Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → MEINUNGEN


STANDPUNKT/864: Grüne Konfusion um freigemessenen Atommüll (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 710-711 / 30. Jahrgang, 4. August 2016 - ISSN 0931-4288

Grüne Konfusion um freigemessenen Atommüll
Kommentar

von Thomas Dersee


Während Baden-Württembergs Umweltminister Franz Untersteller ein Moratorium über die Verteilung freigemessenen Atommülls auf die Deponien seines Landes verfügte, um unbeantwortete Fragen des Strahlenschutzes im Hinblick auf die Nachnutzung der Deponieflächen klären zu lassen, wollte sich sein ebenfalls grüner Ministerkollege in Schleswig-Holstein, Robert Habeck, als durchsetzungsfähiger Macher präsentieren. Wie in der Juni-Ausgabe des Strahlentelex berichtet, forderte Habeck alle Beteiligten einschließlich der Umweltverbände in seinem Bundesland auf, eine von seinem Ministerium vorformulierte "Vereinbarung zur ortsnahen Verwertung und Beseitigung von Abfällen mit keiner oder zu vernachlässigender Aktivität aus kerntechnischen Anlagen" zu unterzeichnen. Mit dieser Vereinbarung fordert Habeck die Akzeptanz des sogenannten 10-Mikrosievert-Konzeptes der Freigaberegeln in der geltenden Strahlenschutzverordnung und damit eine Selbstverpflichtung zu einem Kenntnisstand von vor vier Jahrzehnten. [1]

Rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Kommunen, aus der Entsorgungsbranche, aus Anti-Atom-Gruppen, Bürgerinitiativen von Deponiestandorten und aus Umweltverbänden kamen zuletzt am 21. Juli 2016 einer Einladung von Habeck nach und debattierten im Kieler Landeshaus über das weitere Vorgehen beim Rückbau der Atommeiler, über die Optionen und Rahmenbedingungen. Obwohl Interessenpartei, zog Habeck die Moderation an sich, um für seine "Vereinbarung" zu werben. Dirk Seifert [2] berichtet: "Nachdem zwei Deponiestandorte in Schleswig-Holstein die Annahme von schwach belasteten Abrissabfällen aus den AKWs verweigert hatten, war Minister Habeck sichtlich genervt." Denn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich einig: Das Dialog-Angebot von Robert Habeck sei zwar gut und müsse fortgesetzt werden. Aber es brauche einen Neustart bzw. Rücksprung im Verfahren, der es erlaubt, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen und alle Optionen offen zu vergleichen. Dazu brauche es eine "Rückbau-Kommission", fordert zudem der BUND-Landesverband von Schleswig-Holstein. Dessen Landesgeschäftsführer Ole Eggers erklärte - sicherlich zur Freude der AKW-Eigentümer - "alle Anwesenden" seien "bereit, Verantwortung für den anfallenden Atommüll und Bauschutt zu übernehmen". Und es sei nun an den kommunalen Spitzenverbänden den Ball aufzugreifen und einen transparenten und offenen Dialog voranzutreiben, da das Umweltministerium dazu leider nicht mehr bereit scheine. Dirk Seifert stellte zudem fest: "Deutlich wurde auch: Das sogenannte 10 Mikrosievert-Konzept der Strahlenschutzverordnung reicht als Rahmen nicht aus."

In seinem Werben für die im Jahr 2001 unter der Regie seines Parteikollegen und damaligen Bundesumweltministers Jürgen Trittin in die Strahlenschutzverordnung aufgenommenen Regelungen zur Freimessung und Freigabe von rund 95 Prozent der radioaktiv kontaminierten Mengen aus dem Abriß bzw. Rückbau der Atommeiler, stützt sich Habeck auf Christian Küppers vom ehemals ein atomkritisches Image pflegenden Öko-Institut in Darmstadt.

Die Strahlenschutzverordnung deklariert für ihre Vorschriften zur Freimessung und Freigabe der Abrißmaterialien von Atomkraftwerken, daß dabei "für Einzelpersonen der Bevölkerung eine effektive Dosis im Bereich von 10 Mikrosievert im Kalenderjahr" eingehalten wird. Küppers stützt sich in seinen Vorträgen zum Thema heute immer noch und zuletzt am 21. Juli in Kiel auf eine Veröffentlichung der Internationalen Atomenergieagentur in Wien (IAEA) aus dem Jahr 1988 (IAEA Safety Guides No. 89), in der eine Strahlenbelastung von 10 Mikrosievert mit einem Risiko von 1 zu 10 Millionen assoziiert wird. Das heißt, eine von 10 Millionen Personen soll jährlich infolge einer Strahlenbelastung von 10 Mikrosievert an einer strahlenbedingten Erkrankung sterben dürfen. Satzungsgemäßer Zweck dieser Organisation ist die Förderung und Verbreitung der Atomenergie und sie arbeitet auch in der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) mit.

