Alarmstufe Rot
Kipppunkte, Klimagerechtigkeit und die Letzte Generation
von Jürgen Tallig
Der Widerspruch zwischen Geist und Macht ist nicht auflösbar, das könnte die bittere Bilanz sein nach der Klimakonferenz, angesichts einer Menschheit die sehenden Auges, in wilder Konkurrenz weiter in Richtung einer lebensfeindlichen Erde unterwegs ist und sich selbst angesichts der Klimakatastrophe unfähig zeigt, einer kollektiven Vernunft der Überlebenssicherung zum Durchbruch zu verhelfen.
"Wir befinden uns auf dem Highway in die Klimahölle,- mit dem Fuß auf
dem Gaspedal."
So hat UN-Generalsekretär Gutteres den Stand der Dinge bekanntlich vor und
auch nach der nun schon 27. UN-Klimakonferenz (COP) im ägyptischen
Scharm-el-Scheich, treffend zusammengefasst. Die Akteure einer
entfesselten, weltweiten Konkurrenz wollen auf der vermeintlichen
Erfolgsspur bleiben und sind unfähig und unwillig zu erkennen, dass ihr
fossil-mobiler "Way of Life" in den entropischen Abgrund führt.
Alle Warnsignale stehen längst auf Rot für die Menschheit, das Klima und
das Leben.
Doch durch die Coronapandemie, den schrecklichen Bruderkrieg in der
Ukraine und die folgenden globalen Veränderungen auf den Energie- und
Rohstoffmärkten, wurden die Klimaproblematik und ihre existentielle
Dringlichkeit noch weiter in den Hintergrund gedrängt.
Der aufrüttelnde Sechste Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) wurde kaum wahrgenommen und auch weitere alarmierende Klimastudien haben die Öffentlichkeit und auch die Politik scheinbar nicht wirklich erreicht. Die Ampel schaltete nicht auf Grün für das Klima, sondern auf Grün für die Sicherstellung weiterer fossiler Energieversorgung und für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums, auch wenn dies inzwischen unübersehbar in die Klimakatastrophe führt. Auf diese lebensbedrohliche Fehlorientierung der Politik hinzuweisen, ist ein unbestreitbares demokratisches Verdienst der Aktivisten der "Letzten Generation", die den "Burgfrieden" eines korporativen fossil-mobilen Kapitalismus zu Recht stören und einen sofortigen Kurswechsel fordern.
Zumal die Anzeichen für einen Rollback in der Klimapolitik immer unübersehbarer werden. Die Klimakonferenz in der ägyptischen Wüste war das jüngste Beispiel für den Willen von Kapital und Wirtschaft möglichst jede klimapolitische Limitierung zu verhindern und führte zum wohl größten und folgenreichsten Politikversagen der Weltgeschichte beim finalen Klima- Poker. Aber vielleicht wollte man auch gar keine Ergebnisse, sondern diese gerade verhindern. Es scheint fast so. Welch verbrecherischer Coup.
Die Konferenz brachte außer einer unverbindlichen Bekräftigung des 1,5 Grad-Ziels und einigen unverbindlich zugesagten Almosen für die Opfer der Klimakatastrophe, kein Umsteuern zuwege. Das gastgebende Militärregime, das vom Westen unterstützt wird, tat alles um substantielle Ergebnisse zu verhindern,- so wurde ein Vorschlag Indiens und 80 weiterer Länder zum Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen regelrecht sabotiert. Alleine 636 Lobbyisten für Öl und Gas waren anwesend,- offenbar erfolgreich. Es gab deutsche Geschäftsanbahnungen für Erdgas aus Afrika. Und auch in Katar war Deutschland erfolgreich, wenn schon nicht im Fußball, dann wenigstens bei einem großen Deal mit fossilem Erdgas, - die Entwicklungen gehen also weiter in die völlig falsche Richtung. Es zeigt sich eine neue Allianz von reichen ÖL- und Gasstaaten und westlichen Industrieländern. Es ist sicher nicht übertrieben, von einer fossilen Konterrevolution und einem weitgehenden Scheitern der internationalen Klimapolitik zu sprechen, - trotz erschreckender Klima-Berichte und der unübersehbaren Zuspitzung der Klimakrise.
