. Edgar Göll im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0232.html
INTERVIEW/236: Vielfaltig nachhaltig - Ziel verfehlt, die Richtung stimmt ... Dr. Silke Stöber im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0236.html
INTERVIEW/240: Vielfaltig nachhaltig - guter Rat ist teuer ... Charlotte Newiadomsky im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0240.html

[4] http://germanwatch.org/de/13371

[5] https://www.allianz-pro-schiene.de/presse/pressemitteilungen/nachhaltigkeitsstrategie-bei-verkehr-mutlos-unehrlich/

[6] https://www.bund.net/service/presse/pressemitteilungen/detail/news/neue-nachhaltigkeitsstrategie-wird-dringlichkeit-einer-sozial-oekologischen-wende-nicht-gerecht/

[7] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0015.html

12. Januar 2017


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