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LAIRE/283: Feinstaub - Gefährdungsverdünnung ... (SB)



Jedes Jahr sterben in der Europäischen Union Hunderttausende Menschen in Folge der Luftverschmutzung vorzeitig. Obwohl die EU schon vor zehn Jahren Bestimmungen zur Luftreinhaltung erlassen hat, wurden diese unter anderem in Deutschland nicht ausreichend umgesetzt; manchmal scheinen sie sogar gezielt hintertrieben zu werden. Am Ende des Tages "verschwinden" diese durchaus vermeidbaren Todesfälle in der Statistik, da Menschen auch aus anderen Gründen an Lungenkrebs, Herzinfarkt, Schlaganfall und ähnlichen, für Luftverschmutzung typischen Krankheiten ihr Leben verlieren.

Der Europäische Rechnungshof hat am 11. September 2018 den Sonderbericht Nr. 23 mit dem nüchternen Titel "Luftverschmutzung: Unsere Gesundheit ist nach wie vor nicht hinreichend geschützt" herausgegeben [1]. Darin wird festgestellt, daß jedes Jahr vor allem durch Feinstaub (PM2,5), aber auch Stickstoffdioxid (NO2), Schwefeldioxid (SO2) und bodennahes Ozon (O3) rund 400.000 EU-Bürgerinnen und -Bürger vorzeitig sterben - mehr als zehnmal so viele, wie im Straßenverkehr ums Leben kommen. Die EU-Kommission schätzt die gesundheitsbezogenen, externen Gesamtkosten der schmutzigen Luft auf jährlich 330 bis 940 Milliarden Euro.

Der Straßenverkehr gilt als Hauptschadstoffquelle für Stickoxide, Hausheizungsanlagen als wichtigste Quelle für Feinstaub (PM10 und PM2,5) und der Energiebereich für SO2. Industrie und Landwirtschaft tragen das ihre zu den hohen Schadstoffemissionen bei.

In den EU-Staaten Bulgarien, Lettland, Tschechische Republik und Ungarn ist die Luft schlechter als in China und Indien. Jeder vierte Stadtbewohner Europas war Schadstoffkonzentrationen der Luft ausgesetzt, bei denen bestimmte Grenzwerte überschritten wurden. Da die EU bei manchen Luftbelastungen noch nicht einmal den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgt, waren im Jahr 2015 bis zu 96 Prozent der in städtischen Gebieten lebenden Bürgerinnen und Bürger "Luftschadstoffkonzentrationen ausgesetzt, die von der WHO als gesundheitsschädlich betrachtet werden", heißt es in dem Bericht. Und unter Berufung auf die Europäische Umweltagentur schreibt der Europäische Rechnungshof, daß "hohe Schadstoffkonzentrationen zwar die deutlichste Ausprägung der Luftverschmutzung sind, die langfristige Exposition gegenüber niedrigeren Dosen jedoch eine größere Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellt".

Den Rechnungsprüfern geht es in ihrer Untersuchung nicht primär darum, die mangelnde Luftreinhaltung in der EU zu kritisieren, sondern um die Frage, ob die bislang eingesetzten Mittel und administrativen Maßnahmen der Luftschadstoffverringerung zu den gewünschten Ergebnissen geführt haben oder nicht. Dabei werden auch positive Entwicklungen genannt, doch die negativen bestimmen den Gesamteindruck des Berichts deutlich.

Die EU-Staaten sind nicht blindlings in diese Entwicklung hineingestolpert. Bestrebungen zur Luftreinhaltung gibt es seit Jahrzehnten, und 2008 hat die EU eine Luftqualitätsrichtlinie festgelegt, nach der bestimmte Grenzwerte der Schadstoffkonzentration in der Atemluft nicht überschritten werden dürfen. Werden sie aber. Einzelne Mitgliedstaaten lassen sich lieber verklagen, als daß sie die Einhaltung der Richtlinie durchsetzen.

Rein volkswirtschaftliche Gründe können es nicht sein, die die Regierungen veranlassen, nicht noch wesentlich mehr zur Luftreinhaltung zu tun. So hat die EU-Kommission einen Vorschlag für die Luftqualitätsrichtlinie unterbreitet, dessen Umsetzung fünf bis acht Milliarden Euro kosten würde; gleichzeitig würden sich jedoch die geldwerten gesundheitlichen Vorteile auf jährlich 37 bis 119 Milliarden Euro in 2020 belaufen.

Offenbar wird mit den nationalen Schadstoffangaben, die an die EU-Kommission übermittelt werden, noch nicht einmal das ganze Ausmaß der Luftverschmutzung wiedergegeben. Dazu drei Beispiele: In der tschechischen Stadt Ostrava wurden "keine validierten Daten der Station Radvanice ZÚ an die Kommission übermittelt, obwohl die PM-Tagesgrenzwerte hier im Jahr 2015 98-mal überschritten wurden". Bis zum Jahr 2008 übermittelte die Station Arts-Loi in Brüssel einen sehr hohen Jahresmittelwert für NO2. Zwischen 2009 und 2016 blieb die Station aufgrund von Bauarbeiten geschlossen und hat auch nach Abschluß der Arbeiten keine Daten an die EU-Kommission gesendet. In der bulgarischen Hauptstadt Sofia "wurde die Station Orlov Most 2014 aufgrund von Bauarbeiten verlegt. Die Station hatte zuvor die höchste Anzahl Tage erfasst, an denen die PM10-Konzentrationen den Grenzwert überschritten hatten. Nach ihrer Verlegung ging die Häufigkeit der in Sofia gemessenen Grenzwertüberschreitungen dieser Art stark zurück". Alle drei Beispiele haben Geschmäckle. Als wollten die Unionsmitglieder die Schadstoffbelastung beschönigen und sich dadurch gegen das Interesse der Menschen an körperlicher und kognitiver Unversehrtheit stellen.

Die Verbundenheit der Politik mit bestimmten Teilen der Wirtschaft ist hinlänglich bekannt, beispielsweise auch der Bundesregierung mit der Autoindustrie, respektive jenen Produzenten, deren Fahrzeugflotten einen relativ hohen Anteil an teureren Automobilen aufweisen und bei allzu strengen Abgasnormen entschiedenere Maßnahmen zur Schadstoffverringerung ergreifen müßten als heute. Innerhalb der EU liegt Deutschland zwar, was die Luftschadstoffbelastung angeht, im Mittelfeld, doch werden regional teils sehr hohe Feinstaubbelastungen gemessen.

Warum ergreifen die Regierungen nicht wirksamere Maßnahmen zur Luftreinhaltung? Es gibt ein Anliegen, das mehr wiegt als die Sicherung rein ökonomischer Vorteile oder gar der Schutz der Bevölkerung. Regierungen wollen regieren. Das Motiv ist nicht zu verwechseln mit dem behaupteten Anliegen, von den Menschen Schaden abzuhalten.

Erst wenn deutschland- oder europaweit eine Massenmobilisierung gegen die schmutzige Luft losgetreten würde, sähen die Regierungsmitglieder ihre Vorteilsposition gefährdet und würden sich des Problems ernsthafter annehmen als bisher. Doch wer sollte die Massen mobilisieren? Das vorzeitige und vermeidbare Sterben durch schmutzige Luft betrifft - nicht nur, aber in besonderem Ausmaß - ältere Menschen. Die sind nicht mehr so leistungsfähig und volkswirtschaftlich von keinem großen Nutzen. Sie werden auf diese Weise entsorgt. Ob eine Person einige Jahre früher stirbt, weil sie zeit ihres Lebens schlechte Luft geatmet hat, fällt nicht auf, läßt sich nicht beweisen und man kann niemanden dafür haftbar machen. Mit anderen Worten, die politischen Entscheidungsträger können es sich leisten, das Gefährdungspotential durch schlechte Luft nur zögerlich zu verringern.

In einer Gesellschaft, die auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung, der bezahlten wie auch der unbezahlten, aufgebaut wurde und nur existiert, weil der einzelne darin aufgerieben und verschlissen wird, bis er nicht mehr kann, stellt das vorzeitige Ableben durch Luftverschmutzung eine weitere Variante der Verfügungsgewalt dar, denen die Menschen unterworfen werden.


Fußnote:

[1] https://www.eca.europa.eu/Lists/ECADocuments/SR18_23/SR_AIR_QUALITY_DE.pdf

11. September 2018


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