Es gibt einen erpresserischen Preissenkungsdruck des Westens, nicht nur gegen Russland sondern z.B. auch gegen Saudi-Arabien. Die G7 versuchen ein neues "Preiskartell" zu installieren, um fossile Energie noch billiger zu machen, anstatt eine globale CO2-Steuer und eine Verteuerung der fossilen Energie, als wissenschaftlich empfohlenen Königsweg des Klimaschutzes zu betreiben. Klimapolitik scheint nur noch eine Art Alibi- und Feigenblattfunktion zu haben, beim Great Game um den globalen Kuchen.
Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs.
Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO [1]
könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad jedoch bereits innerhalb der nächsten
fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion
drohen.
Die Letzte Generation erinnert uns daran.
Die Mächtigen der Welt verschleiern, unterdrücken und bekämpfen die
"unbequeme Wahrheit" (siehe mein Kommentar/Artikel "Die Wahrheit stirbt
zuerst" auf dem Blog Postwachstum)[2].
Unsere imperiale Wirtschafts-und Lebensweise hat einen zerstörerischen, parasitären Charakter und verheerende planetare Auswirkungen,- sie überlastet und schädigt weltweit die Biosphäre und destabilisiert das Klima- und Erdsystem, gefährdet also das Leben und das Überleben der Menschheit und ist nicht länger möglich.
BRIEF AN DIE BUNDESREGIERUNG von Letzte Generation Herbst 2022 (Auszüge):
"... Die Erderhitzung schreitet ungebremst voran. Diesen Sommer war es in
Europa so heiß wie noch nie. Urlaubsregionen haben gebrannt, das
Grundwasser sinkt teils auf dramatische Pegel und tausende sind an der
Hitze gestorben. In Pakistan sind 33 Millionen Menschen von einer
Flutkatastrophe betroffen. Über 1500 Menschen starben, darunter 528 Kinder.
Den Bereich sicherer klimatischer Bedingungen haben wir längst verlassen.
Sie versprachen uns ..., Anstrengungen zu unternehmen, die globale
Erderhitzung auf +1,5°C zu begrenzen. Doch das haben Sie nicht getan. Die
1,5°C werden in den kommenden Jahren überschritten werden - voraussichtlich
bis 2030 (spätestens J.T.). Wenn wir 1,5° Erderhitzung aber bereits 2030
erreichen (und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion auslösen J.T.),
was ist "Klimaneutralität 2045" dann anderes als die Gefährdung unseres
Lebens und unserer Zukunft?..."
So ist es, wir können das Klimasystem ganz gewiss nicht noch weitere 23 Jahre überlasten. Immer weiteres Wachstum gibt es nur noch auf Kosten anderer, des Südens, der Natur und der kommenden Generationen.
"Code Red" - "Alarmstufe Rot", so beschreibt der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten, nunmehr schon sechsten Sachstandsbericht die Situation [4].
Hier eine Passage aus der Zusammenfassung für politische
Entscheidungsträger:
"Falls die globale Erwärmung über 1,5 °C hinausgeht, auch vorübergehend in
Form eines Overshoots, dann werden eine Vielzahl menschlicher wie auch
natürlicher Systeme zusätzlichen schwerwiegenden Risiken ausgesetzt sein.
Abhängig davon, wie groß die Temperaturüberschreitung ausfällt oder wie
lange sie andauert, werden manche Klimawandelfolgen eine zusätzliche
Freisetzung von Treibhausgasen bewirken. Wieder andere Folgen werden
unumkehrbar sein, selbst gesetzt den Fall, dass die Erwärmung später wieder
verringert wird."
Ein "weiter so" ist also unverantwortlich und führt in die permanente ökologische Katastrophe und zerstört die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen,- auch bei uns.
UN-Chef Guterres schlussfolgerte aus dem Bericht:
"Klimaaktivisten
werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt. Aber die wirklich
gefährlichen Radikalen sind diejenigen, die die Produktion von fossiler
Energie weiter erhöhen."
Und nicht drastisch reduzieren, ist hinzuzufügen.
Noch nie sei die Konzentration an Treibhausgasen in der Erdatmosphäre so
schnell gestiegen wie in den vergangenen Jahren. Die Weltklimaorganisation
WMO warnte bereits 2017: Wenn der CO2-Gehalt weiter rapide steigt, könnten
beispiellose Klimaveränderungen "mit schweren ökologischen und
wirtschaftlichen Störungen" ausgelöst werden. Eine derart hohe
Treibhausgaskonzentration wie heute gab es zum letzten Mal vor etwa drei
bis fünf Millionen Jahren (Klimaerwärmung, "Wir vererben einen unwirtlichen
Planeten - ZEIT ONLINE, 30.10.2017)[5]."
Eine brandaktuelle Studie namhafter Klimawissenschaftler mit dem Titel "Klima-Endspiel" (2022) verweist auf die bisherige Vernachlässigung und Unterschätzung von Kipppunkten im Klima- und Erdsystem und auf eine bisher viel zu optimistische Einschätzung von Risiken. Eine schnelle Erderwärmung von 3 Grad gefährdet möglicherweise bereits das Überleben der Menschheit (siehe: Klimakrise: Was passiert bei drei Grad Erderwärmung, Spektrum der Wissenschaften)[6]
Eine weitere neue Klimastudie hat mehr als 200 Forschungsberichte einbezogen [7], um abzuschätzen, wann sogenannte Klima-Kipppunkte (CTP) erreicht werden. In der Zeitschrift Science warnen die Autoren, u.a. Johan Rockström, Timothy M. Lenton, David Armstrong McKay, von denen einige 2008 die erste große Arbeit über Kipppunkte veröffentlicht hatten, dass die sich selbst verstärkenden Rückkopplungen schon beginnen und bei über 1,5 Grad Erhitzung irreversibel werden. (Siehe: Neue Klimastudie: Warum wir jetzt handeln müssen, t3n, 09.09.2022)[8]
Der bekannte Klimawissenschaftler Mojib Latif hat 2022 ein neues Buch
veröffentlicht: "COUNTDOWN. Unsere Zeit läuft ab - was wir der
Klimakatastrophe noch entgegensetzen können". Die spekulativen Annahmen,
auf denen die derzeitige hinhaltende "Klimapolitik" beruht, werden durch
zahlreiche Aussagen seines Buches grundlegend in Frage gestellt.
Die Abschnitte zu drohenden Kipppunkten, schwindenden CO2-Senken, zu den
"schöngerechneten" CO2-Budgets und zu den Spekulationen über
"CO2-Rückholung" im großen Stil verdeutlichen, wie willkürlich
wissenschaftliche Tatsachen an wirtschaftliche Interessen angepasst werden.
Es wird auch deutlich gesagt, dass Deutschland sein Restbudget an CO2 bei
gleichbleibenden Emissionen bereits in spätestens 10 Jahren ausgeschöpft
haben wird.
Eine Tatsache, die bislang bei allen klimapolitischen Debatten und
Planungen einfach ignoriert wird.
Wir befinden uns längst in einer chronischen Klima- und Wasserkrise und haben offensichtlich die atmosphärische Zirkulation grundlegend verändert, wie das absonderliche Jo-Jo-Wetter zeigt, das uns regelmäßig arktische Polarluft beschert und die Niederschläge verschoben hat.
Doch auch die neue Bundesregierung hielt es bisher, selbst angesichts austrocknender und kippender Flüsse und Seen, brennender und schwer geschädigter Wälder und massiver Ernteausfälle, nicht für notwendig den Klimanotstand auszurufen und entschlossen gegen die Klimakrise vorzugehen. Sie nahm die "Energiekrise" sogar zum Anlass, bisherige Klimaschutzmaßnahmen zu verschieben oder gar rückgängig zu machen.
So wurde jetzt die gesetzlich vorgesehene Erhöhung des nationalen CO2-Preises [9] von 30 auf 35 Euro je Tonne um ein Jahr auf 2024 verschoben. Eine genauso unsinnige Maßnahme, wie die Abschaffung der EEG-Umlage. Es mutet schon sehr sonderbar an, wenn eine Regierung mir grüner Beteiligung, sogar die zaghaften klimapolitischen Maßnahmen der früheren CDU-Regierung rückgängig macht und gleichzeitig den Energieverbrauch zusätzlich subventioniert, was nichts anderes als Protektionismus und ein verdecktes Konjunkturprogramm ist und mit Klimaschutz natürlich gar nichts zu tun hat. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck mutierte unversehens blitzschnell vom Klimaminister zum Wachstums- und Energieminister und die Grünen reihten sich eifrig ein in die Reihe der besorgten Krankenpfleger am "Siechenbett" des Kapitalismus und propagierten einen frei erfundenen Energienotstand.
Wenn dann auch noch "das Beste", was die Koalition nach eigener Aussage
bisher zustande gebracht hat, wieder rückgängig gemacht wird und das
Nahverkehrsticket 49 statt 9 Euro kosten soll, dann verliert diese
Regierung zu Recht jede klimapolitische und soziale Glaubwürdigkeit. Ein
guter Kompromiss wäre möglicherweise ein 6 Euro- Wochenticket und ein 30
Euro- Monatsticket.
Jeden Tag tobt, angesichts der Klimakatastrophe
der Verkehrswahnsinn auf den Straßen.
Alleine die jährlichen Staus
in Deutschland reichen 40 mal um den Erdball und die Emissionen und Schäden
durch den Verkehrssektor sind gigantisch,- werden allerdings der
Allgemeinheit und den kommenden Generationen aufgeladen. Wo bleiben denn
die überfälligen Fahr- und Flugverbote in der Energie- und Klimakrise"
Die EU und Deutschland haben sich bekanntlich zu Emissionsreduzierungen um 50 bzw. 65% bis 2030 verpflichtet und zu Null Emissionen bis 2050 bzw. bis 2045, was zwar völlig unzureichend ist, wozu aber natürlich schnellstmöglich emissionsarme Verkehrssysteme notwendig sind.
Geld für einen günstigen oder gar kostenlosen ÖPNV wäre genug da, Herr Lindner, denn fossile Energie und klimazerstörender Verkehr werden nachwievor hoch subventioniert,- was nicht länger hinnehmbar ist. Diese Subventionen müssten nur umgeleitet werden in klimafreundlichen Verkehr. Auch eine wirksame CO2-Steuer könnte direkt zur Finanzierung des ÖPNV beitragen.
Für die wirklich "systemrelevanten" Strukturen war ja schon immer genug Geld da. Man erinnere sich nur an die Bankenrettung 2008/2009, an die Corona-"Wiederaufbau"-Pakete, an die jüngste Konjunkturspritze für die Rüstungsindustrie und die letzten 200 Milliarden für Energiesubventionen. In den letzten drei Jahren wurden mehr als 550 Mrd. Euro Schulden gemacht (plus 200), zu großen Teilen zugunsten von Großkonzernen und natürlich zu Lasten kommender Regierungen und also auch zu Lasten der Jüngeren und der kommenden Generationen.
Die reichsten 10% der Haushalte in Deutschland verursachen übrigens fast genauso viele Treibhausgasemissionen, wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung. Während die Reichen unverändert eine unsittliche Energieverschwendung betreiben, SUV fahren, in 200 m²-Lofts und Villen wohnen, um die Welt jetten und höhere Energiepreise aus der Portokasse bezahlen, sollen die Ärmeren den Gürtel enger schnallen und auch die Öffentlichen sollen teuer bleiben. Es kann doch aber nicht sein, dass Energieverschwendung und Gewinne der Konzerne und der Reichen weiter subventioniert werden und die kleinen Leute und die kommenden Generationen die Zeche dafür zahlen sollen. Das ist nicht nur ungerecht, es ist auch rechtswidrig (siehe der Beschuss des BVG zum Klimagesetz, siehe nächster Abschnitt) und zerstört die Zukunft von Milliarden Menschen. Es gibt ein völkerrechtlich verbrieftes Recht auf den Fortbestand des Lebens und auf ein lebenswertes Leben für Alle,- aber Papier ist bekanntlich geduldig.
Die einzig hinreichend regulierungsfähige Macht, der Staat, befindet sich in allen großen westlichen Ländern nachwievor fest in der Hand kapitalhöriger Kräfte, die nicht die Interessen der Bürger und der Umwelt, sondern eben vor allem die Interessen des Großkapitals und der Monopole vertreten,- woran in Deutschland bisher auch die Regierungsbeteiligung der GRÜNEN nichts ändern konnte.
Prof. Latif dazu:
"Die Gewinnmaximierung um jeden Preis, ob zu Lasten der Umwelt oder des
Staates (also des Steuerzahlers) ist asozial. Die Übernahme von
Verantwortung durch das gerechte Teilen von Vermögen und Gewinnen, gehört
unbedingt zu der nötigen kulturellen Revolution...", - wobei hierzu wohl
eine politische Revolution nötig sein dürfte.
Die Letzte Generation verteidigt die Rechte und Ansprüche der Jungen und
all der kommenden Generationen, die gerade auf dem Altar der
Gegenwartsinteressen und des Profits geopfert werden. Sie schreiben weiter
in ihrem Brief an die Bundesregierung:
"Wir sind erschüttert, dass
Sie als Verantwortliche nicht alles tun, was möglich ist, um uns vor dem
Klimakollaps zu schützen. Die Landwirtschaft ist weiterhin nicht
nachhaltig, der Verkehrssektor wird nicht umgebaut, gutes Essen wird
weiterhin weggeworfen, es wird neue fossile Infrastruktur gebaut... Wir
sind erschüttert, dass Sie als Verantwortliche in diesem Land nicht einmal
anstreben, das Notwendige zu tun, um diesen Kollaps des Klimas zu
verhindern. Dass die Ziele, die Sie sich setzen, nicht mit der Realität
vereinbar sind.
Handeln wir jetzt nicht entschlossen und tun nicht
alles, was in unserer Macht steht, werden wir unsere Lebensgrundlagen
unwiederbringlich vernichten."
Völlig berechtigte Vorwürfe
angesichts der Warnungen der Wissenschaft (siehe: World Scientists' Warning
of a Climate Emergency, 2022)[10].
Zudem hatte ja auch das höchste deutsche Gericht in seinem Beschluss zum
Klimagesetz von 2021 die Politik zum Handeln aufgefordert, siehe der
folgende Auszug aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgericht:
"III. Grundrechte sind aber dadurch verletzt, dass die nach § 3
Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 bis
zum Jahr 2030 zugelassenen Emissionsmengen die nach 2030 noch verbleibenden
Emissionsmöglichkeiten erheblich reduzieren und dadurch praktisch jegliche
grundrechtlich geschützte Freiheit gefährdet ist. Als intertemporale
Freiheitssicherung schützen die Grundrechte die Beschwerdeführenden hier
vor einer umfassenden Freiheitsgefährdung durch einseitige Verlagerung der
durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft.
Der Gesetzgeber - (also die sich jetzt äußernden Politiker, inkl.
Bundespräsident) hätte Vorkehrungen zur Gewährleistung eines
freiheitsschonenden Übergangs in die Klimaneutralität treffen müssen, an
denen es bislang fehlt."[11]
Fragt sich nur, welches Gericht real die regierenden Rechtsverletzer auf ihre Verpflichtungen hinweisen und sie zur Verantwortung ziehen wird für die andauernde Verletzung internationalen und nationalen Rechts. Derzeit werden die Klimaschützer, die auf diese Rechtsverletzungen aufmerksam machen, bestraft und sogar in Vorsorgehaft genommen (bei den Nazis hieß das Schutzhaft), - ja wo leben wir denn?
Was gerade passiert ist Hetze und üble populistische Meinungs- und Stimmungsmache und kein demokratischer Aushandlungsprozess,- darüber sollten wir uns keine Illusionen machen. Gegen die Macht der Politik und der Medien anzukommen ist natürlich schwierig,- fossil-mobile Großkonzerne und großes Geld haben einen übermäßigen, undemokratischen Einfluss auf die öffentliche Meinung und politische Entscheidungsprozesse (Lobbyismus).
Klimaschutz zu realisieren bedeutet demnach zuallererst auch, den Schutz und den Ausbau der Demokratie gegen den demokratisch nicht legitimierten, allein auf Macht und Geld beruhenden Zugriff kleiner, aber sehr mächtiger Minderheiten.
Noch einmal aus dem BRIEF AN DIE BUNDESREGIERUNG von Letzte Generation vom
Herbst 2022:
"... Es wird ohne unser Zutun immer heißer werden, Milliarden Menschen
werden leiden und sterben. Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung
wird ins Wanken geraten. ...
Welches Recht haben wir, ein solches Unheil über zahllose Menschen zu
bringen? ... Wir alle sind die letzte Generation, die das Schicksal der
Menschheit noch anders entscheiden kann.
Wir als Bürgerinnen und Bürger dieser Demokratie tragen Verantwortung. Wir
erachten es als unsere Pflicht, alles Gewaltfreie zu tun, was in unserer
Macht steht, um dieses Unrecht zu beseitigen. Die Vernichtung unserer
Lebensgrundlagen einfach hinzunehmen, können wir nicht mit unserem Gewissen
vereinbaren.
Wir erwarten ..., dass Sie die Demokratie stärken, den Menschen Vertrauen
schenken, über ihre Lebensbedingungen in Bürger:innenräten zu entscheiden,
dass Sie die Gesellschaft gerechter machen, statt Wenige von der Ausbeutung
und dem Leid Vieler profitieren zu lassen ...".
Es ist allerhöchste Zeit, zu erkennen, dass es unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht geben kann, aus politischen, ökonomischen und ökologischen Gründen. Es bedeutet früher oder später Krieg und es bedeutet vor allem eine irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen. Früher oder später prallen die Interessen auch militärisch aufeinander, wenn man sich nicht beschränken und verständigen will. Es gilt einen Weltenbrand gleich in mehrfacher Hinsicht zu verhindern. Wir entscheiden jetzt über Leben und Tod, über die Zukunft all der vielen Milliarden Menschen, die noch nach uns auf der Erde leben wollen.
Zum Glück sind wir Menschen und zu Mitgefühl, Solidarität und Liebe fähig; wir sind mehr oder weniger mit Gerechtigkeitssinn und einem Empfinden für Wahrheit und Lüge begabt, nicht wenige auch mit Mut und Uneigennützigkeit,- wir sind nicht nur eine manipulierbare Manövriermasse. Nein, es gibt einen menschlichen Faktor, mit dem man rechnen sollte...
Mich erinnert die gegenwärtige Situation sehr an die Endzeit der DDR, wo eine nicht lernfähige Machtelite die Zeichen der Zeit nicht erkannte und sich festklammerte an nicht zukunftsfähigen Strukturen und diese mit allen Mitteln verteidigte. Das scheint mir heute ganz ähnlich zu sein. Auch damals waren es vor allem unangepasste junge Menschen, die für eine Demokratisierung und Reform des Landes aktiv wurden und Ihre Angst überwindend, Freiräume und Veränderungen erkämpft haben und sich die Freiheit nahmen, über ihre Angelegenheiten mit zu entscheiden. Sie legten den Finger in die Wunden und zwangen das verkrustete System und jeden Einzelnen, sich zu bewegen. Später nannte man sie "Helden der friedlichen Revolution".
Auch heute befinden wir uns in einer Entscheidungssituation, bei der es
aber um sehr viel mehr geht. Der jüngst verstorbene Michael Gorbatschow
sagte seinerzeit sinngemäß: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."
Ein Satz, der auch heute noch gültig ist und der angesichts von Umwelt-
und Klimakrise und Krieg noch eine ganz andere, neue und bedrohliche
Dimension bekommen hat. Wieder sind es vor allem junge Menschen, wie die
von "Ende Gelände" und "Letzte Generation", die mit hohem Einsatz
notwendige Veränderungen und die Einhaltung gesetzlicher Verpflichtungen
einfordern. Sie haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie mit friedlichen
Mitteln auf die Rechtsverletzungen der Mächtigen aufmerksam machen und
gegen die Fortsetzung des Klimaverbrechens und die Zerstörung ihrer Zukunft
protestieren (bloß lasst die Kunst aus dem Spiel!). Respekt und Bewunderung
haben sie ganz gewiss verdient,- doch das alleine reicht nicht.
