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ATOM/399: Fukushima-GAU - Weitere Hot spots werden evakuiert (SB)


Nukleares Testfeld Japan

Kommt nach der Phase der Evakuierung die des Ausschlußes?


Erneut sehen sich die japanischen Behörden genötigt, die Evakuierungsmaßnahmen wegen der hohen radioaktiven Strahlenwerte als Folge der anhaltenden Havarie des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi auszudehnen. Noch in über 60 Kilometer vom Unfallort enternten Regionen sind die Bewohner gefährlich hohen Strahlenexpositionen ausgeliefert.

Seit dem Erdbeben und Tsunami am 11. März dieses Jahres und der anschließenden Kernschmelze in drei Atommeilern des Nuklearkomplexes Fukushima Daiichi hat Japans Regierung in Zusammenarbeit mit der Akw-Betreibergesellschaft Tepco das Ausmaß der Katastrophe verschleiert. Und immer nur dann, wenn sich die Schönfärberei nicht mehr aufrechterhalten ließ, wurden Zugeständnisse an das virulente Informationsinteresse der strahlenbelasteten Bevölkerung gemacht. So auch im aktuellen Fall. Nachdem in den Urinproben von Kindern aus der Stadt Date in der Nähe der 300.000-Einwohner-Stadt Fukushima erhöhte Strahlenwerte registriert wurden, haben die Behörden vier weitere Evakuierungszonen ausgewiesen. Diese betreffen die Bezirke Ryozenmachi, Kamioguni, Shimooguni und Tsukidatemachi, die etwa 60 Kilometer nordwestlich des zerstörten Akws liegen. Somit befinden sie sich 30 Kilometer außerhalb des eigentlichen Sperrgebiets. Die in diesen Hot-spots lebenden Einwohner, die sich auf 113 Haushalte verteilen, sollen eine Entschädigung für ihren freiwilligen Umzug erhalten.

Die Strahlenbelastung in den Urinproben übersteigt den Grenzwert von 20 Millisievert pro Jahr. "Grenzwert" bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, daß die Menschen, deren Belastung unterhalb dessen bleibt, keinem deutlich erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt wären. Der Grenzwert ist Ausdruck eines Kalküls, einer Abwägung seitens der Regierung. Vermutlich weil sie ansonsten weite Teile des Landes hätte evakuieren müssen, hat sie die Grenzwerte für Kinder von ursprünglich ein Millisievert hinaufgesetzt, so daß sie nun mit 20 Millisievert pro Jahr genauso stark radioaktiv belastet werden dürfen wie Erwachsene. In vielen Ländern bildet 20 Millisievert die Belastungsgrenze für Risikogruppen (Akw-Personal, Flugbegleiter, etc.).

Man kann davon ausgehen, daß der japanischen Regierung diese Entscheidung, durch die sie sich viel Kritik eingehandelt hat, nicht leichtgefallen ist. Nun besteht für Kinder bei 20 Millisievert pro Jahr keine unmittelbare Verstrahlungsgefahr. Statt dessen ist mit schleichenden Effekten zu rechnen, die sich in einigen Jahren oder vielleicht erst Jahrzehnten aus der Statistik herauslesen lassen. Dann wird man bei Fukushima-Kindern womöglich eine höhere Krebsrate feststellen. Dafür kann dann niemand mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Voraussichtlich sitzen die Verantwortlichen schon lange nicht mehr in der Regierung oder sie werden gar verstorben sein.

Wie brisant die Grenzwerterhöhung ist, verdeutlicht die gemeinsame Untersuchung einer japanischen Bürgerorganisation und der französischen Organisation zur Kontrolle der Radioaktivität im Westen (ACRO). Sie fanden in den Urinproben von zehn Kindern im Alter zwischen sechs und 16 Jahren kleine Mengen (zwischen 0,5 und 1,3 Becquerel pro Liter) der radioaktiven Substanzen Cäsium 134 und Cäsium 137.

Nachdem weite Teile Japans verstrahlt wurden und weiterhin werden, rücken die Behörden mit der Ausweisung unwirtlich gewordener Gebiete Schritt für Schritt hinterher. Die Regierung verwaltet das Elend, sie schützt die Menschen nicht davor. Verhielte es sich nicht so, hätten gar keine Akws gebaut werden dürfen.

66 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf die Städte Hiroshima und Nagasaki gerät Japan erneut zu einem unfreiwilligen Testfeld der Nuklearforschung. Der japanischen Bevölkerung bleibt zu wünschen, daß sich die behördlichen Zwangsmaßnahmen nicht irgendwann umkehren und fortan nicht mehr Evakuierungen, sondern Exklusionen ausgesprochen werden, der nächsten Stufe der administrativen Verfügungsgewalt. Sollte es dazu kommen, dürften die Einwohner bestimmte verstrahlte Regionen nicht mehr verlassen.

1. Juli 2011