Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → REDAKTION

ATOM/355: Eurelectric-Studie zur "CO2-Neutralität" mit Akws (SB)


Machbarkeitsstudie der europäischen Stromversorger unterstellt Kohlenstoffneutralität bis zum Jahre 2050


In einer am 10. November dem Europaparlament vorgelegten Studie der europäischen Elektrizitätswirtschaft wird der Nuklearenergie eine bescheidene Rolle bei der Senkung der CO2-Emissionen bis zum Jahre 2050 zugesprochen. Eurelectric, die Vereinigung der europäischen Elektrizitätsindustrie, kommt in der Studie "Power Choices - Pathway to Carbon-Neutral Electricity in Europe by 2050" [1] zu dem Schluß, daß die Stromversorger auch dann das Klimaschutzziel der sogenannten Kohlenstoffneutralität im Jahre 2050 erreichen, wenn beispielsweise Deutschland seinen Ausstieg aus der Atomenergie beibehält. Das nach der PRIMES-Modellrechnung bestimmte "Markt-Optimum" sieht unter anderem vor, daß "alle Energieerzeugungsoptionen" verfügbar bleiben, einschließlich der Nuklearenergie in den Ländern, in denen sie heute schon erzeugt wird, aber daß die "nationalen Ausstiegspolitiken" erhalten bleiben können.

Die Nuklearlobby-Website World Nuclear News [2] formuliert es allerdings anders herum: Eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke und ein Neubau würden laut der Studie dafür sorgen, daß das Ziel der angestrebten Kohlenstoffneutralität fünf Jahre früher erreicht wird. Damit will die Website sagen, daß Atomkraftwerke unverzichtbar sind und einen bedeutenden Beitrag zum Klimaschutz leisten. Diese Herleitung aus der Studie täuscht jedoch. Selbst der Verband Eurelectric, deren Mitglieder rund 70 Prozent des in der Europäischen Union erzeugten Strom produzieren, nehmen in dem Positivszenario mit der Bezeichnung Power Choices (das mit dem etwas weniger klimafreundlichen Baseline-Szenario kontrastiert wird) an, daß die Produktion erneuerbarer Energien "dramatisch" zunehmen wird. Und das, obgleich ihre Förderung voraussichtlich ab 2030 wegfalle. Erneuerbare Energien werden mit einem Anteil von 38 Prozent (1800 TWh) an der Gesamtenergieproduktion bis 2050 die größte Einzelquelle für Energien in Europa sein. Im Jahr 2005 betrug ihr Anteil knapp über 15 Prozent.

Demgegenüber wird zwar angenommen, daß auch die Nuklearenergie einen Zuwachs von 950 TWh auf 1300 TWh verzeichnet, dennoch wird ihr Anteil bis 2050 von 31 Prozent im Jahr 2005 auf 27 Prozent sinken - und das trotz des in diesem Szenario angenommenen Ausstiegs aus dem Ausstieg in Deutschland sowie des Neubaus von Atomkraftwerken in der Europäischen Union.

Ein erhebliches CO2-Einsparpotential wird in der Studie dem technologischen Fortschritt, Handel mit Kohlenstoffzertifikaten und der Einführung der noch zu entwickelnden CCS-Technologie (Auffangen, verflüssigen und lagern von Kohlendioxidemissionen) attestiert. Außerdem wird angenommen, daß die Kosten der CO2-Erzeugung in sämtlichen Wirtschaftszweigen internalisiert werden, nicht nur in der Energiewirtschaft.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung verfolgt eine andere Politik als ihre Vorgängerin und wird die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in der ersten Regierungserklärung nach ihrer Wiederwahl, daß Atomenergie als "Brückentechnologie ... ein unverzichtbarer Teil unseres Energiemixes" bleiben wird. Obgleich die Anlagen bereits stehen und nur noch gewartet werden müssen - somit die energetischen Aufwände von Akw-Neubauten wegfallen -, greift das Argument nur sehr bedingt, daß dies ein Beitrag zum Klimaschutz sei. Wie gesagt, laut der Studie des europäischen Stromversorgerverbands könnten Laufzeitverlängerungen und Akw-Neubauten in der EU das Ziel der Kohlenstoffneutralität bis 2050 lediglich um fünf Jahre vorverlegen.

Abgesehen davon, daß erhebliche Zweifel daran bestehen, daß in der Studie jene CO2-Emissionen berücksichtigt wurden, für die ein nukleares Endlager in den, sagen wir, nächsten zehntausend Jahren verantwortlich ist, während die hochradioaktiven Substanzen abkühlen und zerfallen, so daß sie laufend überwacht und bei absehbaren Schäden ihrer Behältnisse neu in Glas eingeschmolzen oder sonstwie verpackt werden müssen, würde die Bevölkerung in Deutschland aufgrund der brisanten Nukleartechnologie einer permanenten Strahlengefahr ausgesetzt sein - nur um das Klimaziel in 35 statt 40 Jahren zu erreichen.

Noch nicht bedacht wurde bislang, daß sich zahlreiche alternative Möglichkeiten der CO2-Einsparung anbieten, um Kohlenstoffneutralität zu einem früheren Zeitpunkt herzustellen. Denn die europäischen Stromerzeuger beabsichtigen mit dem Szenario Power Choices nicht, aufzuzeigen, was in absoluten Zahlen an CO2-Ersparnis drin liegt, sondern sie wollen beschreiben, was ihrer Vorstellung nach wünschenswert und machbar ist. Dazu gehört eben auch der Weiterbetrieb und Neubau von Atomkraftwerken. Das war der Verband seinen Mitgliedern schuldig.

Einer weiteren Klärung bedarf der Begriff der Kohlenstoffneutralität. Eurelectric versteht darunter die präzise, transparente Berechnung der Emissionen; die Reduzierung der Emissionen bis zum äußersten Machbaren innerhalb eines Sektors; und den rechnerischen Ausgleich der verbleibenden Emissionen via Technologietransfer, Aufforstung und andere Mechanismen.

Es handelt sich mithin um eine rechnerische Kohlenstoffneutralität. Wer das akzeptiert, sollte dann auch bereit sein, jene fünf Jahre, die der Akw-Neubau und die Laufzeitverlängerungen angeblich dem Klimaschutz bringen, rechnerisch zu kompensieren ... und auf Nuklearenergie in Deutschland sowie Akw-Neubauten zu verzichten. Darüber hinaus haben Forschungsinstitute und Umweltorganisationen längst Szenarien erstellt, wonach die Nuklearenergie rückhaltlos verzichtbar ist, und laut dem Umweltbundesamt bremsen Akw-Laufzeitverlängerungen in Deutschland ohnehin die Weiterentwicklung von erneuerbaren Energien.

Beschränkt man sich jedoch zunächst auf die Publikationen aus der Energiewirtschaft selbst, so läßt sich eine Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke nicht ernsthaft mit dem Klimaschutz begründen.


*


Anmerkungen:

[1]"Power Choices - Pathway to Carbon-Neutral Electricity in Europe by 2050", Eurelectric - Electricity for Europe
http://www.eurelectric.org/PublicDoc.asp?ID=60627

[2] "Eurelectric: Keep nuclear for emissions cuts", 16. November 2009
http://www.world-nuclear-news.org/EE_Eurelectric_Keep_nuclear_for_ emissions_cuts_1611092.html

17. November 2009