Es braucht aktive Solidarität mit den mutigen Klimaschützern und eine
nationale und globale Offensive der Klimabewegung!
So gibt es einen Aufruf "Klimaschutz ist kein Verbrechen - Solidarität mit der 'Letzten Generation'" von Kulturschaffenden und Künstlern, den bereits 1300 mehr oder weniger Prominente unterschrieben haben: [12].
Jeder sollte jetzt entscheiden, was er tun kann für die Bewahrung des Lebens und die Verhinderung der Klimakatastrophe. Es gilt einen Weg des Friedens zwischen den Menschen und mit der Natur zu finden.Der erste Schritt ist vielleicht, sich darüber klar zu werden, dass unsere vermeintliche Normalität keineswegs normal ist, sondern Alarmstufe Rot für das Leben, den Planeten und die Menschheit bedeutet. Wir sind die letzte Generation die die Klimakatastrophe noch verhindern kann, sagte einst Barack Obama.
Die Letzte Generation soll auch das letzte Wort haben, mit Worten die mich sehr berührt haben. (Es folgen Auszüge aus einem Brief vom 19.11.2022 von Judith Beadle, Charlotte Schwarzer, Miriam Meyer und Elena Thor, vier Aktivistinnen von Letzte Generation, die zu der Zeit in Vorsorgehaft in der Justizvollzuganstalt (JVA) Stadelheim einsaßen, inzwischen aber nach starkem gesellschaftlichem Druck freigelassen wurden):
"... wenn wir die Chance zum Handeln jetzt verstreichen lassen und in 2-3
Jahren klar ist, dass wir die kritische Grenze überschreiten werden und die
Erderwärmung nicht mehr auf ein für uns lebensfreundliches Maß begrenzen
können, dann werden wir nicht nur unsere Lebensgrundlage verlieren, sondern
auch unsere Hoffnung und Menschlichkeit.
Wir sind eingesperrt, aber auch die Freiheit geben wir nicht auf. Denn was
ist das für eine Freiheit, in der wir ungehindert einem zerstörerischen
Alltag nachgehen können, in einem System, das mit "Freiheit" Privilegien
meint und uns rücksichtslosen Egoismus als Selbstverwirklichung verkauft?
Wenn "Freiheit" Zerstörung bedeutet und Leid und Tod unzähliger Menschen
voraussetzt, dann verabschieden wir uns ohne Bedauern von ihr.
Wir geben nichts auf und wir geben nicht auf. Wir kämpfen für Vernunft und
Liebe, angetrieben von der Zuversicht, dass sich die Menschheit noch in
diesem letzten Moment für das Leben entscheidet. Wir sind friedlich und
entschlossen und wir stellen uns gegen eine Normalität, die nicht länger
sein darf. Wir haben uns entschieden: Lieber sind wir Straftäter vor dem
Gesetz als mitschuldig am größten Verbrechen der Menschheit. Und wir bitten
euch: Schaut hin und entscheidet auch ihr euch für das Leben."
(Der Autor war Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig)
Links:
[1]
https://library.wmo.int/index.php?lvl=notice_display&id=22083#.Y5HsjMuZMY0
[2] https://www.postwachstum.de/prioritaet-fuer-wachstum-oder-klimaschutz-20190215
[3] https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Sechster_Sachstandsbericht_des_IPCC
[5] https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-10/klimaerwaermung-treibhausgas-konzentration-atmosphaere-weltwetterorganisation?page=2&utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
[6] https://www.spektrum.de/news/klimakrise-was-passiert-bei-drei-grad-erderwaermung/2044870
[7] https://www.science.org/doi/10.1126/science.abn7950#con1
[8] https://t3n.de/consent?redirecturl=%2Fnews%2Fklimastudie-warnt-5-kippunkte-15-grad-erreicht-klimawandel-1497539%2F
[9] https://www.klimareporter.de/verkehr/corona-cent-auf-den-co2-preis
[10]
https://academic.oup.com/bioscience/article/72/12/1149/6764747?login=false
[11]
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html
[12] https://klimaschutzistkeinverbrechen.com/
Weitere Informationen:
www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.comDa
*
Quelle:
Jürgen Tallig, 14. Dezember 2022
mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 16. Dezember 2022
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