Tatsächlich ging man noch 1998 bei der Entwicklung des 10-Mikrosievert-Konzeptes für eine solche Strahlenbelastung von einem Risiko von 1:10 Millionen aus. Das entsprach der Empfehlung der ICRP aus dem Jahre 1977, obwohl die ICRP bereits 8 Jahre zuvor, nämlich 1990 dafür ein fünffach höheres Risiko von 1:2 Millionen angab (ICRP 60, 1990). 6 Jahre nach dem Inkrafttreten der neuen Strahlenschutzverordnung im Jahr 2001, also im Jahr 2007, legte die ICRP noch einmal 10 Prozent für das Risiko zu und erhöhte auf 1:1,8 Millionen (ICRP 103, 2007).[3] 1990 und 2007 setzte die ICRP damit allerdings lediglich Erkenntnisse aus den 1970er Jahren um und ignorierte sämtliche seitdem erschienenen Studien und unabhängigen Auswertungen der Daten von Hiroshima und Nagasaki. Die ICRP korrigierte auch ihre alten Grenzwertempfehlungen nicht.

Darauf also, auf inzwischen vier Jahrzehnte alte, schon lange überholte Risikoschätzungen, berufen sich heute immer noch Küppers und mit ihm Minister Habeck, wenn sie das 10-Mikrosievert-Konzept der Freigabe von Atommüll rechtfertigen. Ein größeres geistiges Armutszeugnis läßt sich kaum denken.

Wenn die beiden an ihre veralteten Zahlen glauben, dann fordern sie, mit den Freimessungen nach Strahlenschutzverordnung und Freigaben zum Recycling und Verteilen in der Umwelt, 8 Menschenopfer jährlich in Deutschland zu akzeptieren.[4] Und ein Mehrfaches davon, denn die 10 Mikrosievert sind nur als Größenordnung ("im Bereich von" lt. Strahlenschutzverordnung) vorgegeben, worauf auch Küppers hinweist. Den aktuellen Schätzungen der ICRP zufolge wären es allerdings bereits 44 Menschenopfer jährlich [5] und ein Mehrfaches davon.

Glaubt man nicht den Risikoschätzungen der Apologeten der Atomindustrie und den Vertretern der Strahlenanwender, sondern verwendet die Ergebnisse unabhängiger Wissenschaftler, so ergeben sich noch ganz andere Größenordnungen und noch ganz andere Schadensarten als nur Krebstodesfälle. [3, 6] Von den Unwägbarkeiten und Manipulationsmöglichkeiten, die in den Dosis- und Freigabekonzepten enthalten sind, gar nicht zu reden. [7]


Anmerkungen

[1] Thomas Dersee: Selbstverpflichtung zu einem Kenntnisstand von vor vier Jahrzehnten, Strahlentelex 706-707 v. 2.6.2016, S. 8-9,
www.strahlentelex.de/Stx_16_706-707_S08-09.pdf

[2] www.umweltfairaendern.de

[3] Thomas Dersee: Nicht 1 mSv, nicht 10 µSv, sondern 0,25 µSv zusätzliche Strahlenbelastung pro Jahr müssten es sein, würden internationale Regeln angewendet, Strahlentelex 696-697 v. 7.1.2016, S.1-3,
www.strahlentelex.de/Stx_16_696-697_S01-03,pdf

[4] 80 Mill. : 10 Mill. = 8

[5] 80 Mill. : 1,8 Mill. = 44

[6] Hagen Scherb: Risikobasierte, nicht dosisbasierte Sicherheitskriterien müssen für die Atommülllagerung entwickelt und angewendet werden, Strahlentelex 696-697 v. 7.1.2016, S. 3-5,
www.strahlentelex.de/Stx_16_696-697_S03-05.pdf

[7] Werner Neumann: Bis zu 1.000-fach höheres Strahlenrisiko bei der Freigabe von Atommüll aus dem Abriss von Atomkraftwerken, Strahlentelex 662-663 v. 7.8.2014, S. 1-8,
www.strahlentelex.de/Stx_14_662-663_S01-08.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_16_710-711_S02-03.pdf

*

Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, August 2016, Seite 2 - 3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang