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ATOM/362: Menschenkette - Symbol des angeketteten Menschen? (SB)


120 Kilometer lange Menschenkette zwischen den Akw-Standorten Krümmel und Brunsbüttel

Die Anti-Akw-Bewegung droht zu scheitern, wenn sie ihr Anliegen nicht mit einer grundlegenden Herrschaftskritik verknüpft


Die Menschenkette, die am 24. April zwischen den Akw-Standorten Krümmel und Brunsbüttel aufgebaut wurde und an der sich 120.000 Menschen beteiligten, hat die Erwartungen der Organisatoren weit übertroffen. Mit einem so großen Zuspruch hatten sie nicht gerechnet, zumal weitere 26.000 Menschen am Zwischenlager in Ahaus und am Akw Biblis demonstrierten. Zwei Tage vor dem 24. Jahrestag der bislang größten Katastrophe der sogenannten zivilen Nutzung der Nuklearenergie, dem Super-GAU im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl vom 26. April 1986, hat sich die Anti-Akw-Bewegung nicht etwa zurückgemeldet, wie in der Presse kolportiert wurde, sondern sie hat ihre Kontinuität unter Beweis gestellt. Einer solchen Bewegung wäre es sogar zuzutrauen, daß sie eine Menschenkette quer durch die gesamte Bundesrepublik, von Flensburg bis München, als Symbol des gesamtdeutschen Widerstands gegen die Atomkraft auf die Beine stellt. Das Symbol könnte nicht ignoriert werden, daran würden die karrierebewußten Berufspolitiker nicht vorbeischauen.

Erscheint das allgemeine Protestpotential in Deutschland auch relativ schwach entwickelt, so führt der Widerstand gegen die Atomkraft noch immer viele Menschen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund zusammen. Ob Mitglied einer bürgerlichen Partei oder einer christlichen Gruppe, ob Autonomer oder Biobauer, Lehrer oder Schüler, Wähler oder Nichtwähler - sie alle eint die Ablehnung der Atomenergie.

Ein Teil der Demonstrierenden vom vergangenen Samstag wird vielleicht ahnen, daß aktives Eintreten gegen die Atomkraft mehr bedeuten könnte, als sich lediglich gegen eine bestimmte Energiegewinnungsform auszusprechen. Mit den Atomkraftwerken wird zurecht mehr assoziiert, als die Sorge vor Schädigungen der Gesundheit aufgrund radioaktiver Verstrahlungen. Nicht, daß diese Sorge zu vernachlässigen wäre! Fast eine Million Menschen sind nach Einschätzung von Experten als Folge der Explosion des Blocks 4 des Akw Tschernobyl und der sich anschließend über ganz Europa und darüber hinaus ausbreitenden radioaktiven Wolke an Krebs gestorben.

Abgesehen davon verdient der Normalbetrieb von Atomkraftwerken ebenfalls die Bezeichnung Katastrophe. Die Ursache der Erhöhung der Krebsrate unter Kindern, die in der Nähe der Meiler leben oder eine Zeitlang gelebt haben, in denen die nukleare Kettenreaktion mit einigem technologischen Aufwand verlangsamt wird, damit es zu keiner Explosion kommt, gilt offiziell als ungeklärt. Aber ein anderer Standpunkt ist von einer Regierung (rot-grün) auch nicht zu erwarten, die im Einvernehmen mit der Energiewirtschaft einen als "unumkehrbaren Atomenergieausstieg" genannten Energiekonsensvertrag zur Bestandssicherung der Meiler ausbaldowert hat und deren Nachfolger (schwarz-gelb) diese Steilvorlage dankend annimmt und eine Laufzeitverlängerung um mehrere Jahrzehnte beschließen könnte.

Das ist das bescheidene Resultat einer Massenbewegung der 1970er und 80er Jahre und des Versuchs der Anti-Akw-Bewegung über den Parlamentarismus eine vollständige energiepolitische Abkehr von der Atomenergie durchzusetzen. Versuch gescheitert, könnte man nüchtern konstatieren. Die deutsche Energiewirtschaft nimmt ein paar ältere Akws vom Netz, betreibt den großen Rest weiter und verlegt sich ansonsten aufs Auslandsgeschäft ... Ganz so einfach verhält es sich selbstverständlich nicht. Denn wo ständen wir heute, wenn es die Anti-Akw-Bewegung nicht gegeben hätte? Womöglich wären in Deutschland so viele Atomkraftwerke errichtet worden wie in Frankreich. Deshalb ließe sich mit einiger Berechtigung behaupten, daß eine Massenbewegung in einer Demokratie etwas bewirkt. Aber ist das nicht bescheiden verglichen mit der Vision einer atomenergiefreien Gesellschaft?

Menschenketten und ähnliche Demonstrationsformen gegen die Kernenergie hat es auch in früheren Zeiten gegeben. Das sollte nachdenklich machen mit Blick auf die Bewertung, was als Erfolg ausgewiesen wird. Gemessen an den Erwartungen und auch gemessen an der allgemein geringen Protestbereitschaft in Deutschland war die Menschenkette zwischen Krümmel und Brunsbüttel ein großer Erfolg, der gern auch gefeiert werden kann. Problematisch wird es jedoch, sollten die Erfolgskriterien selbstreferentiell bleiben. Die Anti-Akw-Bewegung wird scheitern, wenn es ihr nicht gelingt, ihr Anliegen in einen übergreifenden Kontext zu stellen und auch das gesellschaftliche Modell in Frage zu stellen, das seit einem halben Jahrhundert die Verstrahlung der Bevölkerung als Kollateralschaden in Kauf nimmt.

Zur Debatte steht nicht und stand auch in der Vergangenheit nie allein die bloße Abkehr von der Atomenergie. Das hatten diejenigen, die sich zu einer Partei formierten und behaupteten, "das System" von innen her aufbrechen zu wollen, nicht erst auf ihrem langen Marsch durch die Institutionen vergessen, sondern noch bevor sie dazu angetreten waren. Die revolutionäre Idee verkam schließlich zu einem Habitus. Da trug erstmals ein Parlamentarier Turnschuhe im "hohen Haus" - nein, wie aufregend! Und wie revolutionär es doch war, daß gestrickt wurde, während vorn am Pult Schlipsträger Schnarchreden hielten.

Atomkraftwerke symbolisieren das Gewaltverhältnis zwischen dem mächtigen Staat und dem fast vollständig entmündigten Souverän. Um die Meiler zu schützen ergreifen die Exekutivorgane weitreichende Maßnahmen gegen diejenigen, von denen sie letztlich in eine privilegierte Lage gebracht wurden, die es ihnen ermöglicht, ihre Interessen gegenüber der Bevölkerung durchzusetzen. Eine Anti-Akw-Bewegung, die Distanz zu anderen gesellschaftlichen Protestbewegungen wahrt, wird in ihrem emanzipatorischen Streben stecken und auf der Strecke bleiben. Möglicherweise wird eines Tages sogar eine Partei wie die Grünen der Logik der Akw-Betreiber folgen und die Atomenergie als sicher, klimafreundlich und unverzichtbar bei der Bewältigung der Aufgaben der zukünftigen Krisen bezeichnen. Wenn ein entsprechend hoher Druck aufgebaut wurde und durch Kompromiß-Schmankerl begleitet wird - das kann ein vermeintlicher Sachzwang zur Sicherung der Energieversorgung Deutschlands in Zeiten von Peak Oil sein - wird sich herausstellen, wer korrumpierbar ist und wer nicht und an seinem Ziel festhält.

Wenn die Menschenkette zwischen Brunsbüttel und Krümmel kein Symbol des in Ketten gelegten Menschen sein soll, müßten die Beteiligten zunächst einmal die Kette erkennen, mit der sie gebunden sind. Das wäre die Voraussetzung dafür, sie zu sprengen. Die gesellschaftlichen Widersprüche beschränken sich nicht auf eine bestimmte Energiegewinnungsform. Sie existierten auch dann, wenn in Deutschland sämtliche Meiler abgeschaltet wären und sich beispielsweise in Nord- und Ostsee so viele Windräder drehten und Speicherkapazitäten aufgebaut wären, daß die von Akws erzeugte elektrische Energie zuverlässig ersetzt werden könnte.

26. April 2010